Das Anthropozän stellt eine radikale Herausforderung für die Geschichtswissenschaft dar, wie etwa die australische Umwelthistorikerin Libby Robin betont hat: »a concept that considers the role of humanity as a historical force for change in planetary systems, demands both geological and historical time-scales, and writes planetary and human histories together«.1 Es gelte, etablierte Vorstellungen von Raum, Zeit und Agency kritisch zu überdenken sowie geologische und menschliche Skalen zueinander in Beziehung zu setzen. Robin reagierte damit auf Dipesh Chakrabarty, der 2009 postuliert hatte, dass der Klimawandel Historiker:innen dazu zwinge, grundlegende Annahmen zu hinterfragen: die Grenze zwischen Natur und Kultur, die Bedeutung der Moderne bzw. der Modernisierung, die Beziehung zwischen der Geschichte von Menschen und der Menschheitsgeschichte sowie die Gemeinsamkeit menschlicher Erfahrungen.2
Chakrabartys Intervention rüttelt ganz bewusst an etablierten Epocheneinteilungen und Narrativen, wie sie insbesondere durch klassische Überblicksdarstellungen zur Geschichte der modernen Welt vermittelt werden. Zu diesen Werken zählt Eric Hobsbawms Monographie »Das Zeitalter der Extreme« (im Englischen »Age of Extremes«). Das Buch gehört zu den Standardwerken der Historiographie des 20. Jahrhunderts und ist der letzte Teil von Hobsbawms Serie zur Neueren und Neuesten Geschichte. Ebenso wie seine Schwesterwerke »The Age of Revolution. Europe 1789–1848« (zuerst 1962), »The Age of Capital 1848–1875« (1975) und »The Age of Empire 1875–1914« (1987) wurde das Buch zu einem Bestseller. Es wurde rasch in 20 Sprachen übersetzt.3 Ebenso wie in den vorangegangenen Werken prägte Hobsbawm auch in »Age of Extremes« zahlreiche Begriffe, die Fachwissenschaftler:innen bis heute nutzen – allen voran das »Kurze 20. Jahrhundert« und das »Goldene Zeitalter«.4 Mit seiner klaren argumentativen Struktur und verständlichen Darstellung war das Werk für mich selbst als Studentin eine wichtige Orientierungshilfe. Heutigen Student:innen geht es ganz ähnlich, wie ich als Dozentin nun immer wieder beobachte. Hobsbawms eingängiger Stil und seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge prägnant zu schildern, begeistern auch heute noch. Wenn wir jedoch Chakrabartys Intervention ernstnehmen wollen und ausgehend von unseren gegenwärtigen Erfahrungen einen kritischen Blick auf das Zeitalter des Anthropozäns werfen wollen, müssen wir dann nicht genau solche Überblickswerke kritisch hinterfragen?
Dabei gilt es zunächst zu klären, welcher Zeitraum mit dem Begriff »Anthropozän« gefasst wird. Dies ist innerhalb des sich entwickelnden (interdisziplinären) Forschungsfeldes immer noch umstritten. Während die einen argumentieren, dass Menschen bereits seit der Erfindung des Ackerbaus maßgeblich in ihre Umwelt eingegriffen hätten, insistieren andere darauf, dass die Menschheit erst durch die Industrialisierung zu einer planetarischen Akteurin geworden sei.5 Eine weitere Gruppe um den Klimawissenschaftler Will Steffen hebt die Bedeutung des sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts enorm beschleunigenden Ressourcenverbrauchs hervor. Die Autor:innen sprechen in diesem Zusammenhang von der »Great Acceleration« und nennen mehrere Charakteristika:6 die Etablierung neuer, internationaler Strukturen unter der Vorherrschaft der USA; die zunehmende transnationale wirtschaftliche Verflechtung, insbesondere zwischen 1950 und 1973; die erhöhte Nutzung fossiler Energieträger sowie die steigende Ausbeutung von bis dahin als Gemeingüter angesehenen Ressourcen; die Durchsetzung des Imperativs von der Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums und ein Desinteresse an den daraus resultierenden Umweltproblemen. Während die Grundlagen für diese Entwicklung bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert gelegt worden seien, gilt Steffen und seinen Koautor:innen der Zweite Weltkrieg als entscheidender Markstein.7
Neben der Gruppe um Will Steffen sehen heute auch Philosoph:innen und Historiker:innen die drei Dekaden (»Trente Glorieuses«) nach 1945 in einem kritischen Licht. So hebt Pierre Charbonnier in seinen ideengeschichtlichen Überlegungen zum Zusammenhang von »Überfluss und Freiheit« (2022) hervor, dass in den westlichen Gesellschaften dieser Zeit die Vorstellung von der Autonomie des politischen Subjekts an die Verfügbarkeit materiellen Wohlstands gekoppelt worden sei. Diese Entwicklung sei mit einem gesteigerten Extraktivismus einhergegangen, den der Autor ausdrücklich mit der »Great Acceleration« verbindet. Natur, traditionell als Zwang und damit als Widersacherin von Freiheit gesehen, sollte durch den zunehmenden Einsatz von fossil- oder atombetriebenen Maschinen überwunden werden. »In diesem Kontext«, so Charbonnier, »verknüpfte sich wie nie zuvor in der Geschichte die politisch-rechtliche Emanzipation mit der Beschleunigung des techno-wissenschaftlichen Projekts.«8
Wer Eric Hobsbawms Monographie »Age of Extremes« einmal oder sogar mehrfach in der Hand gehabt hat, dem oder der kommen diese Punkte vertraut vor. Wie schon erwähnt, bezeichnet der Autor die Phase zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den frühen 1970er-Jahren als das »Golden Age« oder auch die »Golden Years« des 20. Jahrhunderts (S. 258, Kapitelüberschrift). Diese Ära sei, so Hobsbawm, durch ein explosionsartiges Wachstum der Weltwirtschaft gekennzeichnet gewesen, mit ungeahnten Steigerungsraten sowohl der industriellen als auch der landwirtschaftlichen Produktion. Dieses Wachstum habe auf dem zunehmenden Verbrauch fossiler Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas basiert. Besonders der außerordentlich niedrige Ölpreis habe zu dieser Entwicklung beigetragen. Die daraus entstehenden Konsequenzen für Mensch und Umwelt hätten nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Stattdessen habe eine weitgehend unhinterfragte Fortschrittsideologie dominiert, in welcher Naturbeherrschung als positives Zeichen der menschlichen Entwicklung gegolten habe (S. 261f.). Dabei richtete Hobsbawm seinen Blick nicht nur auf die westlichen Gesellschaften, sondern auch auf die ökologischen Konsequenzen der »unusually filthy industrialization of the USSR« (S. 263). Diese und andere Ähnlichkeiten zu aktuellen, kritischen Reflexionen des 20. Jahrhunderts werfen die Frage auf:9 Wie liest sich Hobsbawms »Age of Extremes« im Zeitalter des Anthropozäns?
Die Erstausgabe erschien 1994, wenige Jahre vor der Einführung des Begriffs Anthropozän durch Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer.10 Das Werk stellt ein frühes Beispiel einer Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts dar, »a bird’s eye view« (S. 1), wie Hobsbawm selbst es nennt, und ist in drei Teile gegliedert: die Genese aus der Katastrophe der beiden Weltkriege (»The Age of Catastrophe«), die Phase des »Golden Age«, gefolgt von einer Periode des Niedergangs, dem »Landslide« der beiden Dekaden nach 1973. In diesem Dreischritt erzählt der Autor die Entstehungsgeschichte einer Welt, die von den Herausforderungen des Kalten Krieges geprägt wurde (S. 4). Der ideologische Konflikt gibt Hobsbawms »Short Twentieth Century« den Rahmen: »Social revolutions, the Cold War, the nature, limits and fatal flaws of ›really existing socialism‹ and its breakdown, are discussed at length.« (S. 9)
Dem »Goldenen Zeitalter« kommt in diesem Narrativ eine besondere Rolle zu. Nicht nur kulminieren hier Prozesse, die bereits im 19. Jahrhundert ihren Anfang genommen hatten (Stichwort Industrialisierung). Gleichzeitig treten neue Elemente hinzu: Veränderungen im Verhältnis zwischen den Geschlechtern und den Generationen sowie die radikale Transformation der politischen Welt durch die Dekolonisierung (S. 320-343, S. 344-371). Darüber hinaus markieren die »Goldenen Jahre« schließlich das Ende des ungebremsten Wachstums und der damit einhergehenden Fortschrittsideologie.11 Diese Phase, so Hobsbawm, sei in ihrer Bedeutung und Besonderheit jedoch erst nachträglich sichtbar geworden: »The gold glowed more brightly against the dull or dark background of the subsequent decades of crisis.« (S. 258)
Das Buch erhebt einen globalhistorischen Anspruch, der jedoch asymmetrisch umgesetzt wird. Die Darstellung konzentriert sich auf Westeuropa und den atlantischen Raum. Über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg, so Hobsbawm, seien drei große Transformationen zu beobachten: der Niedergang Europas als Zentrum wirtschaftlicher und politischer Macht, die zunehmende weltumspannende Vernetzung und Verdichtung von Kommunikation und Wirtschaft (Globalisierung) sowie die Durchsetzung einer Form des Individualismus, der die bestehenden sozialen Gefüge unterminiere (S. 14f.).
Eric Hobsbawm war am Ende seines Lebens, wie sein Biograph Richard Evans formuliert, »the best-known and most widely read historian in the world«.12 Es scheint daher fast überflüssig, den Autor von »Age of Extremes« an dieser Stelle ausführlich vorzustellen.13 Mit Blick auf die Bedeutung seiner Geschichtsschreibung im Zeitalter des Anthropozäns seien hier trotzdem einige Charakteristika hervorgehoben. Geboren 1917 in Alexandria, gestorben 2012 in London, durchlebte Hobsbawm viele der von ihm beschriebenen Entwicklungen, Zäsuren und Transformationen des 20. Jahrhunderts selbst. Er war seit seiner Jugend Mitglied der Kommunistischen Partei (KP) und damit lange Anhänger einer der beiden großen Ideologien des »Zeitalters der Extreme«.14 Die 1960er-Jahre waren für ihn eine persönliche Wendezeit. In seiner Autobiographie beschreibt er einen unerwarteten Fahrstuhleffekt, der nicht nur ihm persönlich, sondern Männern seiner Generation insgesamt zu Einfluss und Wohlstand verholfen habe.15 Aufgrund seiner Distanzierung von der KP nach 1956 engagierte sich Hobsbawm zunehmend in neuen politischen Bewegungen, in den Protesten gegen Atomwaffen und, inspiriert durch die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, in der Antirassismusbewegung. Als zentrales Element für die Entwicklung der Linken ab den 1960er-Jahren sah er einen Prozess der doppelten Dekolonialisierung: die Einwanderung aus den ehemaligen britischen Kolonien sowie den Antiimperialismus (vor allem die Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg, der Kubakrise und dem Vietnamkrieg).16
Als Zeitgenosse und Historiker des 20. Jahrhunderts entwickelte Hobsbawm ein besonderes Gespür für Temporalitäten und deren historiographische Relevanz. Er war sich sehr bewusst, dass der Geschichtszeitraum seiner Studie zugleich seine eigene Lebensspanne umfasste. Er selbst beschrieb seine Historiker-Position als eine Form der teilnehmenden Beobachtung.17 In »The Age of Extremes« sprach er von der »destruction of the past, or rather of the social mechanisms that link one’s contemporary experience to that of earlier generations« als eines der »most characteristic and eerie phenomena of the late twentieth century« (S. 3). Er beschrieb dabei einen Verlust, nicht »the end of history«, wie er mehrfach betonte (S. 6, S. 9).
Andere Beobachter:innen der weltpolitischen Umwälzungen, die durch die Auflösung der UdSSR angestoßen wurden, diagnostizierten hingegen genau dies: das Ende der Geschichte – allen voran der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der postulierte, das Ende des Ost-West-Konflikts sei »the end point of mankindʼs ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government«.18 Der Amerikaner hatte einen Nerv getroffen,19 auch bei Hobsbawm. Dieser sah seine Hoffnungen in Michail Gorbatschows Reformen enttäuscht und musste als Historiker seine Interpretation des 20. Jahrhunderts grundsätzlich überdenken.20
Das Buch »Age of Extremes« war seit 1988 unter Vertrag. Das Konzept sah ursprünglich zwei Großabschnitte vor: »a calamitous first half«, 1914 bis 1945, gefolgt von einer zweiten Hälfte ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges – »booming, peaceful and prosperous«.21 Unter dem Eindruck des Zerfalls der UdSSR verwarf Hobsbawm jedoch dieses Fortschrittsnarrativ und strukturierte das Werk grundlegend um. Der neue Aufbau betonte die Zäsur von 1973 und deutete die darauffolgenden Jahrzehnte in einem viel negativeren Licht. Der Verfasser fügte außerdem ein mittleres Kapitel ein, den Abschnitt zum »Golden Age«.22 Die Debatten um das Ende des Kalten Krieges hatten also einen zentralen Einfluss auf das Buch.
Die frühen 1990er-Jahre waren jedoch nicht allein durch weltpolitische Themen bestimmt. In Öffentlichkeit und Wissenschaft waren gleichzeitig auch klima- und umweltpolitische Fragen sehr präsent. So legte 1990 das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) seinen ersten Bericht vor.23 Im Juni 1992 verabschiedete der UN-»Erdgipfel« von Rio de Janeiro die Klimarahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change). Im Abschnitt »Towards the Millennium« von »Age of Extremes«, dem letzten Kapitel, nahm Hobsbawm zwar nicht explizit Bezug auf die Konferenz, präsentierte aber ausdrücklich die im IPCC-Bericht angesprochenen Gefahren, namentlich diejenigen der demographischen Entwicklung und der Umweltzerstörung als Teil zukünftiger »long-term tendencies of development« (S. 568). Der Grund für diese Situation, so Hobsbawm weiter, sei das hohe Wirtschaftswachstum, das sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert habe, welches, »if maintained indefinitely […], must have irreversible and catastrophic consequences for the natural environment of this planet, including the human race which is part of it« (S. 569).
In der Rezeption von »Age of Extremes« standen und stehen die Auseinandersetzung um die historische Bedeutung des Kalten Krieges und seines Endes, die Kritik an der eurozentrischen Perspektive des Buches sowie der Umgang mit Auschwitz und den Gulags im Vordergrund.24 Bislang hat nur der Historiker Paul Warde näher auf Hobsbawms Auseinandersetzung mit dem Nexus zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung Bezug genommen. Angesicht der Bedeutung, die diesen Themen zukomme, so Warde, mute es seltsam an, dass solchen Fragen nur wenig Raum zugestanden werde.25 In eine ähnliche Richtung geht die Kulturwissenschaftlerin McKenzie Wark, die argumentiert, Hobsbawm habe die Marx’sche Kritik am modernen Mensch-Natur-Verhältnis in seiner Darstellung nicht berücksichtigt. Daher erscheine der Klimawandel am Ende des Buches »in the moment of its scientific discovery, out of nowhere«.26
Hobsbawm war sicher kein Umwelthistoriker. Seine Analysen bezogen sich stets auf menschliche Akteur:innen, auf ihr wirtschaftliches, politisches und kulturelles Handeln, so auch in »Age of Extremes«. Gleichzeitig ist jedoch festzuhalten, dass die Entstehung des Werkes und seine uns heute geläufige Struktur von zeitgenössischen Debatten und damit auch von Diskussionen um Klimapolitik der frühen 1990er-Jahre geprägt waren. Was heißt das nun für die Leser:innen des beginnenden 21. Jahrhunderts, die sich inmitten des längst spürbaren Klimawandels fragen, wie eine Geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben werden könnte? Dazu möchte ich drei Beobachtungen formulieren.
Erstens: Auf der Suche nach Überblicksdarstellungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, die das Anthropozän und/oder die »Great Acceleration« explizit diskutieren, macht sich zunächst Enttäuschung breit. Denn auch andere Publikationen und Autor:innen blenden das Thema aus – etwa Giovanni Arrighi, der dieses Problemfeld in seiner Studie »The Long Twentieth Century«, erschienen im gleichen Jahr wie Hobsbawms »Age of Extremes«, gar nicht beachtet.27 Andere, wie Christopher Bayly in »Remaking the Modern World 1900–2015« (2018), behandeln es kursorisch bzw. ironisch distanzierend.28 In diesem Vergleich steht Hobsbawms Analyse auch 30 Jahre später gar nicht so schlecht da. Manche neueren globalhistorischen Überblickswerke behandeln das Anthropozän entweder explizit oder untersuchen wichtige Aspekte davon in eigenen Kapiteln.29 Auffällig ist, dass sich diese Werke durch eine (eher) thematische Gliederung und durch eine multiperspektivische, multivokale Darstellung auszeichnen. Auf diese Weise wird die für die »Great Acceleration« charakteristische Verschränkung von Politik, Wirtschaft und Natur weniger gut sichtbar. Aus der Umweltgeschichte werden andere Stimmen laut: So prognostiziert der US-amerikanische Umwelthistoriker John R. McNeill, dass zukünftige Darstellungen des 20. Jahrhunderts der Genese der Klimakatastrophe mehr Bedeutung einräumen werden als der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, des Kommunismus, der Massenalphabetisierung, der Verbreitung von Demokratie oder der Emanzipation der Frau.30 Demgegenüber bietet Hobsbawms Kapitel zum »Goldenen Zeitalter« ein Narrativ, in das alle diese Entwicklungen eingebettet sind.31 Damit geht Hobsbawm auch über die oben erwähnte, rein ideenhistorische Darstellung Pierre Charbonniers zur Geschichte von »Überfluss und Freiheit« hinaus.
Zweitens: Die historiographische Auseinandersetzung mit dem Anthropozän wirft die eingangs bereits genannten grundsätzlichen Schwierigkeiten auf. Auch wenn nicht alle Forscher:innen Libby Robin oder Dipesh Chakrabarty vollständig zustimmen,32 so wird doch deutlich, dass die angesprochenen Punkte durch die bislang verwendete Strategie der Multiperspektivität allein nicht zu lösen sind.33 Dies betrifft nicht nur die etablierten Epocheneinteilungen, sondern insbesondere die Problematik der unterschiedlichen Temporalitäten, die durch wechselnde Skalierung zwischen der Geschichte einer biologischer Spezies einerseits und (individuellen oder kollektiven) menschlichen Akteur:innen andererseits aufgerufen werden.34 Wie Sina Steglich vor kurzem überzeugend betont hat, gehören Überlegungen zur Skalierung ganz grundlegend zum historiographischen Handwerk – werden jedoch häufig nicht expliziert. Die Kunst des »Scharfstellen(können)s« besteht in der geschickten Kombination von räumlicher, zeitlicher und thematischer Distanz bzw. Nähe zum Untersuchungsgegenstand.35 Hobsbawm, mit seinem ausgeprägten Sinn für die Zeitlichkeit historischer Erfahrung und historischen Schreibens, bietet hier wertvolle Anregungen. Wie bereits erwähnt, sah er sich als Zeitgenosse vieler Ereignisse und Prozesse, die er in »Age of Extremes« beschrieb, in der Rolle des »participant observer«.36
Daran anschließend ist drittens festzuhalten: Die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Anthropozän geht notwendig mit dem Bewusstsein von der eigenen Positioniertheit einher. Wir alle sind auf die eine oder andere Weise involviert. Daraus resultiert nicht zwingend Aktivismus oder politische Parteinahme, aber doch die explizite Frage nach der jeweiligen Situation und Verantwortung. Wir sind, ganz im Sinne Hobsbawms, teilnehmende Beobachter:innen. Ein offener, reflexiver Umgang mit dem eigenen »Sehepunkt« fällt einer Zunft, die sich traditionell einem Objektivitätsanspruch verpflichtet sieht, der durch eine intellektuelle und sprachliche Distanzierung eingelöst werden soll, verständlicherweise schwer.37 Die zeitgenössische Rezeption von Hobsbawms »Age of Extremes« im Fach demonstriert jedoch, dass sich Historiker:innen gegenüber klar artikulierten Positionen zwar kritisch, aber grundsätzlich aufgeschlossen zeigen.38 Eine solche Selbstverständigung folgt umgekehrt den Forderungen nach einer kritischen Reflexion des immer häufiger als Schlagwort benutzten Begriffs »Anthropozän«.39 Welche ökonomischen, sozialen, politischen Ungleichheiten sind damit und dadurch entstanden? Wer sind die historischen Akteur:innen? Welche gesellschaftlichen Konflikte gingen mit der zunehmenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen einher? Derartige Fragen waren für Eric Hobsbawm beim Schreiben seines Buches »Age of Extremes« stets zentral. Sie werden die Geschichtswissenschaft im Zeitalter des Anthropozäns weiter begleiten.
Anmerkungen:
1 Libby Robin, Histories for Changing Times. Entering the Anthropocene?, in: Australian Historical Studies 44 (2013), S. 329-340, hier S. 329. Ich danke Karolin Wetjen und den Redaktionsmitgliedern der »Zeithistorischen Forschungen« für ihre genaue Lektüre, für weiterführende Anregungen und Diskussionen.
2 Dipesh Chakrabarty, The Climate of History in a Planetary Age, Chicago 2021, S. 23-48; Wiederveröffentlichung von: The Climate of History. Four Theses, in: Critical Inquiry 35 (2009), S. 197-222.
3 Nur die französische Ausgabe ließ auf sich warten. Vgl. Eric Hobsbawm, Age Of Extremes Defies French Censors, in: Le Monde diplomatique, December 1999.
4 Die Datierung des »Golden Age« ist innerhalb des Buches nicht einheitlich: 1947–1973 auf S. 8, 1950–1973 auf S. 258.
5 Für eine Zusammenfassung der Debatte siehe Ariane Tanner, Anthropozän, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 3.5.2022.
6 Will Steffen u.a., The Anthropocene. Conceptual and Historical Perspectives, in: Philosophical Transactions. Series A: Mathematical, Physical, and Engineering Sciences 369 (2011), S. 842-867, hier S. 849. Erst im März 2024 wurde ein Vorschlag, der den Beginn der neuen geochronologischen Phase im Jahr 1950 ansetzen sollte, von der International Commission on Stratigraphy als nicht eindeutig belegbar abgelehnt.
7 Steffen u.a., Anthropocene (Anm. 6), S. 850. In Reaktion auf Kritik: Will Steffen u.a., The Trajectory of the Anthropocene. The Great Acceleration, in: Anthropocene Review 2 (2015), S. 81-98. Siehe auch Christian Pfister/Peter Bär (Hg.), Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern 1995.
8 Pierre Charbonnier, Überfluss und Freiheit. Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger, Frankfurt a.M. 2022, S. 287-291, Zitat S. 289.
9 John R. McNeill, Something New Under the Sun. An Environmental History of the Twentieth-Century World, New York 2000.
10 Paul J. Crutzen/Eugene F. Stoermer, The »Anthropocene«, in: Global Change Newsletter International Geosphere-Biosphere Programme (IGBP) 41 (2000), S. 17-18.
11 Auch hierin wirkte Hobsbawms Werk wegweisend. Es inspirierte einen ganzen Forschungszweig zur Zeitgeschichte »nach dem Boom«. Siehe als Auftakt Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 559-581. Frank Bösch (Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019) nimmt die Zäsur am Ende des »Goldenen Zeitalters« zum Ausgangspunkt einer Neuorientierung der Zeitgeschichte insgesamt.
12 Richard J. Evans, Eric Hobsbawm. A Life in History, London 2019, S. vii.
13 Ausgewählte Nachrufe: David Blackbourn, Eric John Ernest Hobsbawm, 1917–2012, in: Central European History 46 (2013), S. 395-406; Roy Foster, Eric Hobsbawm, Obituary, in: Past & Present 218 (2013), S. 3-15; John Shepherd, Eric Hobsbawm, 1917–2012, in: Labour History 104 (2013), S. 221-224. Eine Presseschau zu seinem Todestag ist zu finden unter: Patrick Deinzer (Hg.), Presseartikel zum Tod von Eric Hobsbawm (Stand: 3.10.2012), in: Zeitgeschichte-online, Oktober 2012.
14 Über Hobsbawms Mitgliedschaft in der KP Großbritanniens ist viel geschrieben worden. Er selbst sprach von einer tiefen Verbundenheit mit den Idealen, die ihn seit seiner Jugend bewegt hätten: Antifaschismus und Weltrevolution (Eric Hobsbawm, Interesting Times. A Twentieth Century Life, London 2002, S. 55f., S. 216f.). Die deutsche Übersetzung von Hobsbawms Autobiographie (»Gefährliche Zeiten«, zuerst 2003) erschien 2019 zusammen mit dem »Zeitalter der Extreme« bei wbg Theiss (Darmstadt) als zweibändiges Werk unter dem Titel »Das kurze 20. Jahrhundert«. Parallel dazu gab es dort 2017/22 eine dreiteilige Sammlung der anderen »Age«-Bände unter dem Titel »Das lange 19. Jahrhundert«.
15 Hobsbawm, Interesting Times (Anm. 14), S. 219-223.
16 Ebd., S. 228-230.
17 Ebd., S. xiii.
18 Francis Fukuyama, The End of History?, in: National Interest 16 (1989), S. 3-18, hier S. 4. Er führte diese These dann in einer Monographie weiter aus (ders., The End of History and the Last Man, New York 1992).
19 Fukuyamas Buch wurde breit rezipiert. Siehe Jan Eckel, Nachdenken über das »Ende«. Übergänge und Nebeneinander in der Zeitdiagnostik um 1990, in: Christian Marx/Morten Reitmayer (Hg.), Die offene Moderne. Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Göttingen 2020, S. 386-413; Stefan Jordan, Francis Fukuyama und das »Ende der Geschichte«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 159-163. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Rezensionen der beiden Werke in vergleichender Perspektive findet sich bei Francesca Conterno, History, Politics, and Faith-Based Knowledge. Hobsbawm and Fukuyama take the 90s, in: Rethinking History 24 (2020), S. 291-309.
20 Evans, Eric Hobsbawm (Anm. 12), S. 562-566.
21 Ebd., S. 566.
22 Vgl. ebd., S. 566-569.
23 Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Climate Change: The 1990 and 1992 IPCC Assessments. IPCC First Assessment Report Overview and Policymaker Summaries and 1992 IPPC Supplement, URL: <https://www.ipcc.ch/report/climate-change-the-ipcc-1990-and-1992-assessments>.
24 Ausführlich zur Bewertung des Werkes in zeitgenössischen Rezensionen siehe: Evans, Eric Hobsbawm (Anm. 12), S. 570-576. Hervorgehoben seien hier noch: Francis Fukuyama, The Age of Extremes. A History of the World, 1914–1991 by Eric Hobsbawm, in: Foreign Affairs, 1.7.1995, und Edward Said, Contra Mundum, in: London Review of Books 17 (1995) H. 5. Für eine aktuelle Bewertung siehe Philippe Minard, 1994. The Age of Extremes. Hobsbawm Recounts the End of Nineteenth-Century Bourgeois Society, in: Cyril Lemieu u.a. (Hg.), A History of the Social Sciences in 101 Books, Cambridge, Mass. 2023, S. 228-230.
25 Paul Warde, Social and Environmental History in the Anthropocene, in: John H. Arnold/Matthew Hilton/Jan Rüger (Hg.), History after Hobsbawm. Writing the Past for the Twenty-First Century, Oxford 2018, S. 184-199, hier S. 185.
26 McKenzie Wark, Undeletable Text. Eric Hobsbawm, in: boundary 2 43 (2016) H. 2, S. 125-140, hier S. 139.
27 Giovanni Arrighi, The Long Twentieth Century. Money, Power and the Origins of our Times, London 1994.
28 Christopher A. Bayly, Remaking the Modern World 1900–2015. Global Connections and Comparisons, Chichester 2018. Zur Kritik an Baylys Darstellung: Sunil Amrith, The Anthropocene and the Triumph of the Imagination. An Environmental Perspective on C.A. Bayly’s Remaking the Modern World, 1900–2015, in: Journal of Asian Studies 78 (2019), S. 837-848.
29 Exemplarisch: Edgar Wolfrum/Cord Arendes, Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 210-231; John R. McNeill/Peter Engelke, Into the Anthropocene. People and Their Planet, in: Akira Iriye (Hg.), Global Interdependence. The World after 1945, Cambridge, Mass. 2014, S. 363-534.
30 McNeill, Something New Under the Sun (Anm. 9), S. 4.
31 Dazu auch: Vergangenheitsformen. Der Redaktionspodcast von H-Soz-Kult, Staffel 1 – Episode 10: Alte Bücher neu gelesen: Eric Hobsbawm – The Age of Extremes (Das Zeitalter der Extreme), 30.11.2023, sowie Heather E. McGregor/Jackson Pind/Sara Karn, A ›Wicked Problem‹. Rethinking History Education in the Anthropocene, in: Rethinking History 25 (2021), S. 483-507.
32 Siehe: A Symposium on Dipesh Chakrabarty’s The Climate of History in a Planetary Age, in: Review of Politics 84 (2022), S. 592-612.
33 Optimistischer: Andrea Westermann/Sabine Höhler, Writing History in the Anthropocene. Scaling, Accountability, and Accumulation, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), S. 579-605, hier S. 581.
34 Erik Isberg, Multiple Temporalities in a New Geological Age. Revisiting Reinhart Koselleck’s Zeitschichten, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), S. 729-735.
35 Sina Steglich, Maß nehmen als Maßnahme. Skalierung als Herausforderung der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 318 (2024), S. 263-289, Zitat S. 277.
36 Hobsbawm, Interesting Times (Anm. 14), S. xiii. Siehe auch ders., The Present as History. Writing the History of One’s Own Time, in: David Bates/Jennifer Wallis/Jane Winters (Hg.), The Creighton Century, 1907–2007, London 2020, S. 269-285, sowie Anna Grear, ›Anthropocene »Time«?‹ – A Reflection on Temporalities in the ›New Age of the Human‹, in: Andreas Philippopoulos-Mihalopoulos (Hg.), Routledge Handbook of Law and Theory, London 2019, S. 297-315, hier S. 305.
37 Steglich, Maß nehmen als Maßnahme (Anm. 35), S. 278.
38 Conterno, History, Politics, and Faith-Based Knowledge (Anm. 19), S. 302.
39 Christoph Görg, Anthropozän, in: Sybille Bauriedl (Hg.), Wörterbuch Klimadebatte, Bielefeld 2015, S. 29-35. Siehe auch Kathryn Yusoff, A Billion Black Anthropocenes or None, Minneapolis 2018; Milo Probst, Mit Klassenkämpfen ins Anthropozän. Naturverhältnisse im französischsprachigen Anarchismus, circa 1870–1914, in: Geschichte und Gesellschaft 46 (2020), S. 606-633; Malcom Ferdinand, Decolonial Ecology. Thinking from the Caribbean World, Cambridge 2022. Kurz vor Drucklegung dieses Textes ist eine thematisch einschlägige Monographie erschienen, die hier leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Sandra Maß, Zukünftige Vergangenheiten. Geschichte schreiben im Anthropozän, Göttingen 2024.
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