Anna J. und Richard L. Merritt (Hg.), Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys, 1945-1949. With a Foreword by Frederick W. Williams, Urbana/Chicago/London: University of Illinois Press 1970.
„Nach Weltkrieg und Holocaust scheint heute erreicht, was undenkbar war: Deutschland ist ein Musterbeispiel für eine gelungene Demokratisierung und eine Nation unter Gleichen.“1 Interessanterweise könnte dieser Satz, der ein Buch des Jahres 2004 bewirbt, nicht in Merritts Übersichtswerk zur Umfrageforschung der amerikanischen Militärregierung stehen, das doch gerade den Anfang der gelungenen Demokratisierung schilderte.
Die Politologen Anna und Richard Merritt, die mit dem aus Prag stammenden und im Jahr 1940 emigrierten Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch an der Yale University zusammenarbeiteten, rekonstruierten in zwei Bänden das Forschungsprogramm der Umfragen der amerikanischen Militärregierung (OMGUS) und der Hohen Kommission (HICOG). Der erste Band, das Kompendium der OMGUS-Sozialforschung, umfasste die Zeit der Anfänge Nachkriegsdeutschlands.2
Im Vorwort skizzierte Frederick Williams, bis 1948 Direktor der „Survey Analysis Section“ der „Information Control Division“ (ICD), die Vorgeschichte und das wissenschaftliche Selbstverständnis der „Public Opinion Surveys“. Er hob den Demokratisierungsauftrag der amerikanischen Militärregierung hervor, der für die Umfragen wegweisend war. Im Einleitungsessay „Political Perspectives in Occupied Germany“ beschrieben die Merritts den Forschungsansatz der insgesamt 72 Surveys des Zeitraums bis September 1949. Sie erläuterten drei Hauptthemen, die durch die ICD-Forschung geklärt würden: Einstellungen zur amerikanischen Besatzung im engeren Sinne, Fragen der Entnazifizierung und Demokratisierung sowie schließlich die Schwerpunktverlagerung von der Demokratisierung zum Antikommunismus.
Im dritten Teil des Buches, dem Hauptteil, wurden die einzelnen Surveys auf über 250 Seiten in chronologisch angeordneten Kurzberichten dargestellt. Im ganzen Zeitraum wurde nach der wirtschaftlichen Lage der Deutschen und ihrer Einschätzung der wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands gefragt. Periodisch wurden politische Einstellungen, politisches Interesse und Demokratieverständnis der Deutschen eruiert - unter anderem wurde wiederkehrend die Frage gestellt, ob der Nationalsozialismus denn eine gute Idee gewesen sei, die nur schlecht ausgeführt wurde, oder aber eine schlechte Idee. (Noch Survey Report # 175 vom Juni 1949 berichtete, dass nur etwa ein Drittel der Befragten die letztere Antwort gaben.3)
Merritts Kompendium zur Umfrageforschung der amerikanischen Militärregierung erschien 1970. Die dortigen Angaben über die finanzielle Situation der Familien dienten Zeithistorikern alsbald zur Beschreibung der Lebensverhältnisse der Nachkriegszeit. Die in den Umfragen ermittelten Einstellungen zu demokratischen Institutionen legten es außerdem nahe, die Deutschen der unmittelbaren Nachkriegszeit für mehrheitlich un- oder apolitisch zu halten. So sahen Borsdorf und Niethammer (1976) im Werk der Merritts, das die Befunde der ICD-Studien scheinbar verlässlich zusammenfasste, eine „nützliche Veröffentlichung demoskopischer Ergebnisse“.4 Kleßmann (1982) zitierte sozialstatistische Angaben der Merritts, welche er offenbar deutschen Quellen entnahm, die sich ihrerseits auf „Public Opinion in Occupied Germany“ beriefen.5 Bausch (1992) übernahm aus deutscher Sekundärliteratur die dort nach den Merritts referierten Befunde, welche er als genaue Abbildung der OMGUS-Ergebnisse ansah.6 Noch im Jahr 2000 schilderte Paul Nolte die Meinungen der Deutschen, die durch Sozialforschungen der Besatzungsmacht er-hoben worden seien, indem er auf die Darstellung der Merritts verwies, wo Mentalität und Lebensverhältnisse der ersten Nachkriegszeit scheinbar tatsachengetreu abgespiegelt wurden.7
Die Rezeption machte das Kompendium offenbar zum Standardwerk. Aber die Analysen, die sich auf die Merritts berufen, übersehen einen folgenreichen Mangel. Die beiden Politologen stellten die Survey Reports in eine chronologische Reihenfolge; sie referierten die Befunde für verschiedene Kriteriengruppen, die durch die Wissenschaftler des Survey Analysis Staff gebildet worden waren. Die Entwicklung von 1945 bis 1949 wurde dabei als ein scheinbar lineares Geschehen der Erhebungs- und Veröffentlichungszeitpunkte der Surveys und ihrer Befunde dokumentiert. In diese Reihe gehörten zwar auch anlassbezogene Themen wie der Nürnberger Prozess oder die Währungsreform hinein, die in den Surveys gewürdigt und bei den Merritts erwähnt werden. Aber eine Entwicklung während der Militärregierungszeit, wie sie etwa auf die wirtschaftliche Neuordnung und Gründung der Bundesrepublik hinführte, wurde damit nicht behauptet; vielmehr arbeiteten die Merritts die Reihe der Survey Reports chronologisch ab. Dies lässt keine Aussagen über etwaige Entwicklungsfortschritte des politischen Bewusstseins der Deutschen oder der wirtschaftlichen Institutionenstruktur Nachkriegsdeutschlands zu. Nur die Größenverhältnisse zwischen den Kriteriengruppen, die in den Umfrageergebnissen steckten, wurden referiert. Verbindende Brücken zwischen den Befragungsergebnissen der vier Jahre Militärregierungszeit sollten die drei Hauptthemen sein, die im Einleitungsaufsatz herausgearbeitet wurden - Haltung der Deutschen gegenüber der amerikanischen Besatzung, Einstellung zur Demokratisierung, Entnazifizierung und Reeducation sowie Antikommunismus als neue Priorität amerikanischer Deutschlandpolitik ab dem Jahr 1947. Doch diese Themen entsprachen nicht dem seinerzeit maßgeblichen Geschehen. Es sollten die Topoi der ICD-Forschung während der Besatzungszeit gewesen sein; aber die damals per Sozialforschung ermittelten Einstellungen der (West-)Deutschen spiegelten die Gegebenheiten der sich rasant verändernden Gesellschaft viel deutlicher wieder, als es im Merritt’schen Kompendium zum Ausdruck kam.
Das Dilemma, das einem gewissermaßen „zeitlosen“ Ansatz inhärent ist, zeigte sich erst in einer Auswertung der OMGUS-Befunde, die aus den 1990er-Jahren stammt. Richard Merritts Buch „Democracy Imposed“ enthüllt ein ahistorisches Demokratisierungsverständnis, das auf das Deutschland der Nachkriegszeit projiziert wird.8 Die OMGUS-Studien werden dort mit Blick auf Haltungen der Deutschen zum Nationalsozialismus, Meinungen zu Kollektivschuld und ähnlichen Themen rekapituliert. Nach dem Nationalsozialismus sei die westdeutsche Demokratie durch „imposition“ entstanden, also Oktroi der Amerikaner. Dementsprechend wird eine „colonization“ durch die amerikanische Regierungs- und Staatsideologie der Demokratie behauptet,9 und Nachkriegsdeutschland soll eine Replik der Weimarer Republik gewesen sein: Merritt konstatiert „widespread, albeit modified, restoration of the country’s pre-1933 socio-political system“.10
Eine derart ahistorische Interpretation aus dem Jahr 1995 macht auch die frühere Darstellung der Befunde der OMGUS-Studien suspekt. Ein Modell der auferlegten Demokratie wurde in die Daten der OMGUS-Umfragen nachträglich hineininterpretiert. Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie (um Rupiepers Themenstellung aufzugreifen11) waren in den Berichten der Jahre 1946-1949 durchaus sichtbar. Die Merritts haben die graduelle Wandlung der westdeutschen Sozialstruktur in der Zeit vor Gründung der Bundesrepublik in den Themen und Befunden der OMGUS-Studien nicht nachvollziehen können.12 Die Autoren versagten sich auch die Einsicht, dass aus der Reeducation-Politik ein gestärktes demokratisches Bewusstsein der Deutschen hervorging. Die Politik der USA, die den Wandel der Institutionenstruktur und der Mentalität in Deutschland bezweckte, war demgegenüber unübersehbar Hintergrund der OMGUS-Surveys, und die Survey Reports machten dies immer deutlich.13
Merritts Argumentation enthielt ein ganz bestimmtes Bild der USA als Besatzungsmacht. Schon ab den 1950er-Jahren war die These aktuell, in der Bundesrepublik habe die Besatzungsherrschaft der USA eine gesellschaftliche Restauration bewirkt.14 Dadurch sei in Westdeutschland eine sozialistische Gesellschaft verhindert worden, die sich ansonsten hätte entwickeln können. Auf jeden Fall habe der Antikommunismus der USA, der in den Nachkriegsjahren teilweise wie eine Hysterie gewirkt habe, den Wiederaufbau der Bundesrepublik begünstigt. Der Marshallplan habe indirekt dazu beigetragen, dass autoritäre Gesinnungen der Westdeutschen nicht mehr verfolgt und also nolens volens gefördert worden seien. Die Merritts, die diese kritische Interpretation der amerikanischen Deutschlandpolitik (inklusive Kritik am Antikommunismus) bejahten, sprachen für die junge Generation der 1960er-Jahre. Im Einleitungsaufsatz ihres Kompendiums bekannten sie sich zum damaligen Amerikabild, das ihre Sicht der OMGUS-Studien unwillkürlich prägte. Sie schrieben über die als ungehindert autoritär betrachtete Bundesrepublik, die auch ein Werk der Amerikaner sei (S. 58): „Having pounded anticommunism into receptive Germans, all the while giving impetus to the reemeergence of illiberal predispositions, the United States and its allies prepared to leave the country to its own devices. What was left was for the United States and the rest of the world to reap the fruits of this restoration sown in the late 1940s.“
1 Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004 (Umschlagtext).
2 Das zweite Werk erschien zehn Jahre später. Es behandelte die 213 Berichte über Surveys der Hohen Kommission der USA in Deutschland aus dem Zeitraum zwischen September 1949 und Mai 1955 - also die Umfragen des „Reactions Analysis Staff“ des HICOG-„Office of Public Affairs“ über die Bundesrepublik unter dem Besatzungsstatut. Siehe Anna J. und Richard L. Merritt (Hg.), Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 1949-1955. With a Foreword by Leo P. Crespi, Urbana 1980.
3 Office of the U.S. High Commissioner for Germany. Office of Public Affairs. Reactions Analysis Staff. Trends in German Public Opinion 1946 thru 1949 (OMGUS Survey Report # 175, June 1949), S. 5. Bei Merritt (S. 295) werden die Anteile nur für die Antwortalternative „good idea badly carried out“ berichtet. Dies geschieht pauschal bis zum Jahr 1948. Im originalen Report # 175 wird indessen auch der Anteil derer genannt, die im Nationalsozialismus eine „bad idea“ sahen; dieser Anteil hatte im Januar 1948 etwa 40 Prozent und im November 1948 etwa 30 Prozent betragen.
4 Ulrich Borsdorf/Lutz Niethammer (Hg.), Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Geheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik 1945, Wuppertal 1976, Neudruck Weinheim 1995, S. 315 (Anmerkungsteil zum Einführungsessay).
5 Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Göttingen 1982.
6 Ulrich M. Bausch, Die Kulturpolitik der US-amerikanischen Information Control Division in Württemberg-Baden von 1945 bis 1949. Zwischen militärischem Funktionalismus und schwäbischem Obrigkeitsdenken, Stuttgart 1992.
7 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 217f.
8 Richard Merritt, Democracy Imposed. U.S. Occupation Policy and the German Public, 1945-1949, New Haven 1995.
9 Ebd., S. 14.
10 Ebd., S. 397.
11 Hermann-Josef Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, Opladen 1993.
12 Siehe demgegenüber Uta Gerhardt, Wandlungen der Sozialstruktur in Westdeutschland 1945 bis 1949, in: Wolfgang Glatzer/Ilona Ostner (Hg.), Deutschland im Wandel. Sozialstrukturelle Analysen, Opladen 1999, S. 49-64 (eine Darstellung, die auf den OMGUS-Survey Reports beruht, nicht auf deren Wiedergabe bei den Merritts). Die originalen Reports geben verlässliche Hinweise auf einen Entwicklungsprozess der Einstellungen der Deutschen. Vor allem im Bereich Politik und Wirtschaft lassen sich anhand der Ergebnisse der OMGUS-Surveys Einstellungsänderungen herausarbeiten.
13 Vgl. Uta Gerhardt, Re-Education als Demokratisierung der Gesellschaft Deutschlands durch das amerikanische Besatzungsregime, in: Leviathan 27 (1999), S. 355-385.
14 Siehe dazu Eberhard Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1945-1952, Frankfurt a.M. 1970 (bis 1981 acht Auflagen!); Ernst-Ulrich Huster, Determinanten der westdeutschen Restauration 1945-1949, Frankfurt a.M. 1972.