Stalingrad. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe, Berlin: Claassen 2021; Tb.-Ausg. 2024.
Wassili Grossmans Roman »Stalingrad« ist ein besonderes literarisches und historisches Dokument. Dem deutschen Lesepublikum eröffnet das Werk erstmals in einer für die Entstehungszeit erstaunlichen Vielstimmigkeit, Drastik und Breite Zugang zu sowjetischen Erfahrungshorizonten und Sichtweisen auf Stalingrad.1 Als Kontrastfolie zum Kult um die Schlacht in Putins Russland und zur nationalpatriotischen Instrumentalisierung des »Großen Vaterländischen Krieges« für den Krieg gegen die Ukraine hat der Roman außerdem eine unmittelbare Aktualität.2 Und nicht zuletzt handelt es sich hier um ein literarisches Zeugnis der jüdischen Geschichte.
Die Rezeption des gesamten Œuvres von Wassili Grossman (1905–1964) verlief so widersprüchlich wie bei kaum einem anderen sowjetischen Schriftsteller. Sein Werk wurde immer wieder durch Zensur und Verbote unterdrückt; erst seit der Glasnost-Zeit hat man es auch im Westen nach und nach wiederentdeckt.3 Grossmans voluminöser, seit 1952 in verschiedenen Fassungen publizierter Roman »Stalingrad« ist im Jahr 2021 mit einer Neuübersetzung ins Deutsche als bislang letztes großes Buch dieses Autors dem Vergessen entrissen worden, auch wenn es bereits zu seinen Lebzeiten mehrere Neuauflagen erfuhr.4 Und obwohl der Roman in der DDR bereits 1958 unter dem Titel »Wende an der Wolga« übersetzt vorlag, ist dies bis heute Grossmans im vereinigten Deutschland wohl am wenigsten bekannter Text.
Das hat vor allem damit zu tun, dass der Roman nur der erste Teil einer literarischen Auseinandersetzung mit Stalingrad ist, deren zweiter Teil »Leben und Schicksal« (»Žiznʼ i sud’ba«, 1959) während des sogenannten Tauwetters fertiggestellt und aufgrund seines als skandalös eingestuften Inhalts sofort verboten wurde. Denn in diesem zweiten Teil veränderte Grossman die ursprüngliche Konzeption grundlegend und nutzte die Zeit der relativen kulturpolitischen Liberalisierung unter Generalsekretär Nikita Chruschtschow zu einer persönlichen Abrechnung mit den frustrierenden Erfahrungen der späten Stalin-Zeit, als nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nicht nur erneut massive Repressionen folgten, sondern unter dem Slogan des Kampfes gegen »Kosmopolitismus« und »Zionismus« auch antisemitische Kampagnen stattfanden.5 Diese Erfahrung brachte Grossman dazu, in seinem Roman den Terror und die Repressionen der 1930er-Jahre sowie der Kriegszeit explizit zu verarbeiten und einige Protagonisten darüber nachdenken zu lassen, ob nicht der Terror der Stalin-Ära mit demjenigen der Nazis vergleichbar und Hitler als Schüler Stalins anzusehen sei.6 Derartige Ansichten zu veröffentlichen – und seien es die subjektiven Einschätzungen einer Romanfigur – war auch unter Chruschtschow undenkbar, und so fiel Grossman in der Sowjetunion für Jahrzehnte in Ungnade, was ihn aber im Westen umso interessanter machte.7 Daher wurde gerade dieses Buch in der 2007 erstmals auf Deutsch erschienenen ungekürzten Fassung von der Kritik als Meisterwerk gefeiert und häufig mit Lew Tolstois Roman »Krieg und Frieden« (»Vojna i mir«, 1868/69) verglichen, traf es doch in Deutschland einen Zeitgeist, der sich intensiv mit »Totalitarismus« und der Aufarbeitung von »zwei Diktaturen« auf deutschem Boden befasste.8
Was in dieser Rezeption aber lange Zeit höchstens am Rande erwähnt wurde, ist die Tatsache, dass es eben auch einen ersten Teil gab, der eine ganz andere Seite des sowjetischen Gesellschaftsprojektes beleuchtete und deswegen vielfach öffentlicher Kritik und Eingriffen der Zensur ausgesetzt war. In diesem Roman finden sich zwar keine Reflexionen über einen etwaigen »Totalitarismus«, aber auch keine propagandistisch verkürzten Darstellungen von Stalins militärischer Weitsicht und des heroischen Kampfes der Roten Armee – sondern in ihm stehen die individuellen Perspektiven einzelner Protagonisten »von unten« im Mittelpunkt. Auch deshalb lohnt sich eine heutige, erneute oder erstmalige Lektüre. Denn der Roman befasst sich mit einem Aspekt der »Schlacht des Jahrhunderts«,9 der in Deutschland selten wahrgenommen wird.
1. Eine literarische Revision westdeutscher Stalingrad-Narrative
Der Beginn der Schlacht von Stalingrad wird unterschiedlich datiert. Ende Juni 1942 startete die Wehrmacht ihre Sommeroffensive »Unternehmen Blau«, am 21. August erreichte die erste Panzerdivision die Wolga im Norden der Stadt, zwei Tage später folgte der »Schwarze Sonntag«, als die deutsche Luftwaffe in einem Flächenbombardement mit über 1.200 Bombern und Jagdflugzeugen einen Großteil Stalingrads innerhalb von drei Stunden in Schutt und Asche legte. Die vollständige Erstürmung der Stadt durch die Wehrmacht scheiterte jedoch am erbitterten Widerstand der Roten Armee, die einen schmalen Stadtstreifen und einige Fabriken am Wolga-Ufer wochenlang verteidigen konnte, ehe Ende November die 6. Armee eingekesselt wurde, die sich aber noch bis zum 2. Februar 1943 hielt, als sich die letzten deutschen Truppenteile ergaben.
Bei den westlichen Alliierten und im Widerstand wurde diese Schlacht von Anfang an als entscheidende Kriegswende im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland wahrgenommen und gefeiert. Ganz anders war es im Land des Aggressors, wo sie in Westdeutschland bis zum Ende des Ost-West-Konflikts vor allem als eine Opfergeschichte erzählt wurde. Bereits die Nazis hatten die militärische Niederlage seit Februar 1943 als ein »großes Heldenopfer« inszeniert, das den »Totalen Krieg« gegen den Bolschewismus und gegen den »Ansturm aus dem asiatischen Osten« begründen sollte. In der frühen Nachkriegszeit entstand dann der Mythos vom »Opfergang« der Wehrmacht, die von Hitler »auf dämonische Weise verführt, unterjocht und missbraucht« worden sei (so die mythenkritische Sicht von Norbert Frei). Bis zum Ende der alten Bundesrepublik galt Stalingrad als verhängnisvolle Niederlage einer von Hitler »verratenen Armee«.10 Obwohl die sowjetische Seite eine ungleich größere Zahl an Toten und Verwundeten zu verzeichnen hatte – und ungeachtet all der Kriegsverbrechen, die die Wehrmacht auf ihrem Weg nach und in Stalingrad zu verantworten hatte –, beschäftigten sich die westdeutsche Erinnerungskultur und lange Zeit auch die Forschung vornehmlich mit der deutschen Perspektive und der Einkesselung der 6. Armee vom 24. November 1942 bis zum 2. Februar 1943. Romane wie Heinz G. Konsaliks »Der Arzt von Stalingrad« (1956) oder Filme wie Frank Wisbars »Hunde, wollt ihr ewig leben« (1959), ja selbst noch Joseph Vilsmaiers Antikriegsfilm »Stalingrad« (1993) folgten diesem Muster, das vom Martyrium der sympathischen, aufrichtigen deutschen Kameraden handelt.11
Grossmans Roman revidiert diese einseitige Sicht grundlegend. In seinem Buch kann man die Umstände und die Vorgeschichte der Schlacht vornehmlich aus der Perspektive der sowjetischen Bevölkerung nachvollziehen, die damit konfrontiert wird, dass die Frontlinie ständig näherkommt. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Stalingrader Familie Schaposchnikow sowie ihre Bekannten, Nachbarn und Kollegen, unter denen vor allem der aus einer säkularen jüdischen Familie kommende Physiker Viktor Strum eine zentrale Rolle spielt. Doch auch Militärs, Parteikommissare und eine Reihe historischer Personen treten auf. So setzt die Romanhandlung mit der Begegnung Benito Mussolinis und Adolf Hitlers im Schloss Kleßheim bei Salzburg am 29. April 1942 ein, wo der »Führer« dem »Duce« großspurig die weiteren Schritte seines Russlandfeldzuges erläutert, während mit feiner Ironie anhand von Mimik, Gestik, Dialogen und stillen Gedanken Argwohn, Verblendung und Verstimmung auf beiden Seiten skizziert werden. In der folgenden Szene wird man Zeuge, wie der einfache Kolchosbauer und »Dummkopf« Pjotr Wawilow irgendwo in der sowjetischen Provinz seinen Einberufungsbefehl zugeschickt bekommt, was sein bisheriges Leben auf den Kopf stellt. Der Roman entfaltet in einer kontrastiven Montage ein vielstimmiges Figurenpanorama von ganz unterschiedlichen Menschen, denen gemeinsam ist, dass ihr Schicksal auf die eine oder andere Weise mit Stalingrad verbunden ist. Dabei werden in Dialogen, biographischen Rückblenden und anschaulichen Alltagsszenen auch die Brüche, Konflikte und Irrwege ihres Lebens gezeigt. So durchlebt Strum – der oft als Grossmans Alter Ego gelesen wurde, dessen Biographie aber auch auf den als »Volksfeind« erschossenen Physiker Lew Strum (1890–1936) verweist – sowohl beruflich als auch privat in seiner Ehe mit Ljudmila Schaposchnikowa eine ausführlich dargestellte tiefe Sinnkrise, als er von der Ermordung seiner Mutter im Berditschewer Ghetto erfährt. Schließlich kann er sich aber doch noch zusammenreißen und mit seinen Forschungen zur Weiterentwicklung der Waffentechnik beitragen.
Gleichzeitig verändert der Vernichtungskrieg der vorrückenden Wehrmacht den Alltag der Menschen radikal: bei den einen unmittelbar, indem sie Zeugen des Niederbrennens ihres Heimatdorfes werden; bei den anderen indirekt, indem ihr Alltag hinter der Frontlinie unter höchster Anspannung auf Kriegswirtschaft umgestellt wird. Bisherige Gewissheiten werden erschüttert, Lebenspläne von heute auf morgen zerstört. Traumatische Erfahrungen und unerwartete Glücksmomente lassen keinen der Protagonisten unberührt. Grossman widmet fast 700 der insgesamt fast 1.200 Seiten (in der deutschen Neuausgabe) der Vorgeschichte der Schlacht, ehe er den »Schwarzen Sonntag« aus der Sicht verschiedener Stadtbewohner beschreibt. Im letzten Teil des Romans stellt er dar, wie die Menschen in den ersten Wochen danach unter größter Gefahr die Evakuierung der Zivilbevölkerung und die Verteidigung entlang des Wolga-Ufers zu organisieren versuchen, während die deutschen Truppen im Laufe des Septembers 1942 mit aller militärischen Macht bis ins Stadtzentrum vordringen. Der Roman endet, als die Rote Armee am Rand einer Niederlage steht und von einer Einkesselung des Gegners noch keine Rede sein kann.
Auch dieser erste Teil hatte zunächst erhebliche Probleme mit der Zensur und war immer wieder von Verboten bedroht, was vor allem mit der wechselhaften Literaturpolitik der späten Stalin-Zeit zu tun hatte. Eigentlich schien Grossman wie niemand sonst dafür geeignet, das kanonische literarische Werk über die Schlacht von Stalingrad zu verfassen.
2. Entstehung, Zensur und Rekonstruktion des Romans »Stalingrad«
Wassili Grossman hatte in der Stalin-Ära eine typische Karriere als Schriftsteller begonnen. 1905 in einer assimilierten jüdischen Familie im südukrainischen Berditschew geboren, hatte er zunächst ein Chemiestudium in Moskau absolviert und an Forschungs- und Medizininstituten in Donezk und Moskau als Chemiker gearbeitet, ehe er sich vermehrt dem Schreiben widmete. In seinem Frühwerk beschäftigte er sich vor allem mit der Integration der teils noch stark von religiösen Traditionen geprägten jüdischen Bevölkerung in die neue sowjetische Ordnung, wobei er heikle Themen nicht scheute.12 Doch dank der Fürsprache Maxim Gorkis konnte er sich in den 1930er-Jahren als professioneller Schriftsteller etablieren.13
Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde Grossman einer der wichtigsten sowjetischen Kriegsreporter und eines der prominentesten Mitglieder des internationalen Jüdischen Antifaschistischen Komitees. Als Sonderkorrespondent für das Zentralorgan der Roten Armee, die »Rote Fahne« (»Krasnaja znamja«) an der Front, war er vom ersten Tag an bei der Schlacht um Stalingrad in der Stadt vor Ort. Seine Reportagen vom Kriegsgeschehen machten ihn unionsweit berühmt. Sie wurden in Dutzenden Büchern und Broschüren immer wieder neu herausgebracht, und bereits 1942 hatte er einen ersten Roman über den Krieg vorgelegt, »Das Volk ist unsterblich« (»Narod bessmerten«), der einhellig gelobt und viel gelesen wurde.14 Nach dem Sieg in Stalingrad zog Grossman dann mit der Roten Armee nach Westen und war durch seine Reportage »Die Hölle von Treblinka« (»Treblinskij ad«, 1944) der erste, der dem Wissen um den Holocaust in der Sowjetunion auch auf Russisch größere Verbreitung ermöglichte.15
In dieser Zeit begann er zusammen mit Ilja Ehrenburg maßgeblich die Arbeit am »Schwarzbuch über den grausamen Massenmord an den Juden durch die deutsch-faschistischen Invasoren in den vorübergehend besetzten Gebieten der Sowjetunion und in den Lagern in Polen während des Krieges von 1941–45« (»Černaja kniga: o zlodejskom povmestnom ubijstve jevreev nemecko-fašistkimi zachvatčikami vo vremenno okkupirovannych rajonach Sovetskogo Sojuza v v lagerjach Pol’ši vo vremja vojny 1941–45 gg.«).16 Es stellte seinerzeit die umfassendste Dokumentation des Holocaust dar, deren Zeugnisse auch in den Nürnberger Prozessen verwendet wurden. Zwar konnten Auszüge auf Englisch und Jiddisch noch veröffentlicht werden. Mit dem eskalierenden Kalten Krieg zwischen den Siegermächten fiel dieses Projekt jedoch der antizionistischen Wende in der Sowjetunion zum Opfer, sodass die schon fertigen russischen Druckfahnen 1947 wieder eingestampft wurden.17
Gleichzeitig zur Arbeit am »Schwarzbuch« begann Grossman seine literarische Stalingrad-Darstellung, deren erster Teil nach zahlreichen Überarbeitungen aufgrund von Einwänden der Zensur erstmals 1952 in der wichtigsten Literaturzeitschrift des Landes »Novyj mir« (»Neue Welt«) in Fortsetzungen veröffentlicht wurde. Allerdings musste er auf Drängen der Redaktion seinen ursprünglich geplanten Titel »Stalingrad« in »Für die gerechte Sache« (»Za pravoe delo«) ändern, ein Ausdruck, der auf die legendäre Radioansprache Wjatscheslaw Molotows unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion zurückging. Dieser Titel wurde für alle folgenden Neuauflagen beibehalten. Zunächst erschienen enthusiastische Rezensionen, und der Roman wurde für den Stalin-Preis vorgeschlagen, schien er doch alle Kriterien zu erfüllen, die für ein Meisterwerk über den »Großen Vaterländischen Krieg« angelegt wurden: ein breites Panorama, die zentrale Rolle der Verteidigung von Stalingrad als Entscheidungsschlacht und Wendepunkt des Krieges sowie die heroische Widerstandskraft der sowjetischen Bevölkerung unter Stalins Führung. Doch Anfang 1953 wendete sich das Blatt mit einem Mal im Zuge der sogenannten Ärzteverschwörung, als fast ausschließlich jüdische Personen wegen eines angeblichen internationalen Komplotts gegen Stalin angeklagt wurden. Die hierbei initiierte antisemitische Kampagne traf auch Grossman. In der »Pravda« (»Wahrheit«) und der zentralen Parteizeitschrift »Kommunist« erschienen vernichtende Rezensionen, die anhand eines völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Dialogs die »volksfremde« und »bourgeoise« Grundrichtung des Romans anklagten.18 Der Stalin-Preis war damit perdu.19
Zwar folgte nach dem Tod des Diktators im März 1953 auf dem Zweiten Schriftstellerkongress 1954 eine formale Rehabilitierung Grossmans, doch für die erste Buchauflage im selben Jahr musste er den Roman nochmals überarbeiten.20 Und als Chruschtschow mit seiner sogenannten Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 die Destalinisierung einleitete, stand erneut eine Revision an, da nun möglichst alle Erwähnungen Stalins entfernt werden sollten, hingegen viele in der Stalin-Zeit der Zensur zum Opfer gefallene Passagen wieder aufgenommen werden konnten.21 Zwar erfuhr das Werk in der Tauwetterperiode mehrere Neuauflagen und Übersetzungen, doch da es keine spektakuläre Kritik am Stalinismus enthielt sowie nach dem Verbot und der vollständigen Konfiszierung sämtlicher Manuskripte des zweiten Teils »Leben und Schicksal« ein Vierteljahrhundert lang nicht mehr aufgelegt wurde, war es auch im postsowjetischen Russland lange vergessen.22
Der britische Schriftsteller und Übersetzer Robert Chandler hat den Roman 2019 aus der Versenkung geholt, indem er ihn unter dem ursprünglichen Titel »Stalingrad« zusammen mit Elizabeth Chandler erstmals ins Englische übertrug.23 Chandler, der sich zuvor unter anderem durch seine Übersetzungen von Andrej Platonow große Verdienste erworben hatte, konnte sich für diese Neuübersetzung auf die Archivrecherchen des Moskauer Literaturhistorikers Jurij Bit-Junan stützen, mit dessen Hilfe er aus den unterschiedlichen erhaltenen Manuskripten und Typoskripten sowie Redaktionen eine möglichst nahe an der Autorintention liegende Fassung auf Russisch erstellt hat, die auch die Grundlage für die deutsche Neuübersetzung von 2021 ist. Diese Rekonstruktion erwies sich laut Chandler indes als schwierig, denn Grossman hatte aufgrund der unzähligen Zensureingriffe das Manuskript vielfach verändert, wobei der Roman durchaus auch gewonnen habe.24 Nun war es aber Chandlers Bestreben, dass die Figuren und Handlungsstränge mit dem zweiten Teil »Leben und Schicksal« übereinstimmen, damit man beide Romane wie intendiert als Gesamtwerk lesen kann. Das hieß aber, dass frühe Fassungen oft nicht infrage kamen, weil deren Handlung teils im Widerspruch zum zweiten Teil stand. So orientiert sich die Übersetzung vor allem an der laut Chandler »beste[n] der publizierten Fassungen«25 von 1956, teilweise ergänzt durch zensierte Passagen, was auch bedeutet, dass Stalin wieder eine stärkere Rolle spielt und die »geistreichsten, klarsichtigsten und ungewöhnlichsten Stellen«,26 die in früheren Versionen zensiert wurden und die Grossman 1956 nicht zurückgeholt hat, ebenfalls aufgenommen worden sind, soweit sie die Kohärenz des Ganzen nicht stören. Zwar nennt Chandler in seinem »editorischen Nachwort« einige Kriterien und Beispiele für entsprechende Änderungen,27 doch gibt es keinen kritischen Kommentar, um welche Textstellen es sich handelt. Dem Lesepublikum liegt also die Übersetzung einer rekonstruierten Version vor, deren genaue Genese es nicht kennt, und es muss sich ganz auf Chandlers Wort verlassen, dass diese Fassung der Intention Grossmans am nächsten komme – ansonsten bleibt nur, selbstständig die sowjetischen Erstausgaben zur Hand zu nehmen, um einen Textabgleich zu machen.28
Vergleicht man die Neuübersetzung von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe mit Leon Nebenzahls DDR-Übersetzung von 1958, so fällt auf, dass in der früheren Fassung gerade Szenen, die abweichendes Verhalten, Trunkenheit, Verzweiflung, Defätismus und den Alltagsantisemitismus zeigen, fehlen oder stark gekürzt worden sind. Die Neuübersetzung liest sich flüssig und elegant; es wurde versucht, auch Satzbau und Wortwahl soweit wie möglich am russischen Original zu orientieren. Doch bleiben wiederum Fragen. So klingt bei Körner die von antisemitischen Ressentiments beherrschte Frau des Hausverwalters wie folgt: »Über die Frau Mama sage ich nichts. Gut, sie kritisiert immerzu die Hausverwaltung, mal passt ihr dies nicht, mal das. Trotzdem eine anständige Frau, würde ich sagen, bloß natürlich voller Vorurteile, sie ist halt noch aus der alten Zeit.«29 Bei Nebenzahl konnte man 1958 an gleicher Stelle lesen: »Über die Mutter will ich nichts sagen. Sie hat zwar immer was an der Hausverwaltung auszusetzen. Aber ich halte sie trotzdem für eine anständige Frau, wenn auch natürlich voller Vorurteile, so eine richtige alttestamentarische Gestalt.«30 Die »Frau Mama« (russ. liebevolle Deminutivform von Mama »mamaša«), »gut« (für den Partikel »pravda«), »mal passt ihr dies nicht, mal das« (für die Wendung »to ne tak, ėto ne tak«) sind treffender als in der DDR-Übersetzung, doch das entscheidende Adjektiv »alttestamentarisch« geht bei Körner leider verloren (im Russischen heißt es »starozavetnaja starucha«, wörtlich »alttestamentarische Alte« – die auch im Deutschen mögliche Alliteration hätte man gut übernehmen können).31 Doch das sind Kleinigkeiten einer ansonsten rundum gelungenen Neuübersetzung.
Die aktuelle deutsche Ausgabe ermöglicht in literarischer Form erstmals einen differenzierten Einblick in die vielschichtige sowjetische Wahrnehmung der Schlacht – eine Perspektive, die im geteilten Deutschland kaum auf Interesse traf und heute im Zuge der zunehmenden Nationalisierung und »Dekommunisierung« sowjetischer Geschichte zunehmend vergessen wird. Zugleich ist der Roman aber auch ein Dokument seiner Zeit. So baute Grossman in diesem epischen Porträt des sowjetischen Verteidigungskampfes einige typische positive Helden (meistens Politikkommissare und Militärs) und geschichtsphilosophische Reflexionen ein, die im Sinne des Marxismus-Leninismus die Weitsicht der Partei, die historische Gesetzmäßigkeit der Entwicklung und den alle vereinenden sowjetischen Patriotismus hervorheben. Das Werk ist ein hervorragendes Beispiel für einen im (sozialistisch-)realistischen Stil spannend geschriebenen, wohlkomponierten Roman, der das sowjetische Selbstbild während des Krieges und unmittelbar danach literarisch bezeugt.32
Robert Chandler hebt in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe hervor, dass das Werk zuvorderst ein Zeugnis des Kriegsgedenkens und eine Hommage an all jene kleinen Leute und weniger wagemutigen Menschen sei, die in der offiziellen Propaganda des heroischen Kampfes übergangen wurden: »One of Grossman’s aims was to honour the dead – especially those who had been forgotten. He writes of those who died in the many small battles of the first months of the war.«33 Und Ian Garner schreibt in seiner Dissertation zur Schlacht von Stalingrad in der sowjetischen Literatur, dass dies der einzige große Roman der Stalin-Zeit gewesen sei, der das Lesepublikum dazu aufforderte, sich mit der eigenen Vergangenheit aktiv auseinanderzusetzen: »Grossman attempted to write the inividual as an active presence in history back into the Stalingrad narrative as a means to allow readers to recognize their own subjectivity in relation to the myth. Characters are biographical individuals, rather than empty vessels for Stalin’s will, who understand their lives through their relation to patriotic history – and above all, of course, to Stalingrad itself.«34 Wassili Grossmans »Stalingrad« veranschaulicht in allen Details, wie mühselig humanistische Werte und gesellschaftliche Solidarität in Kriegszeiten aufrechtzuerhalten sind und jederzeit wieder infrage gestellt werden können.
Anmerkungen:
1 Nachdem in den sowjetischen Geschichtswissenschaften lange das ideologisch geprägte Motiv der heroischen Schlacht dominierte, rückten im postsowjetischen Russland solche Alltagsperspektiven allmählich auch in den Fokus der Forschung, die aber aufgrund der gegenwärtigen politischen Instrumentalisierung des Zweiten Weltkrieges erneut in Gefahr gerät; vgl. Ivan Kurilla, Bitva za prošloe. Kak politika menjaet istoriju [Schlacht um die Vergangenheit. Wie die Politik die Geschichte verändert], Moskva 2022. Zu den Alltagsperspektiven vgl. z.B. Marina Ryblova (Hg.), Deti i vojna. Stalingradskaja bitva i žiznʼ v voennom Stalingrade v vospominanijach žitelej goroda [Kinder und Krieg. Die Schlacht von Stalingrad und das Leben in Stalingrad während des Krieges in den Erinnerungen der Stadtbewohner], Volgograd 2014.
2 Vgl. Ivan Kurilla, Who is at the Gate? The Symbolic Battle of Stalingrad in Contemporary Russia, Program on New Approaches to Russian Security (PONARS), Policy Memo No. 268, October 2002; Alexander Chertenko, Nationalizing the Soviet Past. Donbass as a New Stalingrad in Russian Literature and Publicism after 2014, Vortrag auf der Konferenz »The Stalingrad Myth. Russian-German Comparative Perspectives«, Berlin, 9.11.2019; Markus Ackeret, Putin beschwört den Geist von Stalingrad, in: Neue Zürcher Zeitung, 3.2.2023, S. 1.
3 Vor allem Grossmans spätes und zensiertes literarisches Werk wurde seit der Glasnost-Zeit nach und nach ins Deutsche übersetzt, etwa seine erstmals 1989 auf Russisch veröffentlichten privaten Aufzeichnungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges (»Gody vojny«, dt. »Kriegsjahre«); vgl. Antony Beevor/Luba Vinogradova (Hg.), Ein Schriftsteller im Krieg. Wassili Grossman und die Rote Armee 1941–1945. Aus dem Russischen und Englischen übersetzt von Helmut Ettinger, München 2007. Zuletzt erschien der Band mit Erzählungen über eine Armenienreise im Jahr 1961, der in der Sowjetunion erst postum 1967 nur mit Kürzungen gedruckt werden konnte (»Dobro vam!«, dt. »Herzlich willkommen!«); vgl. Wassili Grossman, Armenische Reise. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Christiane Körner, Berlin 2024.
4 Zur Neuübersetzung siehe z.B. die Rezensionen von Paul Ingendaay, Wie Menschen und wie Tiere sterben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2021, S. 12; Ulrich M. Schmid, Plötzlich gleichen sich Faschismus und Stalinismus, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.12.2021, S. 30.
5 Der Roman konnte erst 1988 in der Sowjetunion erscheinen. Vgl. Franziska Thun, Vasilij Grossman – ein russischer Schriftsteller über Judentum und Antisemitismus in der Sowjetunion, in: Mariana Hausleitner/Monika Katz (Hg.), Juden und Antisemitismus im östlichen Europa, Wiesbaden 1995, S. 163-175; Jochen Hellbeck, Krieg und Frieden im 20. Jahrhundert (Nachwort), in: Wassili Grossman, Leben und Schicksal. Roman. Aus dem Russischen übertragen von Madeleine von Ballestrem, Arkadij Dorfmann, Elisabeth Makstein und Annelore Nitschke, München 2007, S. 1069-1085.
6 Diese fundamentale Kritik am Stalinismus im Vergleich zum Nationalsozialismus verschärfte Grossman noch in seinem letzten, unvollendet gebliebenen Kurzroman »Alles fließt« (»Vsё tečёt«, 1964), der erstmals 1989 in der Sowjetunion erschien und das Verdrängen der eigenen Mitschuld an den stalinistischen Verbrechen thematisiert. Siehe Franziska Thun-Hohenstein, Die Bürde der Klarsicht (Nachwort), in: Wassili Grossman, Alles fließt. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke, Berlin 2010, S. 225-244. Eine ähnliche These des Historikers Ernst Nolte, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten womöglich nur Nachahmung »einer ›asiatischen‹ Tat« der Bolschewiken gewesen seien, löste 1986 in Westdeutschland den »Historikerstreit« aus. Gerade diejenigen, die Noltes Deutung einer Ähnlichkeit der beiden Regime bzw. sogar eines »kausalen Nexus« im Zuge der Totalitarismus-Debatte nahestanden, konnten bei selektiver Lektüre von Grossmans Werk ihre Ansicht bestätigt finden. Siehe auch Anm. 8.
7 Allerdings erreichte er nie die Berühmtheit anderer verbotener Schriftsteller. Eine erhaltene Kopie von »Leben und Schicksal« konnte bereits Mitte der 1970er-Jahre in den Westen geschmuggelt werden, wo der Roman 1980 auf Russisch in der Schweiz und 1984 erstmals auf Deutsch erschien. Doch einem breiten Publikum wurde Grossman erst kurz vor dem Fall der Mauer bekannt. Damals kam der Film »Die Kommissarin« (»Komissar«) von Alexander Askoldow in die Kinos, dessen Drehbuch auf Grossmans erster überhaupt publizierter Erzählung »In der Stadt Berditschew« (»V gorode Berdičeve«, 1934) beruht. Dieser bereits 1967 fertiggestellte Film war 20 Jahre lang von der Zensur mit einem Verbot belegt worden und konnte erst 1987 auf dem 15. Internationalen Filmfestival in Moskau öffentlich gezeigt werden, wo man ihn als eine der großen Neuentdeckungen von bislang unter Verschluss gehaltenen Filmen feierte. Ein Jahr später war »Die Kommissarin« dann die Sensation auf der Berlinale und gewann den Goldenen Bären. Vgl. Wassilij Grossman, Die Kommissarin. Eine Erzählung. Aus dem Russischen von Thies Ziemke, Kiel 1989; Norbert P. Franz, Vasilij Grossmans Erzählung »V gorode Berdičeve« (1934) in der Verfilmung durch Aleksandr Askol’dov (»Die Kommissarin«, UdSSR 1967/8 [bzw. 1988]), in: Peter Kosta/Holt Meyer/Natascha Drubek-Meyer (Hg.), Juden und Judentum in Literatur und Film des slavischen Sprachraums. Die geniale Epoche, Wiesbaden 1999, S. 29-52.
8 Vgl. z.B. Volker Weidermann, Der befreite Roman, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.10.2007, S. 39; Manuel Karasek, Im Jahrhundert der Wölfe, in: taz, 10.11.2007, S. 21; Leonid Luks, Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und Nationalsozialismus im Vergleich, Köln 2007, S. 191-218.
9 So der sowjetische Oberbefehlshaber der in Stalingrad eingesetzten 4. Armee in seinen Erinnerungen: Wassili Tschuikow, Die Schlacht des Jahrhunderts. Ins Deutsche übertragen von Arno Specht. Nachdichtung der Verse von Demjan Bedny und Annemarie Bostroem, Berlin (Ost) 1988.
10 Für Nachweise und nähere Erläuterungen hierzu und zu den folgenden Angaben siehe Matthias Schwartz, Die Schlacht von Stalingrad. 23. August 1942 – 2. Februar 1943, Erfurt 2021, S. 21-26; siehe auch Stefan Schmidt/Werner Telesko, Die ewige Schlacht. Stalingrad-Rezeption als Überwältigung und Melodram, München 2022; Gorch Pieken/Matthias Rogg/Sven Wehner (Hg.), Stalingrad, Dresden 2012 (Begleitband zu einer Ausstellung im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr); Peter Jahn (Hg.), Stalingrad erinnern. Stalingrad im deutschen und im russischen Gedächtnis, Berlin 2003 (Begleitband zu einer Ausstellung im Museum Berlin-Karlshorst); Jens Ebert, Organisation eines Mythos, in: ders. (Hg.), Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943, Göttingen 2003, S. 333-403.
11 Diese Beschränkung auf die deutsche Perspektive gilt auch für Alexander Kluges »Schlachtbeschreibung« in ihren vielen Fassungen, selbst wenn dieses dokumentarische Werk über den »organisatorische[n] Aufbau eines Unglücks« (so der Untertitel) ansonsten gerade als radikale Dekonstruktion des westdeutschen Mythos angelegt war. Eine entscheidende Revision dieser weitverbreiteten Sicht brachte erst 2012 Jochen Hellbeck, als er eine Auswahl sowjetischer Zeitzeugenberichte auf Deutsch edierte und kommentierte: Jochen Hellbeck, Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht. Übersetzung der Protokolle aus dem Russischen von Christiane Körner und Annelore Nitschke, Frankfurt a.M. 2012. Zur Genese des deutschen Stalingrad-Mythos vgl. Michael Kumpfmüller, Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines deutschen Mythos, München 1995; Christina Morina, Legacies of Stalingrad. Remembering the Eastern Front in Germany since 1945, Cambridge 2011. Eine ausführlich kommentierte englischsprachige Edition sowjetischer literarischer und publizistischer Zeugnisse findet sich bei Ian Garner, Stalingrad Lives. Stories of Combat and Survival, Montreal 2022.
12 Für alle Angaben zu Biographie und Werk vgl. Jurij Bit-Junan/David Fel’dman, Vasilij Grossman. Literaturnaja biografia v istoriko-političeskom kontekste [Wassili Grossman. Die literarische Biographie im historisch-politischen Kontext], Moskva 2016; Alexandra Popoff, Vasily Grossman and the Soviet Century, New Haven 2019.
13 Dabei wurden in der Kritik der 1930er-Jahre Grossmans Werke zwar durchweg positiv rezensiert, die strittigen Themen seiner Prosa aber selten thematisiert; siehe hierzu Jurij Bit-Junan, O predelach dopustimogo. Kritičeskaja recepcija tvorčestva V. Grossmana 1930-ch godov [Über die Grenzen des Erlaubten. Die kritische Rezeption des Werks von V. Grossman in den 1930er-Jahren], in: Voprosy literatury [Fragen der Literatur] 4/2010, S. 155-178.
14 Einige der Reportagen wurden seinerzeit auf Deutsch im Verlag für fremdsprachige Literatur übersetzt: Wassilij Grossmann, Stalingrad, Moskau 1946. Auch der Kurzroman wurde umgehend ins Deutsche gebracht: ders., Dies Volk ist unsterblich. Aus dem Russischen übertragen von Hilde Angarowa, Moskau 1946.
15 Die Reportage erschien erstmals in der zentralen Literaturzeitschrift »Znamja« (»Die Fahne«) im Oktober 1944, wurde aber vielfach auch als Broschüre gedruckt und in verschiedene Sprachen weltweit übersetzt. Auf Deutsch erschien der Text erstmals 1945 im Verlag für fremdsprachige Literatur in der sowjetischen Besatzungszone; vgl. zur Entstehung und Rezeption ausführlich: Dieter Pohl, Vassili Grossman und das Wissen um das Vernichtungslager Treblinka (Einleitung), in: Wassilij Grossmann, Die Hölle von Treblinka [Reprint der Ausgabe von 1946], Wien 2020, S. 9-25, hier S. 21. Auf Jiddisch war bereits Ende 1943 Grossmans Reportage »Ukraine ohne Juden« (als Übersetzung seines russischen Manuskripts »Ukraina bez evreev«) in der Zeitung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees »Ejnikajt« erschienen; der Text stellt die Vernichtung der ukrainischen Juden durch die Deutschen dar. Siehe die Einleitung von Jürgen Zarusky zu seiner Übersetzung (S. 189-195); vgl. Wassili Grossman, Ukraine ohne Juden. Aus dem Russischen übertragen und eingeleitet von Jürgen Zarusky, in: Johannes Hürter/Jürgen Zarusky (Hg.), Besatzung, Kollaboration, Holocaust. Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Mit einer Reportage von Wassili Grossman, München 2008, S. 189-200. Ab 1947 konnte das Thema in der Sowjetunion öffentlich nur noch sehr eingeschränkt behandelt werden.
16 Vgl. Simone Barck, Das verhinderte Schwarzbuch. Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg und der Genozid an den sowjetischen Juden, in: Helmut Peitsch (Hg.), Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung. Deutsche Vergangenheit im europäischen Kontext, Berlin 2019, S. 231-245.
17 Im Zeichen des Kalten Krieges änderte sich nicht nur das Verhältnis zu Israel, das die Sowjetunion als einer der ersten Staaten der Welt anerkannt hatte. In den folgenden Jahren nahm auch die Kampagne gegen »heimatlose Kosmopoliten« und »Zionisten« immer deutlicher antisemitische Züge an, was nicht nur zur Auflösung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees führte, sondern im August 1952 in der »Nacht der ermordeten Dichter« auch zur Hinrichtung einiger seiner bekanntesten Mitglieder. Erst 1991 konnte das »Schwarzbuch« in der Sowjetunion publiziert werden, enthielt jedoch noch Eingriffe der Zensur. Eine vollständige Fassung erschien auf Russisch zunächst 1993 in Vilnius, ein Jahr später auch auf Deutsch mit dem Untertitel »Der Genozid an den sowjetischen Juden«. Im Zeichen der Diskussion um die Verbrechen der Wehrmacht und die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin stieß das Werk auf breite Resonanz. Vgl. Wassili Grossman/Ilja Ehrenburg (Hg.), Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Hg. der deutschen Ausgabe: Arno Lustiger. Deutsch von Ruth und Heinz Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1994.
18 Vgl. Michail Bubennov, O romane V. Grossmana »Za pravoe delo« [Über W. Grossmans Roman »Für die gerechte Sache«], in: Pravda [Wahrheit], 13.2.1953, S. 3-4; A. Lektorskij, Roman, iskažajuščij obrazy sovetskich ljudej [Ein Roman, der die Sowjetmenschen verzerrt], in: Kommunist 3/1953, S. 105-115. Weitere Zeitungen und der Sekretär des Schriftstellerverbandes, Alexander Fadejew, schlossen sich in der Folgezeit dieser Kampagne an. Vgl. Jurij Bit-Junan/David Fel’dman, Vasilij Grossman v zerkale literaturnych intrig [Vasilij Grossman im Spiegel literarischer Intrigen], Moskva 2016, S. 321-349.
19 Dies war nicht das erste Mal, dass ein Werk Grossmans einer antisemitischen Intrige zum Opfer fiel. Bereits zweimal zuvor hatten für hohe Literaturpreise vorgeschlagene Romane Grossmans diese letztlich nicht bekommen; vgl. Jurij Bit-Junan/David Fel’dman, Stalinskie premii Vasilija Grossmana. Istorija s bibliografiej [Die Stalin-Prämien von Vasilij Grossman. Geschichte mit Bibliographie], in: Voprosy literatury [Fragen der Literatur] 7-8/2013, S. 186-223.
20 Die 1954 beim Moskauer Militärverlag Voenizdat erschienene Ausgabe wurde bis zur erneuten Überarbeitung 1956 mehrmals neu aufgelegt.
21 Die Ausgabe von 1956 war dann die Grundlage der DDR-Übersetzung von 1958; kaum veränderte Neuauflagen folgten 1959 und 1964 neben zahlreichen Nachdrucken und Übersetzungen, ehe Grossmans Werk seit Mitte der 1960er-Jahre aufgrund des Verbots von »Leben und Schicksal« und »Alles fließt« in Ungnade fiel und nach seinem Tod nur noch wenige Texte von ihm erscheinen konnten.
22 Inzwischen gehört der Roman genauso wie sein zweiter Teil »Leben und Schicksal« im Zuge der staatlichen Vereinnahmung des Gedenkens an den Sieg im Zweiten Weltkrieg zum Kanon der Kriegsliteratur, und die Fassung von 1964 wird regelmäßig neu aufgelegt; zuletzt Vasilij Grossman, Za pravoe delo (serija »Russkaja literatura/Bol’šie knigi«), Moskva 2024.
23 Vasily Grossman, Stalingrad. Translated from the Russian by Robert and Elizabeth Chandler. Edited by Robert Chandler and Yury Bit-Yunan, London 2019. Auf Grundlage dieser Rekonstruktion ist der Roman inzwischen nicht nur ins Deutsche, sondern auch in zahlreiche weitere Sprachen übersetzt worden; eine Publikation des russischen Textes in Russland kam aber wegen des Angriffs Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 nicht mehr zustande. Vgl. Clara Weiss, »Grossman wanted the truth«: An interview with Robert Chandler, translator of Soviet novelist Vasily Grossman, in: WSWS.ORG (World Socialist Web Site), 1.11.2022.
24 Robert Chandler, Editorisches Nachwort, in: Wassili Grossman, Stalingrad, Berlin 2021, S. 1207-1222.
25 Ebd., S. 1213.
26 Ebd., S. 1214.
27 Ebd., S. 1207-1222.
28 Immerhin findet sich in der englischen Ausgabe im Anhang zu Chandlers und Bit-Yunans Nachwort ein Nachweis aller Kapitel, in dem kurz erläutert wird, welche Kapitel gegenüber der publizierten Fassung von 1956 weggelassen, verändert oder ergänzt worden sind und weswegen die Herausgeber sich für welche Variante entschieden haben; ein genauerer Textnachweis fehlt indes auch hier. Vgl. Robert Chandler/Yury Bit-Yunan, Afterword, in: Grossman, Stalingrad (Anm. 23), S. 971-1011, hier S. 983-1011. Warum diese Erläuterungen nicht ins Deutsche übersetzt worden sind, ist unverständlich. Für die literatur- und geschichtswissenschaftliche Forschung wäre es unbedingt wünschenswert, dass sich ein Verlag oder eine Institution findet, die eine solche historisch-kritische Ausgabe auf Russisch zur Verfügung stellt, in der alle Veränderungen und Varianten eindeutig nachvollziehbar sind – am besten wohl als Online-Plattform im Open Access. Es würde Chandlers und Bit-Yunans Verdienste nicht nur für das Lesepublikum, sondern auch für die Wissenschaft noch größer machen.
29 Grossman, Stalingrad (Anm. 24), S. 702.
30 Ders., Wende an der Wolga. Roman. Aus dem Russischen von Leon Nebenzahl, Berlin (Ost) 1958, S. 527. Diese Übersetzung im Dietz-Verlag erlebte bis 1961 noch fünf Neuauflagen.
31 Im Deutschen ist im theologischen Gebrauch das Adjektiv »alttestamentlich« gängig, während umgangssprachlich »alttestamentarisch« seit der NS-Zeit eindeutig antisemitisch konnotiert ist, was hier so gemeint ist. Auf Russisch heißt es: »О мамаше я ничего не скажу. Правда, она всегда домоуправление критикует, то не так, это не так. Я все ж так считаю ее порядочной, только, конечно, полная предрассудков, старозаветная старуха.« Vasilij Grossman, Za pravoe delo. Roman. Kniga pervaja [Für die gerechte Sache. Roman. Erstes Buch], Moskva 1989, S. 391.
32 Zur Produktivität des Sozialistischen Realismus als eines fiktionalen Schreibverfahrens, das auch widersprüchliche und komplexe historische, gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge repräsentiert, siehe z.B. Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995.
33 Robert Chandler, Introduction. War and Peace, The Black Book, and the Many Versions of Stalingrad, in: Grossman, Stalingrad (Anm. 23), S. VII-XXIX, hier S. XVII.
34 Ian Garner, The Myth of Stalingrad in Soviet Literature, 1942–1963, phil. Diss. University of Toronto 2018, S. 129.
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