Der Blick vom Rande

Dan Diners eigenwillige Universalgeschichte Europas (1999)
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Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München: Luchterhand 1999; Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2000, 2. Aufl. 2001; Das Jahrhundert verstehen. 1917–1989.
Eine universalhistorische Deutung, München: Pantheon 2015 (unveränderte, aber durch ein Vorwort und ein Nachwort ergänzte Neuauflage). Die Seitenzahlen der Zitate im Text folgen der Erstausgabe. 

[Mein Dank gilt den Mitgliedern der Redaktion für die hilfreichen Rückmeldungen zu einer ersten und
zweiten Fassung dieses Beitrags.]

Aus meiner erstmaligen Lektüre von Dan Diners Buch »Das Jahrhundert verstehen«, das ich wohl zu Beginn der 2000er-Jahre las, ist mir die einleitende Bemerkung des Autors in Erinnerung geblieben, die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert sei besser zu fassen, wenn der Blick von der Potemkinʼschen Treppe in Odessa nach Süden und Westen streife. Der besondere Klang Diners ist mir ebenfalls im Ohr geblieben: viele prägnante Formulierungen, aber manchmal komplizierte Sätze – fast bis zur Unverständlichkeit. Die erneute Lektüre des Buches lässt der Treppe von Odessa ihren Wert als anschauliches Bild, aber die Botschaft tritt nun, nach 25 Jahren mehr an eigener Leseerfahrung und im Wissen um spätere Ereignisse, deutlicher hervor.

Das Buch ist grundsätzlich chronologisch gegliedert. Nach einer kürzeren Einleitung sind die drei hinführenden Kapitel jedoch zeitlich ineinander versetzt angeordnet: (1) »Deutungen: Zweierlei Weltbürgerkrieg«, (2) »Konversionen: Nation und Revolution« sowie (3) »Regime: Demokratie und Diktatur«. Das Buch führt auf sich kreuzenden Pfaden zum zentralen vierten Kapitel »Kataklysmen: Gedächtnis und Genozid«, also in den Holocaust. Das fünfte und letzte Kapitel, »Dualismen: Dekolonisierung und Kalter Krieg«, leitet sehr viel schneller aus dieser Geschichte des 20. Jahrhunderts hinaus, als es der lange und gewundene Weg in den Holocaust vermuten ließ.

Erste Wegmarken auf den verschlungenen, in den Zweiten Weltkrieg und letztlich in den Holocaust mündenden Pfaden sind für Diner die ethnischen Bürgerkriege, die mit der Makedonischen Frage vor dem Ersten Weltkrieg einsetzten und sich mit dessen Ende auf Osteuropa in Form von »zwischenstaatlichen Bürgerkriegen« (S. 87) ausdehnten, hier mit dem Baltikum als zentralem Ort, »einem Treibhaus politischer Mentalitäten, die in den Nationalsozialismus einmünden sollten« (S. 48). Hinzu tritt die problematische Entstehungsgeschichte der »Nationalstaaten« Ost- und Südosteuropas in Verbindung mit dem in den Pariser Friedensverträgen und in der Völkerbundsatzung festgehaltenen Prinzip des Minderheitenschutzes, das ein unglücklicher Kompromiss war zwischen dem westlichen politischen Konzept von Selbstbestimmung, mit dem der Demos sich souverän Institutionen gibt, und dem mitteleuropäischen ethnischen Prinzip, als dem »Recht einer Nationalität, sich von anderen Nationen unabhängig zu konstituieren« (S. 60).

Diner setzt die Grenzen seines »kurzen 20. Jahrhunderts«1 mit der Oktoberrevolution 1917 und dem Beginn der Auflösung des sowjetischen Machtblocks 1989. Damit rückt er Russland in eine zentrale Position, die es auch als Verfechter eines der beiden bestimmenden Prinzipien im »Weltbürgerkrieg« (S. 65f., S. 77, S. 261, S. 266) des 20. Jahrhunderts hatte: das sowjetische Prinzip der Gleichheit versus das anglo-amerikanische Prinzip der Freiheit. Diner sieht das 20. Jahrhundert als ein Ringen zwischen diesen beiden Leitideen, denen er im Grundsatz gleichermaßen Legitimität zuspricht, da beide aus der Aufklärung hervorgingen.

Die Jahre 1941–1945 waren Diner zufolge die große Ausnahme. Sie brachten die Allianz zwischen Großbritannien, den USA und der stalinistischen Sowjetunion gegen das nationalsozialistische Deutschland, die nach Diner quer stand zu dem das 20. Jahrhundert ansonsten bestimmenden Wettstreit zwischen Freiheit und Gleichheit. Der Nationalsozialismus vertrat einen Biologismus und Antibolschewismus, der sich nicht primär politisch begriff, sondern mit einer rassistischen Zuschreibung seinen Gegner im »slawischen Untermenschentum« sah, verbunden mit »jüdischer Intelligenz« (S. 53, S. 219).2 Der rassenideologisch geleitete deutsche Unterwerfungs- und Vernichtungskrieg führte dazu, dass sogar das »anthropologisch als gewiß geltende Motiv der Selbsterhaltung« (S. 210) außer Kraft gesetzt wurde. Beim Rückzug von Rhodos ließen die deutschen Truppen wertvolles Kriegsmaterial zurück, um die Jüdinnen und Juden der Insel doch noch in die Vernichtung transportieren zu können. Der Holocaust bleibt für Diner in seinen menschlichen Abgründen unfassbar, aber er erscheint ihm in diesem Buch doch erklärbar – als Folge eines Primats der Ideologie.3 Während die bolschewistische Herrschaft willkürlich war, »erweckt die Herrschaft Hitlers« – so Diners zugespitzte These – »den Eindruck von geradezu geordneten Verhältnissen, ja von Rechtssicherheit« (S. 240f.). Die Jüdinnen und Juden Europas, und viele andere Menschengruppen, konnten fest darauf bauen, zu Tode gebracht zu werden.

Wenn die Jahre 1941–1945 eine Ausnahme im 20. Jahrhundert waren, so war das gesamte Jahrhundert aus Diners Sicht wiederum selbst eine große Ausnahme, sofern man die vorangehenden und nachfolgenden Zeiträume als Vergleichsmaßstab nimmt. Im Kalten Krieg, der »Epoche der großen Neutralisierungen« (S. 313) zwischen den beiden Prinzipien der Gleichheit und Freiheit, wurden die Konfliktmuster des 19. Jahrhunderts überschrieben. Erst nach 1989 traten die tieferliegenden Strukturen geopolitischer Interessen wieder hervor.

Aus der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust fand das westliche Europa mit Hilfe der USA heraus. Die von nuklearer Abschreckung gestützte Zeit des Kalten Krieges war laut Diner für ganz Europa eine Zeit sorgloser Provinzialität: »Im Auge des Taifuns herrschte militärische Ruhe.« (S. 258) Die nachhaltige Schwächung Frankreichs und Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg, die von Frankreich anfangs unterschätzte Wucht der Dekolonisierung, vor allem aber die Konstellation des Kalten Krieges führten dazu, dass die Westeuropäer dank ihres in der Europäischen Union mündenden Einigungsprozesses über die in der Zwischenkriegszeit noch so deutlich sichtbaren gegenseitigen Vorbehalte hinwegkamen.4

Diner braucht für seine Geschichte des 20. Jahrhunderts einen weiten Blick und den breiten Pinselstrich. Beides hat er in Fülle zur Verfügung. Großen Mut benötigt er für seine Darstellung aber nicht; er bewegt sich weitgehend in den Bahnen der etablierten westlichen Geschichtsschreibung, auch wenn seine Gegenüberstellung von Geopolitik und Ideologie sowie der direkte Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus eine besonnene Handhabung des Materials unerlässlich machen.5

Allerdings ist Diner nicht übervorsichtig. Den für ihn von realpolitischen Interessen bestimmten Spanischen Bürgerkrieg kanzelt er als eine letztlich unbedeutende Episode ab; dieser Krieg sei nicht viel mehr als eine »Ereignisikone« (S. 76). Bei der Gründung der ost- und südosteuropäischen Staaten wiederum sieht der Autor »lange historische Gedächtnisse« am Werk (S. 61, ähnlich S. 30) – eine Aussage, die nach heute herrschender Meinung als »Primordialismus« einzuschätzen ist.6 Seine Sympathien liegen deutlich bei der anglo-amerikanischen Welt. Für ihn waren die Briten ideologieferne und die US-Amerikaner meist konstruktive Imperialisten. Wie kam Diner als unorthodoxer linker Autor zu dieser so positiven Einschätzung der USA? Das Buch gibt darauf keine direkte Antwort.7

Ein Globalhistoriker ist Diner nicht; er will es auch nicht sein. Das wäre ihm ein zu enges Korsett angesichts der damit einhergehenden Verpflichtung zur gleichberechtigten Behandlung aller Teile der Welt. Manche Ereignisse erhalten in seinem Buch von 1999 übermäßige Aufmerksamkeit, etwa die dramatisch-groteske Endphase der Weimarer Republik, die mit dem Rücktritt des letzten parlamentarischen Kabinetts der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller im Jahr 1930 begann und mit Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 endete. »Universalgeschichte« ist für Diner – salopp gesagt – ein erweiterter europäischer Raum, in dem er seinen historiographischen Interessen nachgeht. Manche Aspekte, die in einer dem Gesamtbild verpflichteten Geschichte des 20. Jahrhunderts enthalten sein müssten, lässt Diner – nonchalant und souverän zugleich – einfach weg.8 Der Hinweis in seinem Vorwort von 2015, dass der kolonialen und postkolonialen Welt »nur Seitenblicke« gelten und dass dazu ein anderes seiner Werke Auskunft gebe, das Buch »Versiegelte Zeit« von 2005, ist kein Trost und inhaltlich nicht überzeugend (S. XIII).9

Diner ist ein Autor mit einer herausragenden wissenschaftlichen Intuition, aber die in »Das Jahrhundert verstehen« vorgedachte Möglichkeit einer von den östlichen und südöstlichen Rändern her konzipierten Geschichte Europas hat er in diesem Buch nicht vollständig umgesetzt.10 Osteuropa interessiert Diner sehr viel mehr als Südosteuropa – eine in geopolitischer und biographischer Hinsicht verständliche Vorliebe.11 Unverständlich ist dennoch, warum Diner die jugoslawischen Zerfallskriege der 1990er-Jahre im Buch von 1999 nicht einmal erwähnt, obwohl sie entlang einer von ihm thematisierten Problemzone stattfanden, jene »zwischen Ostsee und Schwarzem Meer gelegene, den Balkan streifende und bis in die Levante reichende europäische Schütterzone« (Vorwort zur Neuauflage von 2015, S. X).12 Die Konflikte unter den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, mitsamt ihrer jeweiligen west- und osteuropäischen Patronagemächte, hätten ihm ein willkommener Beleg dafür sein können, dass die alten geopolitischen Bruchlinien Europas neu hervortraten, sobald die Konstellation des Kalten Krieges zu einem Ende gekommen war.

Grundsätzlich unternimmt Diner den Versuch, Osteuropa (mitsamt Südosteuropa) und den Nahen Osten – zwei in der Geschichtswissenschaft ansonsten strikt voneinander getrennte Räume – miteinander zu denken. Zum südöstlichen Rand Europas gehören für Diner besonders die Levante und »der Orient«, sowohl vor dem Ersten Weltkrieg, als die Region noch unter osmanischer Herrschaft stand, wie auch danach, als Frankreich und Großbritannien erst das schufen, was wir heute als den Nahen Osten kennen.13

Deswegen ist Diner auch so sehr vom Problem der »Orientalischen Frage« faszi­niert,14 also von der Frage, wie viel »vom Osmanischen Reich in welcher Form im Interesse der europäischen Mächte unbedingt erhalten werden mußte«.15 Er spricht wiederholt von »Orient und Levante« als dem klassischen »Entlastungsraum« Europas (S. 30, S. 257, S. 265). Ähnlich häufig ist die Rede von der »Orientalischen Frage« (S. 15, S. 30, S. 127, S. 258 – meist in Anführungszeichen), die Diner genau definiert: Es seien »die den Zerfallsprozeß des Osmanenreiches begleitenden Probleme des nationalen Erwachens von Völkern mit langen historischen Gedächtnissen, wie etwa Serben und Griechen, sowie die Rivalität der Mächte im Bereich der Meerengen, des Balkans und des östlichen Mittelmeeres, vornehmlich der Gegensatz zwischen England und Rußland« (S. 30). Wie die beiden Kategorien, also Entlastungsraum und Orientalische Frage, sich zueinander verhalten, wird jedoch nicht deutlich.16 Erstaunlicherweise denkt Diner die Frage des Nahen Ostens als Entlastungsraum europäischer Politik im 20. Jahrhundert nicht weiter, sondern bricht diesen Argumentationsstrang mit dem Ersten Weltkrieg ab.17

Diners Blick von 1999 auf das Europa des 20. Jahrhunderts ist versöhnlich, ja sogar optimistisch gestimmt.18 Lag es daran, dass Europa gerade zu diesem Zeitpunkt auf dem Scheitelpunkt seines Erfolgs als Einigungsprojekt gestanden haben könnte?19 Angesichts der eher düsteren weltpolitischen Lage heute würde Diner die Gewinn- und Verlustrechnung des 20. Jahrhunderts wohl neu aufmachen. Die historische Entwicklung seit 1999 hat Diner aber nicht in seiner grundsätzlichen Argumentation widerlegt. In einem möglichen neuen Nach-Nachwort (zur Erstauflage von 1999 und zur unveränderten Neuauflage von 2015) könnte er darauf hinweisen, dass die zentrale Rolle, die er Osteuropa (und in Ansätzen dem osmanischen bzw. postosmanischen Raum) für seine universalhistorische Deutung des europäischen 20. Jahrhunderts gegeben hat, berechtigt war. Seit den 2010er-Jahren treten die Konfliktzonen jenes Intermarium,20 der Region zwischen Baltischer See und Schwarzem Meer, wieder schmerzhaft hervor. Für russische imperiale Machtprojektionen hatte und hat die Ukraine absolute Priorität.21

Stellen wir uns vor: Wir sitzen im Jahr 2025 auf der nach Osten blickenden Treppe von Odessa – dann sehen wir den seit Februar 2022 offen geführten Ukraine-Krieg auf der Linken und den Gaza-Krieg seit Herbst 2023 auf der Rechten. Wir haben Mühe, diese beiden Kriege zusammen zu denken; zu unterschiedlich sind sie, so weit weg sind sie voneinander. Aber beide Kriege führen zurück zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; beide Kriege wirken jetzt auf europäische Politik und Gesellschaften ein. Dan Diners Buch »Das Jahrhundert verstehen« zeigt, dass ein solches Zusammendenken grundsätzlich möglich und notwendig ist.


Anmerkungen:

1 Geprägt wurde dieser Begriff von Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994. Siehe auch die Relektüre von Eva Bischoff, Hobsbawm lesen im Anthropozän. Ein neuer Blick auf »Das Zeitalter der Extreme (1994/95)«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 20 (2023), S. 497-506.

2 Vgl. Mark Mazower, Dark Continent. Europe’s Twentieth Century, London 1998, S. XIII, S. 48, S. 73: Die Nationalsozialisten machten aus Europäern – und dies war vollständig neu – Afrikaner, Barbaren und Sklaven. Siehe auch S. XIII zu Mazowers expliziter Kritik an Hobsbawm, Age of Extremes (Anm. 1): Hobsbawm lege zu geringes Augenmerk auf die Ideologie des Faschismus bzw. Nationalsozialismus und betreibe wirtschaftlichen Reduktionismus.

3 Siehe dagegen die deutlich düsterere, vielzitierte Feststellung bei Dan Diner, Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus, in: ders. (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a.M. 1987, S. 62-73, hier S. 73 (dortige Hervorhebung): »Auschwitz ist ein Niemandsland des Verstehens, ein schwarzer Kasten des Erklärens, ein historiographische Deutungsversuche aufsaugendes, ja, außerhistorische Bedeutung annehmendes Vakuum.«

4 Nach Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005, S. 117, war für die französische politische Elite die Option einer Europäischen Gemeinschaft nur ein »pis aller, a second-best outcome«.

5 Die Publikationen von Ernst Nolte, der mit seiner Behauptung einer kausalen Verbindung zwischen den Grausamkeiten des sowjetischen Gulag-Systems und dem Holocaust 1986 den »Historikerstreit« auslöste, erwähnt Diner im Haupttext des Buches von 1999 nicht, nennt in den Endnoten aber mehrmals Noltes Schriften, etwa auf S. 324, Anm. 105, das Hauptwerk in diesem Sinne: Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt a.M. 1987. Zu weiteren Hinweisen auf andere Publikationen Noltes siehe S. 318, Anm. 2; S. 355, Anm. 129; S. 356, Anm. 146; S. 357, Anm. 8.

6 Siehe z.B. das Argument einer reinen Konstruiertheit von Staaten und Staatsgrenzen bei James L. Gelvin, The Modern Middle East. A History, New York 2005, 5. Aufl. 2020, S. 205f., das allerdings im Kontext des Nahen Ostens überzeugender ist als für den von Diner angesprochenen Raum Ost- und Südosteuropas.

7 Stefan Berger, Schlag nach bei Hobsbawm. Für Dan Diners Art, das 20. Jahrhundert zu verstehen, wäre weniger mehr gewesen, in: Süddeutsche Zeitung, 24.3.1999, S. V2/15, erklärte Diners Loblied auf die angelsächsische politische Kultur mit der westdeutschen Sonderwegsdebatte der 1960er- und 1970er-Jahre, mit ihrem »Idealbild einer westlichen politischen Kultur, die es in der Bundesrepublik noch zu etablieren galt«.

8 Für den Rezensenten Armin Pfahl-Traughber, in: Zeitschrift für Politik 48 (2001), S. 354-355, hier S. 354, erfüllte Diners Buch »auch rein formal nicht den Anspruch einer ›universalhistorischen Deutung‹«.

9 Dan Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2005. Darin geht es dem Autor nicht um eine Geschichte des 20. Jahrhunderts im Nahen Osten oder gar in der islamischen Welt, sondern um einen ganz anderen Sachverhalt: Er will zeigen, dass die vom Koran ausgehende Sakralisierung des Arabischen die Weiterentwicklung der arabischen Welt behindert habe. Es liegt vermutlich an dem diesem Buch leicht zu unterstellenden Odor des Essentialismus, dass es wenig Widerhall gefunden hat. Man vergleiche dagegen die inner- und außerhalb der Islamwissenschaft enthusiastische Aufnahme von Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. Bauer zufolge wird durch die westliche »Islamisierung des Islams« (S. 222) die hohe Binnenvarietät der islamischen Welt in Vergangenheit und Gegenwart geleugnet.

10 Siehe den Titel der englischsprachigen Übersetzung von Diners Buch, Cataclysms. A History of the Twentieth Century from Europe’s Edge, trans. William Templer with Joel Golb, Madison 2008.

12 »Schütterzone« ist offensichtlich eine direkte Übersetzung des englischen Ausdrucks »shatter zone«. Vgl. den zentralen Gebrauch des Begriffs »ethnic shatter zone« bei Ger Duijzings, Religion and the Politics of Identity in Kosovo, London 2000, S. 9f.

13 Zum Konstrukt des Nahen Ostens siehe Maurus Reinkowski, Ein neuer Naher Osten? Zur realen Krise eines epistemischen Systems, in: Leviathan 31 (2017), S. 95-113.

14 Im Inhaltsverzeichnis spricht Diner von »Orientalischen Fragen«, im Text aber verwendet er den Singular.

15 Alexander Schölch, Der arabische Osten im neunzehnten Jahrhundert (1800–1914), in: Ulrich W. Haarmann (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, München 1987, S. 365-430, hier S. 383.

16 Diners Begriff des Entlastungsraums geht wohl zurück auf Malcolm E. Yapp, The Making of the Modern Near East 1792–1923, London 1987, der das späte Osmanische Reich als Ort der Externalisierung von innereuropäischen Konflikten beschrieb.

17 Für Diner war und ist seit seiner Frankfurter Habilitation und dem daraus hervorgegangenen Buch (Israel in Palästina. Über Tausch und Gewalt im Vorderen Orient, Königstein 1980) die Palästinafrage von zentralem Interesse.

18 Man vergleiche dies mit dem ausgesprochenen Pessimismus bei Hobsbawm, Age of Extremes (Anm. 1), S. 286: »age of crisis« seit 1973; ähnliche Formulierungen finden sich u.a. passim im Kapitel 14 (»The Crisis Decades«), S. 403-432.

19 [Anon.,] Peak Europe turns 25: why June 1999 marked the continent’s zenith, in: Economist, 6.6.2024.

20 Robert Kaplan, The Return of Marco Polo’s World. War, Strategy, and American Interests, New York 2018, S. 23.

21 Zbigniew Brzezinski, The Grand Chessboard. American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, New York 1997, S. 46. Für die historische Dimension der Notwendigkeit, dass die Ukraine zu Russland gehören muss, wenn dieses als Imperium bestehen will, siehe Dominic Lieven, Empire. The Russian Empire and its Rivals, New York 2000, S. 222, S. 334, S. 385, S. 403. Siehe auch Martin Schulze Wessel, Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte, München 2023, demzufolge sich Russland mit seiner Expansion nach Westen seit dem 18. Jahrhundert eine imperiale Grundeinstellung zugelegt hat, von der es sich nur durch die Besinnung auf eine postimperiale Identität befreien könnte.

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Maurus Reinkowski, Der Blick vom Rande. Dan Diners eigenwillige Universalgeschichte Europas (1999), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 21 (2024–2025), H. 2,
URL: https://zeithistorische-forschungen.de/index.php/2-2024-2025/6232,
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2942,
Druckausgabe: S. 387-393.
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