Sprachkritik und Autobiographie

Über Victor Klemperers »LTI. Notizbuch eines Philologen« (1947)

  1. Zwei Sprachkorruptionen – eine Erfahrung
  2. Ein Text – zwei Genres
  3. Eine Publikation – drei Vorgeschichten

Anmerkungen

Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin: Aufbau 1947, 2. Aufl. 1949 (zensierte DDR-Ausgabe ohne das Kapitel »Zion«); 3. Aufl. Halle a.d.S.: Max Niemeyer 1957 (wieder mit dem »Zion«-Kapitel; Cover links); Leipzig: Philipp Reclam jun. 1966 (Reclams Universal-Bibliothek Bd. 278), 2. Aufl. 1968; Darmstadt: Melzer 1966; Tb.-Ausg.: München: dtv 1969 (mittleres Cover); 24., völlig neu bearbeitete Auflage. Nach der Ausgabe letzter Hand hg. und kommentiert von Elke Fröhlich, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2010 (rechtes Cover). Die Seitenzahlen der Zitate im Text folgen der letztgenannten Ausgabe.
Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin: Aufbau 1947,
2. Aufl. 1949 (zensierte DDR-Ausgabe ohne das Kapitel »Zion«);
3. Aufl. Halle a.d.S.: Max Niemeyer 1957
(wieder mit dem »Zion«-Kapitel; Cover links);
Leipzig: Philipp Reclam jun. 1966
(Reclams Universal-Bibliothek Bd. 278), 2. Aufl. 1968;
Darmstadt: Melzer 1966; Tb.-Ausg.: München: dtv 1969 (mittleres Cover);
24., völlig neu bearbeitete Auflage. Nach der Ausgabe letzter Hand
hg. und kommentiert von Elke Fröhlich,
Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2010 (rechtes Cover).
Die Seitenzahlen der Zitate im Text folgen der letztgenannten Ausgabe.

Victor Klemperers Schrift »LTI. Notizbuch eines Philologen« wurde bereits in der Erstauflage zu 10.000 Exemplaren gedruckt, aber sie wurde nicht gleich zu dem Erfolg, den sich ihr Autor erhofft hatte. An Silvester 1947, nachdem ihm der Verlag das Geschenk eines eigens für ihn gebundenen Exemplars des ansonsten kartonierten Werks zugeschickt hatte, notierte er bedrückt in sein Tagebuch: »In diesem schönen Band […] tritt die Jämmerlichkeit des Papiers u. des Druckes noch krasser hervor. Im übrigen ist es ganz still von der LTI. Wo sind die 10.000 Exemplare? In keiner Buchhandlung, in keiner Redaktion. Keine Zeitung hat davon Notiz genommen.«1 Heute ist diese früh geäußerte Enttäuschung zu einer Fußnote geworden, denn das Buch gehört längst zu den Klassikern der Sprachkritik, liegt in sechsstelliger Auflagenhöhe und in vielen Übersetzungen vor.2 Das Nachdenken über die linguistische Korruption der modernen öffentlich-politischen Rede wurde durch wenige Werke so sehr angeregt wie durch dieses. LTI wurde dabei einerseits als »bedeutendes zeithistorisches Dokument«3 für die Ära des »Dritten Reiches« betrachtet, andererseits als »Wissensspeicher«4 für die Analyse der Funktionsweise einer Diktatur im Allgemeinen interpretiert. Beide Lesarten finden im Buch ihre Belege. Der ironische Latinismus »LTI« (für »Lingua Tertii Imperii«, »Sprache des Dritten Reiches«) war Kommentar und Deckkürzel zugleich; er persiflierte die nazistische Sucht nach Abkürzungen; und er war auch die »Geheimformel« (S. 20) in Klemperers Tagebuch der Jahre 1933–1945, mit der er seine Sprachbeobachtungen markierte. Ob nun mit dem Akzent auf die Zeugenschaft des Autors oder mit dem Blick auf die analytischen Angebote des Buches: Es ist in keiner dieser Perspektiven eine vergessene Schrift, sondern ein kanonisch gewordenes Werk, das im doppelten Wortsinne Geschichte geschrieben hat.

1. Zwei Sprachkorruptionen – eine Erfahrung

Beim Wiederlesen von LTI und den Forschungen zum Buch fällt auf, dass die beiden Lesarten als Zeugnisschrift und als linguistische Analyse der Diktatur häufig separiert voneinander stattfinden. Letztere wird außerdem in oft zitierten Passagen zum Thema, wohingegen der Zeugnischarakter von LTI eher auf selten beachtete Abschnitte hinweist.

Zu den immer wieder aufgerufenen Einsichten dieser Schrift zählen die Ausführungen zum Militarismus und Superlativismus des NS-Sprachstils, zum »Prahlerischen« (S. 15) von Staat und Partei, das auch den von Klemperer kritisierten »Zahlenmißbrauch« (S. 88, ähnlich S. 295) umfasst, eine zur Methode gewordene Wichtigtuerei der ständigen Überbietung eigener Aussagen. Immer wieder geht der Autor gegen die rhetorische Heldenpose an (S. 9-17 u.ö.) und gegen die Tatsache, dass alles Gesagte und Geschriebene in diesem Idiom »historische Bedeutung« (S. 57) für sich reklamierte und nicht mehr »in Zivil«, sondern immer »in Uniform« erschien (S. 11), denn alles sollte aus »Kampf« und »Sieg« resultieren. Dem entsprach der Befund Klemperers, dass Körperkult und »Gladiatorentum« (S. 261) im Staat Hitlers die höchste Verehrung erfuhren, Denken und Intellekt dagegen mit Hass betrachtet wurden, ja Logik und Vernunft dem Regime als »tödlichste Feinde« galten (S. 11, S. 164).

Oft zitiert wird auch das 21. Kapitel, in dem der Autor über die Entstehung der nazistischen Weltanschauung reflektiert und nach dem Einfluss fragt, den der romantische Irrationalismus auf die Nazi-Ideologie gehabt hatte. Bekannt wurden zudem die von Klemperer dekonstruierten Gefühls-Manipulationen öffentlicher Appelle, die durch kleine Wörter wie »fanatisch« (Kap. 9 u.ö.), »total« (S. 13) oder »totalitär« (S. 116, S. 289) erfolgten – Adjektive, die seit 1933 allesamt positiv verwendet wurden. Zur lexikalischen Umkodierung von Staat, Gesellschaft und Kultur gehörte seinerzeit auch die moralisch hinterhältige Bezeichnung »charakterlich« (S. 25), ein Wort, mit dem der Einzelne nicht mehr als Individuum, sondern allein am Maßstab der »Volksgemeinschaft« bewertet wurde. Exemplarisch für die NS-Weltanschauung stand nicht zuletzt das rabiate Wort »Gleichschaltung« (S. 176f.); es war der Fachsprache der Elektrotechnik entnommen und erschien schon Klemperer selbst und später dann vielen seiner Leser:innen als Symbolbegriff jener Jahre schlechthin.

Alle diese Beobachtungen gehören zu den immer wieder aufgerufenen Einsichten, für die LTI bis heute eine der wichtigsten Referenzen darstellt. Auch die von Klemperer mehrfach als Charakteristikum der Nazisprache bezeichnete Wiederholung von Phrasen, das »Einhämmern des immer Gleichen« (S. 295; ähnlich S. 25), oder die von ihm mit Abscheu analysierte forcierte »Evangeliensprache« (S. 298) mit ihrer pseudoreligiösen Überhöhung des »Führers« und ihren Unterwerfungsgesten der sakralen Verzückung, die sich in Vokabeln wie »ewig«, »Erlösung«, »Vorsehung« oder »Märtyrer« erging – auch diese Zusammenhänge gehören seit Klemperer zum festen Bestand der Kritik des NS-Idioms.

Dem stehen Partien gegenüber, die man seltener zitiert findet, zum Beispiel das Interesse Klemperers an der »Phantasie der Allgemeinheit« (S. 145), den modernen Mythen, die im »Dritten Reich« eine Blüte erfuhren. Klemperers soziologische Intuition lenkte seinen Blick auf die populäre Gier nach Legenden und Fabeln, auf den Volksglauben und auf das mit Inbrunst weitergetragene, unbestätigte Gerücht (S. 76-79). Dieses Phänomen erhielt im geschürten Verdacht gegen Juden und Judentum seine idealtypische Ausprägung, weshalb Klemperer hier besonders hellhörig war. Auch den im Buch immer wieder angesprochenen höhnischen Ton in Reden von Hitler, Goebbels und anderen Nazis finden wir in der Rezeption seltener erwähnt. Dabei war gerade die Inflation von »ironischen Anführungszeichen« (so der treffende Ausdruck Klemperers, S. 86 u.ö.), das Sprechen oder Schreiben im Tonfall des Uneigentlichen, ein Merkmal der offiziellen Sprache zwischen 1933 und 1945. Es mag verwundern, dass Klemperer die Destruktivität des Antisemitismus nicht an den Schmähvokabeln und Beschimpfungen illustriert (diese erwähnt er wie beiläufig ebenfalls, z.B. S. 194), sondern im Kapitel »Interpunktion« einführt (S. 86-88). Die Sprache des Judenhasses, von der Klemperer in LTI sagt, dass sie dem Geist der Zeit ihr Gift eingeflößt habe (S. 155), wird weniger an ihrem vulgären Vokabular vorgeführt, sondern mehr am Lautwert ihrer Häme, am gehässigen Ton der Stimme (S. 66, S. 196). Für Klemperer stellen die Anführungszeichen um den Begriff »Humanität« den ideellen Tiefpunkt der deutschen Sprachkorruption dar, weil hier die höhnische Abkehr von den Werten der Aufklärung und der amtliche wie populäre Hass auf Judentum und Juden zusammentreffen (S. 161). Auch Satzzeichen können nazistisch sein, so lernen wir in diesem Buch, denn in ihnen spiegelt sich das Ganze: Dieser Diktion war Neutralität per se »zuwider«, so Klemperers kluges Urteil, weshalb sie sie denunziert, wo immer es möglich war, »weil sie immer einen Gegner haben, immer den Gegner herabzerren muß« (S. 87).

Auch dass Klemperer die LTI an einer Stelle »Gefängnissprache« nennt (S. 98), die die Sprechergemeinschaft in die zwei Gruppen der Wächter und der Gefangenen teilt, wird selten aufgezählt, wenn von Charakteristika des Jargons jener Jahre die Rede ist. Dabei verweist der Gedanke auf eine zentrale Erfahrung jüdischer Deutscher, die sich im neuen Regelwerk der Propaganda und im Thesaurus der öffentlichen Schmähungen geradezu eingesperrt wiederfanden. Diese Sprache glich – lange vor Ghettoisierungen und Deportationen – in einem ganz wörtlichen Sinne einer Enteignung von Privat- und Freiheitsräumen. Sowohl das giftige judenfeindliche Agitationsvokabular als auch der kalte, juristisch verordnete Hass zogen mit Begriffen der Ausgrenzung und Sprachgesten der Gewalt den kollektiven jüdischen Raum seit 1933 von Woche zu Woche enger.5

Zugespitzt formuliert sortiert die Rezeptionsgeschichte das Buch in zwei sprachpolitische Themenfelder, die beide von Klemperer entfaltet werden. Die Mehrzahl der LTI-Lektüren richtet den Blick vor allem auf den »totalitären Stil« (S. 289), auf die propagandistische Seite der Diktatur, auf die Rhetorik des Einverständnisses zwischen Herrschaft und »Gefolgschaft« (S. 265-275) bzw. auf die staatlichen Drohgebärden, wo dieser Konsens verweigert wird.6 Dahinter wird ein zweites Themenfeld sichtbar, das die jüdische Erfahrung ins Zentrum rückt, das Sprachregister einer ständigen Verleumdung in Presse und Rundfunk sowie das Amtsdeutsch antijüdischer Verordnungen, vor allem derjenigen vom September 1941, mit der Jüdinnen und Juden in Deutschland zum Tragen eines auf ihrer Kleidung aufgenähten gelben Sterns verpflichtet wurden, jener juristisch drapierte beispiellose semiotische Akt der Auslieferung an den Mob (S. 188-193). Der gesamten Nazisprache war der Antisemitismus inhärent; er wurde nicht nur in den Injurien von Goebbels und Streicher verbreitet, sondern auch im plötzlichen »Du« zur Qual, mit dem Klemperer als »Besternter« oder »Sternträger« – so nannte er seine Schicksalsgefährten und sich selbst – nun von wildfremden Menschen in Straßenbahnen oder Geschäften angepöbelt wurde; ein vermeintlich kleiner Wechsel im Sprachregister, der wie ein »Schlag ins Gesicht« wirkte (S. 213).

Die Sprache des Antisemitismus (sowohl diejenige Hitlers als auch diejenige der vox populi) wird von Klemperer dabei wie ein Unterpunkt des neuen Diktaturdeutsch festgehalten. Gerade Wörter, die sein Leben am stärksten veränderten und ihn als Person negierten, stehen in LTI nicht im Vordergrund – als ob der Autor die Herrschaftssprache des Staates und die Schmähung der Juden proportional auszubalancieren versucht. Für beide Sprachregister hat er Expertise, für beide ist er auch Zeitzeuge und philologisch versierter Sprachbeobachter. Das eine betrachtet er aber wie von außen, das andere beschreibt er als Eingriff in sein Inneres. So wirkt es für heutige Leser:innen, als enthielte dieses Buch nicht nur eine, sondern zwei Sprachkorruptionen: eine allgemeine, die alle Menschen unter der Herrschaft der Diktatur betraf, und eine spezifische, die das Leben der jüdischen Deutschen bedrohte, weil sie von ihnen nicht nur Unterwerfung verlangte, sondern ihnen »das Ich zertreten« wollte, wie es der polnisch-jüdische Dichter Salmen Gradowski in seinen Auschwitz-Aufzeichnungen in Worte fasste, die er im Lager vergraben hatte und die später wiedergefunden wurden.7

2. Ein Text – zwei Genres

Es ist also nicht allein der Rezeption geschuldet, dass beide Themen oder Ebenen dieses Werks sich mitunter fast voneinander lösen oder gar gegenseitig im Weg zu stehen scheinen; es liegt auch am gemischten Ton, an der besonderen Komposition und Erzählhaltung von LTI. Kristine Fischer-Hupe hat diese Mischung paradox und treffend das »Bescheiden-Selbstbewußte« des Buches genannt.8 Im Text von LTI ringen tatsächlich zwei Genres miteinander, das der Autobiographie und das einer philologisch-sprachkritischen Studie. Es überrascht nicht, wenn wir den Tagebüchern Klemperers – schon denen aus der Spätzeit der Diktatur, vor allem aber den Aufzeichnungen von 1945 bis 1947 (den Jahren, in denen LTI entstand) – entnehmen, wie sehr ihn die Suche nach Form, Stil und Ton dieses Buches beschäftigte. Anfang Juli 1945 (und später auch in LTI, S. 318) notierte er lakonisch eine persönliche Sensation in sein Tagebuch: »Gestern Nachm[ittag]. kamen die überlebenden Sachen aus Pirna. Sie haben ihre besonderen Engel gehabt.«9 Klemperers Blick in den Koffer erkennt »unglaubliche Schätze«.10 Gemeint sind nicht nur »Wollsachen, Wäsche, Tischtücher, Kunstarbeiten Evas«;11 unter den »überlebenden Sachen«, wie sie hier euphorisch genannt werden, sind auch die Tagebuchmanuskripte der vergangenen zwölf Jahre. »Welche Unsumme von Arbeit!« ruft derjenige aus, der sie zuvor verfasst hat und der sie nun, »zugleich bedrückt und glücklich«,12 nach den Kriegswirren wieder in seinen Händen hält.

Für die folgenden Monate haben wir Klemperer gleichsam zweifach vor uns, als Text und als Leser, weil er über seine eigene Tagebuchlektüre wiederum detailliert Tagebuch führt: Er liest »den allergrößten Teil des Tages«13 die eigenen Aufzeichnungen aus der Nazizeit; über Wochen »zugriffslos«,14 wie er schreibt, aber schon bald erkennt er in dem »ungeheuren Material«15 die Linien und Muster der häufig wiederkehrenden Themen. Es sind vor allem zwei künftig zu schreibende Bücher, für die er seinerzeit, in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren, seine Ideenarbeit festhielt – für beide sollte das Tagebuch nur die Vorarbeit sein.

Erstens ging es um die Fortsetzung der Autobiographie; Klemperer bezeichnet sie analog zum Latinismus von »Lingua Tertii Imperii« als »Curriculum Vitae«, »Cur.« oder abgekürzt »C.V.«. Nach der Vertreibung von seinem Lehrstuhl 1934 und dem Verbot, Bibliotheken zu betreten, hatte er in der leeren Zeit der Vereinsamung ein getipptes Manuskript fertiggestellt, in dem er seine Kindheit und Schulzeit, Lehre, sein Studium und die frühe Berufstätigkeit als Journalist und Schriftsteller bis zum Militärdienst im Ersten Weltkrieg darstellte.16 Nun wollte Klemperer seine Vita für die Weimarer Jahre als Professor für Romanistik an der TU Dresden fortführen und dann die Vertreibung aus seiner Position nach 1933 und alles, was an Schrecknissen folgte, erzählen. Für diese Lebensbeschreibung schwebten Klemperer Teile oder Bände vor, die identisch mit den Geschichtsepochen waren, die er mit wachem politischem Bewusstsein verfolgt hatte, also Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimar und NS-Zeit.

Das zweite Vorhaben, das in den Tagebüchern detailliert vorbereitet wurde, war eben eine philologische Studie über die Sprache des »Dritten Reiches«, deren Entstehung, Verbreitung und Eigenlogik Klemperer anhand zahlloser Beispiele im Tagebuch stets unter dem Kürzel »LTI« erkundete. Vor allem dieses Projekt war für ihn im Sommer 1945 relevant geblieben, denn die nationalsozialistische Sprache wirkte auch nach dem 8. Mai 1945 fort, wie er rasch feststellte. Die Deutschen nannten die Weimarer Jahre weiter »Systemzeit«;17 sie benutzten immer noch Ausdrücke wie »fanatisch« und »kämpferisch« als positive Vokabeln,18 gebrauchten wie zuvor »charaktermäßig«, »aufziehen« oder »Einsatzwilligkeit«,19 und sie pflegten weiterhin den schwülstigen allegorisierenden Singular »der deutsche Mensch«.20 Auch das destruktive Register der judenfeindlichen Sprache war nicht verstummt, im Gegenteil. Die im Sprachverfall unter Hitler und Goebbels generell sichtbar gewordene »Degradierung der Vernunft«,21 die für Klemperer Ursache und Kern der LTI darstellte, war keineswegs vorbei. Geradezu wütend notierte Klemperer, auf den die fortdauernden Schlagworte gefährlich »wie Leichengift« wirkten,22 die Überzeugung: »Man sollte ein antifaschistisches Sprachamt einsetzen.«23 Und als ob er diesem vorarbeiten wollte, begann er neben der Lektüre der eigenen Tagebücher damit, neues Material und aussagekräftige Quellen zur nazistischen Sprachbeeinflussung zu sammeln: Romane und Sachbücher aus der NS-Zeit, ein Schulwandkalender von 1938 (»eine Herrlichkeit für meine LTI«24), auch Behördenschreiben, sowie Schriften und Reden der Nazi-Prominenz und vieles mehr. Klemperer empörte sich sogar über einen alliierten Erlass, alle NS-Schriften binnen kurzer Frist abzuliefern, denn er argumentierte aufgebracht, sie »zu wissenschaftl[ichem] Zweck«25 zu benötigen, und betrachtete ihre Kassierung gerade nicht als Teil des historischen Fortschritts, sondern als Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit.

Die desillusionierende Beobachtung über das Fortleben des faschistischen Jargons nach dem Ende seiner Herrschaft, die Tagebuch-Lektüre der Jahre 1933 bis 1945 und das systematische Studium von Quellenmaterial aus der NS-Zeit brachten für Klemperer aber keinen Aufschluss über den einzuschlagenden Weg: »Ich finde keinen Zugriff, keine Lösung der Schwierigkeiten. Was ist zu intim? Was zu allgemein? Wo soll man LTI und Vita trennen? Wen soll man bei seinem Namen nennen? Wie soll ich das Geschriebene commentieren? Wieweit von der Tgb.-Form abgehen??«26 Die Literaturwissenschaftler:innen Arvi Sepp und Jenny Willner haben auf die Doppelungseffekte und Echobildungen in Klemperers Verfahren der »zeitgleichen Selbstverschriftlichung« hingewiesen und festgestellt, dass LTI auf zweifache Weise philologisch ist: in der Zielsetzung, weil das Buch Sprache zum Thema macht, aber auch in der Entstehung, weil es sich einem konkreten Prozess der Philologie verdankt und sich »zu den Notizen aus dem Zeitraum 1933–45«, so Willner, »wie ein Sekundärtext zum Primärtext verhält«. Der Erzähler in LTI war »zugleich der Leser der Notizbücher jenes erzählten Ich, das mitten in Dresden als Opfer der antisemitischen Politik über die Sprache des NS schreibt«.27

Mehrere Male stand Klemperer im Sommer 1945 kurz davor, die Lektüre des eigenen Tagebuches abzubrechen,28 denn das Auseinanderdividieren des dort in einem so eng verflochtenen Zusammenhang stehenden Stoffes erschien ihm im Rückblick unmöglich. Wie »Curriculum« und »LTI« auf zwei Buchvorhaben verteilt werden könnten, wurde für ihn immer unklarer, und Klemperer wurde von »Widerwillen« über das Sprachthema insgesamt erfasst. Er fühle sich »vom Hitlerismus überfüttert«, hält er im Tagebuch fest, und so entschließt er sich, »weitere Studien hierzu (wie ich das ursprünglich geplant) nicht mehr zu treiben. Ich werde aus dem vorhandenen Material das ›Notizbuch des Philologen‹ machen, entweder als selbständiges kleines Buch oder vermischt mit dem Cur[riculum] dieser Epoche […].«29 Ende Juli 1945 taucht also der Untertitel von LTI bereits als eine Art Stabilisierung der eigenen Methode im Tagebuch auf. Er war eine Kompromissformel der widerstreitenden Ansprüche, denn Klemperer konnte die Sprachbeobachtungen und seine Erinnerungen an das eigene Leben als Jude im Staat Hitlers ex post nicht mehr trennen.

Dass Sprachthema und Autobiographie sich gegenseitig enthalten, sozusagen eins geworden waren, zeigt sich bei der Lektüre seiner Tagebücher aus dem »Dritten Reich« durchgehend. Im Tagebuch vom November 1942 heißt es bereits Jahre bevor Klemperer dann wirklich mit der Arbeit begann: »Wenn es mir nicht gelingt, […] LTI als Sonderwerk auszuarbeiten, dann veröffentliche ich die (natürlich gefeilte und geordnete) Gesamtheit meiner Tagebücher seit 33. Eben den antizipierten 4. Band meines Curriculums (I ist ganz fertig, II in wenigen Wochen fertigzu­stellen, III. Dresdner Professur 1920–1933, müßte warten). Dieser Gedanke ist mir schon wiederholt gekommen; neu war heute daran, daß ich diesem 4. Band des Curriculums den Titel ›Die Sprache des 3. Reichs‹ summo jure geben könnte. Denn 1) würde er all mein philologisches LTI-Material bringen und 2) würden ja doch alle mitgeteilten Fakten die Sprache des 3. Reichs sprechen […] – und 3) spräche aus der ganzen Umkehr oder Skepsis oder Brüchigkeit meiner Grundidee seit 1933 die Erschütterung durch das 3. Reich.«30 Hätte sich Klemperer also dafür entschieden, seine Autobiographie fortzuschreiben (was er nicht tat), dann hätte der Band über die NS-Zeit nach dem Zeugnis dieses Eintrags ebenfalls den Titel »LTI – Die Sprache des Dritten Reiches« erhalten.

Klemperer fragt mithin nicht nur für, sondern auch in LTI nach der literarisch-publizistischen Form, die er dem Text geben soll: Soll er seine Sprachbeobachtungen der Öffentlichkeit als authentisches historisches Dokument vorlegen? Oder soll er das eigene Tagebuch nur als Quelle verwenden, als einen Steinbruch, um als Fachautorität für Sprachwissenschaft eine philologisch-analytische Studie zu schreiben? Erhalten die Befunde ihre Beglaubigung und Geltung durch seine Zeugenschaft? Oder erst durch die Erkenntnisarbeit des Linguisten? Während also der Titel der Schrift für die eine wie für die andere Option das Thema – den Furor der NS-Sprache – fixiert, hält der Untertitel die Spannung der Fragen nach Anspruch und Status des Geschriebenen in der Schwebe.

LTI ist durch seine Teilhabe an unterschiedlichen Genres tatsächlich ungemein vielgestaltig geworden. Das Buch enthält stichomythische Pro- und Contra-Dialoge, Reflexionen über das eigene Tagebuch und längere Zitate aus diesem, Anekdoten, politische Witze, pädagogische Unterweisungen und Ansprachen an die Jugend, eine originelle Analyse von Geburts- und Todesanzeigen, Reflexionen über die Mode germanophiler Namen, dann wieder eine kapitellange Abhandlung über das Boxen als Metaphern-Spender sowie geistesgeschichtliche Kollegstunden über die falsch verstandene politische Romantik, die als Warnung vor einem antirationalistischen »Teutschtum« angelegt ist. Es gibt Analysen von heute vergessenen Romanen, dann wieder Erzählungen über die Schicksale von Bekannten oder Verwandten Klemperers (Einzelpersonen stehen dabei oft für einen Typus des Alltagsverhaltens, mitunter repräsentieren sie aber auch eine innere Stimme des Autors), und natürlich philologische und linguistische Betrachtungen über Silben, Einzelwörter oder Wortgruppen, Stil­fragen oder die rasante Ausweitung gruppensprachlicher Spezialwörter in die Allgemeinsprache. Auffällig oft verwendet Klemperer ein komparatives Erzählschema: Es gibt Sprachvergleiche zwischen dem aufklärerischen Frankreich des 18. Jahrhunderts und der politischen Gegenwart oder zwischen Mussolinis Italien und Hitlers Deutschland, zwischen der technikbegeisterten Sprache der Weimarer Republik und ihrer verhärteten »Mechanisierung« in den NS-Jahren, auch zwischen den modernen Spracheigenheiten Amerikas und der Sowjetunion im Kontrast zum »Dritten Reich«, sowie einen schon in der Rezeption der Erstausgabe umstrittenen Vergleich zwischen nationalsozialistischem und zionistischem Volksbegriff.31

Immer wieder streut Klemperer persönliche Erinnerungen und Alltagsbeobachtungen ein, berichtet von erschütternden Gesprächen aus den sogenannten »Judenhäusern« und von Erlebnissen auf der Straße oder in Geschäften. Bemerkenswert erscheint aus heutiger Sicht, dass er im breiten Spektrum dieser Befunde und Beispiele den Epochenbegriffen »Endlösung« (S. 193), »entjuden« und »arisieren« (S. 289) oder »Sonderbehandlung« (das nicht vorkommt) kein Kapitel oder zumindest eine längere Passage im Buch widmet, sondern sie nur beiläufig erwähnt. Klemperer war im Widerstreit der Formgebung des Stoffes offensichtlich davon überzeugt, dass er eine Balance zwischen jüdischen und allgemeinen Themen zu wahren habe – und gerade diese Begriffe hätten, ausgeführt, die Tektonik des Buches verändert. Stattdessen formulierte er den Anspruch, proportional angemessen zu schreiben – was er stolz in die Sentenz fasste, er habe in dem Buch »nichts Persönliches gebracht, das nicht allgemeine Bedeutung hätte«.32

3. Eine Publikation – drei Vorgeschichten

Das zweifach Philologische aus Sprachthema einerseits und Arbeitsprozess andererseits kann noch auf eine zusätzliche Weise gedeutet werden: Im Verfahren, Philologie und Autobiographie zu amalgamieren, gewann Klemperer die Sprache, die ihn zuvor negativ definiert hatte, als Positivum zurück. Das Thema war nur dann in der so grundstürzenden Zerstörung der Wirklichkeit zu beschreiben, wenn gezeigt werden konnte, wie die neue nazistische Sprache Einfluss auf Denken und Handeln der Menschen nahm, wie sie ihn und alle deutschen Juden »hatte« – und dieses »haben« ist in der übelsten Bedeutung des Wortes zu verstehen. Klemperers LTI ist der Versuch, sich der lebensbedrohenden Zudringlichkeit von »Schlagworten«, der Sprachgewalt als solcher, mit Hilfe der Philologie, mit seinem eigenen Sprachethos, zu widersetzen.

Der Autor stellt sein eigenes Credo als ein Motto voran: Der von Franz Rosenzweig geborgte Satz »Sprache ist mehr als Blut« (S. 8) ist das Wappenzeichen seiner lebenslangen Überzeugung. LTI setzt dann mit der Widmung an seine Ehefrau Eva ein, die nicht nur einen Dank ausspricht, sondern auch methodisch markiert, dass es zwei diametrale philologische Verfahren sind, die im Buch für die Zeit vor und nach der Zäsur von 1933 zum Thema werden. Die Widmung ist in der Ansprache persönlich, ja privat; im vertraulichen Du, das die Sprache eines intimen Briefes nutzt, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt zu sein scheint, wird eine gültige Unterscheidung eingeführt, nämlich diejenige zwischen den »friedlichen Zeiten«, in denen »wir«, so Klemperer mit Bezug auf das Paar und die Jahre vor 1933, »Philologie trieben« (S. 7), und den Folgejahren, in denen die Sprache, die das Thema von LTI ist, zur todbringenden politischen Macht mutierte. Damit begann eine Zeit, in der sich Jüdinnen und Juden selbst als »Text« ausgeliefert sahen, den andere kommentierten, redigierten, in Anführungen oder Klammern setzten oder gar durchstrichen. Diese völlige Umkehrung aller Werte war zunächst zu verstehen (Tagebuch) und dann für die Allgemeinheit zu beschreiben (LTI). Sie war zweimal sichtbar zu machen – einmal musste Klemperer sie in ihrer Entstehung als Sündenfall zeigen (Philologie); sodann war sie mit der eigenen Sprache wieder zurück vom Kopf auf die Füße zu stellen (Autobiographie). Dass mit LTI beides in einem Buch gelang, bleibt wohl der entscheidende Grund dafür, dass das Werk eine Geltung erlangt hat, die die Zeiten überdauert.

Auch von hierher speist sich also der Erfahrungston von LTI, in der Klemperers Ich dem zuvor verteidigten deutschen Wir immer mehr abhandenkommt und immer jüdischer wird. Klemperer fasst Sprache nicht als einen Gegenstand oder Lernstoff, sondern als sein Lebensthema, als die Grundfrage eines in Deutschland geborenen Rabbinersohns: Wie kann Zugehörigkeit zu einem Wir durch die Sprache gefunden werden und gelingen? Diese Frage reflektierte Klemperer nicht nur im »Dritten Reich«, sondern zeitlebens, über alle politischen Epochenbrüche hinweg.

LTI kann somit auch als Ergebnis einer dramatischen Selbstverwandlung des Beobachters gelesen werden, die in den Tagebuchaufzeichnungen, auf denen es basiert, kein Randthema darstellt, sondern im Zentrum steht.33 In LTI wird dagegen die von Klemperer über Jahrzehnte vorgenommene Selbstbefragung nach dem Verhältnis von Ich und Wir nicht mehr an die Oberfläche des Textes geholt. Hier heißt es im Abschlusskapitel, das mit Understatement »Ein Nachwort« betitelt ist, über die Hitlerjahre lediglich, diese Zeit habe ihn »in mancherlei Hinsicht umgeschaffen« (S. 318). Die dominierende Frage der Tagebücher nach der Anerkennung als jüdischer Deutscher oder als deutscher Jude wird vom Autor in LTI durch den Wunsch, seine vormalige Position als Hochschullehrer wiedergewinnen zu wollen, und durch seine Entscheidung, dafür auch der KPD beizutreten, nach außen hin historisch hinfällig gemacht. Als Lebensthemen aber bleiben Sprache und Sprachwandel für ihn nicht nur beruflich zentral, sondern auch biographisch; das zeigen seine Tagebücher aus der DDR ebenso wie die drei Vorgeschichten von LTI, in denen verschiedene Zeiten und Geschichtskräfte erkennbar werden, die alle auf Inhalt und Form des Buches bleibend eingewirkt haben.

Die erste Vorgeschichte umfasst die Schreibzeit, die 18 Monate, in denen Klemperer LTI zu Papier bringt, in denen er einzelne Kapitel sowohl mündlich (in Vorträgen) als auch schriftlich (in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln) erprobt, die Teile arrangiert, redigiert und schließlich dem Aufbau-Verlag zur Veröffentlichung übergibt. Ihr Beginn liegt im Juli 1945 beim Lesen der eigenen Tagebücher und dem Entschluss, die zuvor so oft in Gedanken geplante Studie über die Charakteristika des nazistischen Deutsch wirklich zu schreiben; und sie reicht bis zu ihrem Erscheinen im September 1947, als das Buch gedruckt vor ihm liegt und eine neue Phase beginnt, seine Nachgeschichte, die verzögert einsetzende, bald fulminante Rezeption des Werks im Kalten Krieg und seither.34

Klemperers Hadern und Zweifeln ziehen sich dabei durch die gesamten eineinhalb Jahre, die er für das Buch aufwendet. Ende 1946, als er dem Verlag das Manuskript einreicht, stellt der 65-jährige fest, er wisse eigentlich selbst nicht, »wie ich das Buch bewerten soll«, einiges sei »sehr gut, anderes fraglich«. Vielleicht gehe es »unter 1000 ähnlichen unter, vielleicht wird es ein Erfolg«. Es sei »[d]as schwierigste Buch meines Lebens« gewesen.35 In dieser Einschätzung wird deutlich, dass es nicht allein Thema und Formgebung von LTI waren, die das Werk für den Verfasser schwer gemacht hatten. Die erste Vorgeschichte beschreibt neben dieser Mühe, den Erzählton und die Haltung zu finden, die er seinem Lesepublikum gegenüber einnehmen wollte, auch die Kosten eines erneuten Abgleichs der eigenen Weltsicht mit der politischen Situation unter sowjetischer Besatzung, ein in das Buch eingegangenes volkspädagogisches Element, das den neuerlich politisierten, nun sozialistisch-kommunistischen Raum, in dem Klemperer sein Buch schrieb und publizierte, präsent hielt und einigen Stellen sogar forciert herausstellte, vor allem im Kapitel »Wenn zwei dasselbe tun« (S. 160-179).36

Die zweite Vorgeschichte von LTI, die eigentliche intellektuelle Entstehungszeit, ist die Zeit des »Dritten Reiches«, in der Klemperer so unmittelbar der neuen Sprache der Machthaber ausgesetzt war, dass er die ihn peinigenden Wortzumutungen in seine Tagebuchreflexionen aufnahm. Die »giftigsten«37 LTI-Worte und -Schemen der Staatsdoktrin, allen voran die feindselige Gegenüberstellung von »deutsch« und »jüdisch« als eine unveränderbare und unvereinbare Antinomie, drangen überall ein, auch in Bereiche jenseits der Politik sowie in Gespräche mit und Briefe von Menschen, die selbst gar keine Nazis waren. Das war der Punkt, an dem Klemperer den Entschluss für seine spätere Studie fasste. LTI entstand vom Material her und gedanklich in den Jahren, in denen er die »die deutsche Krankheit« (S. 69) des gewalttätigen Sprachstils und -registers sah, hörte, erduldete und protokollierte und dessen Folgen an sich selbst nachgerade erforschte, also in Notizen festhielt und mitunter auch schon analysierte. Die entscheidende Zeit sowohl für Konzept und Programm als auch für den Erkenntnisgehalt von LTI waren die Nazijahre: Klemperer blickt dem Regime und seinen Taten direkt ins Gesicht und nimmt dessen Sprache der Schmähung, Ächtung und Ausstoßung sozusagen beim Wort. Das Tagebuch ist insofern mehr als nur das »Labor« der späteren Schrift.38 Hier sammelte sich zwar ein riesiger Thesaurus an Vokabular mit neuen nazistischen »Wortfärbungen« an (S. 60), von dem dann aber nur ein sehr kleiner Teil auch tatsächlich in LTI einging.39 Vor allem aber betrachtet der Autor die Wörter, über die er zuerst im Tagebuch und dann in LTI nachdenkt, so Willners treffendes Argument, mit der Unmittelbarkeit der erfahrenen, der erlittenen Sprache; denn diese Wörter repräsentierten nicht nur die Gewalt, sondern führten sie auch aus.40

Schließlich gibt es eine dritte Vorgeschichte von LTI, die viel weiter zurückreicht als bis zum Januar 1933. Sie beginnt nicht mit dem Machtantritt Hitlers und korrespondiert auch nur mittelbar mit dem Aufstieg des Nazismus. Klemperer selbst verweist darauf, wenn er in LTI schreibt (S. 30): »Drei Epochen der deutschen Geschichte habe ich durchlebt, die Wilhelminische, die der Weimarer Republik und die Hitlerzeit.« Es handelt sich um die von ihm in jedem Alter und immer wieder neu mit sich ausgemachte Frage, welche private, berufliche und politische Formulierung der eigenen Zugehörigkeit zu Deutschland ihn selbst bestimmen sollte und wie diese Selbstbestimmung (im wörtlichen Sinne) auch Anerkennung durch andere erwarten durfte. In dieser Vorgeschichte wurden keine Worte und Wendungen des neuen Nazismus gesammelt; hier gingen aber die deutsch-jüdischen Grundfragen und alle persönlichen Lebensentscheidungen Klemperers ein: seine Sehnsucht nach Akkulturation, die Selbstemanzipation von familiärer Herkunft und Religion, der späte Entschluss zum Studium der Philologie wie auch die Entscheidung für eine akademische Karriere im Fach Romanistik; hierher gehört außerdem die jahrzehntelange Gewohnheit, Tagebuch zu führen und sich auf diese Weise kontinuierlich Rechenschaft über das eigene Denken und Handeln zu geben. Nicht zuletzt die 1906 geschlossene gemischtkonfessionelle Ehe mit der Pianistin Eva Schlemmer ist zu nennen, die Übertritte Klemperers zum Protestantismus in den Jahren 1902 und 1912 (er wiederholte die Konversion nach dem Tod des Vaters im Bewusstsein, dass die erste, im Alter von Anfang zwanzig vorgenommene Taufe auf Druck der Brüder erfolgt war und keine eigene Entscheidung darstellte) wie der nach 1945 erfolgte formelle Austritt aus der evangelischen Kirche.41 Schließlich gehören in dieses weite Feld Klemperers Zeit als Kriegsfreiwilliger und Frontsoldat im Ersten Weltkrieg sowie die in dieser Zeit auch bei ihm sichtbar werdenden Züge von Patriotismus und Kulturnationalismus.42

Diese dritte Vorgeschichte betrifft also sein lebenslanges Nachdenken über die ihm offenstehenden Möglichkeiten in Gesellschaft und Beruf, über die Bindung an überindividuelle Zusammenhänge: Religion und Nation, Kultur und Sprache. Klemperers Identifikation seines eigenen Deutschseins, so hat es Steven E. Aschheim beschrieben, bleibt mit der »erhabenen Aufklärungsversion von Menschlichkeit und Kultur« verbunden.43 In die longue durée dieser Vorgeschichte von LTI gehören alle erlittenen Zurücksetzungen, auch jene durch das konservative Milieu der Universitäten in den Weimarer Jahren, die von Klemperer schon damals protokollierten judenfeindlichen Ausfälle, die er im akademischen Milieu lange vor Hitler erlebte. Er verknüpfte dieses Nachdenken über sich selbst, über die eigene Herkunft aus einer jüdischen Familie und über die Gegenwart als kulturpatriotischer Deutscher immer mit den Fragen der ihn von außen begrenzenden Anfeindungen und Ausschlüsse; deshalb war er nie fertig damit, begann vielmehr immer wieder von vorn und kam unter dem Eindruck neuer Erfahrungen auch immer wieder zu anderen Ergebnissen. Auf diesem autobiographischen und zugleich wissenssoziologischen Weg fand er zur Sprache als seinem Lebensthema: Sie zog von außen schmerzhafte Grenzen; doch er lernte in und mit ihr auch, wie er diese Grenzziehung nicht nur beschreiben, sondern sie zeitweise selbst verschieben konnte.

Die genannten Vorgeschichten sind unterschiedlich lang – die erste dauert gerade einmal zwei, die zweite zwölf Jahre. Die dritte ist kaum in der exakten Anzahl von Jahren zu bemessen; sie umfasst Kindheit und Jugend, Ausbildungs- und Erwachsenenzeit des 1881 geborenen Philologen und Schriftstellers. Doch so verschieden diese Vorgeschichten auch sein mögen: Alle haben ihren Anteil an LTI, alle geben diesem so besonderen Buch sein Gepräge. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das Verhältnis von »Jüdisch« und »Deutsch« reflektieren, das schon vor der NS-Zeit ein großes Thema war, im »Dritten Reich« in eine existentielle Ausnahmesituation geriet und nach 1945 unter veränderten Bedingungen neu bilanziert wurde. Aus einer solchen übergreifenden Perspektive wird immer deutlicher erkennbar, dass der autobiographische Kern der Sprachkritik, den auch Klemperer selbst hervorhob, als er LTI ein »Erlebnisbuch«, die »Fixierung erlebter Sprache« nannte,44 und die Geschichte der deutsch-jüdischen Akkulturation, die eine Selbstbeheimatung der Juden in der deutschen Sprache war, eng zusammengehören – enger, als es heutige Leser:innen diesem Buch auf den ersten Blick entnehmen können.


Anmerkungen:

1 Victor Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1959, Bd. 1: Tagebücher 1945–1949, hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 1999, S. 484 (Eintrag vom 31. Dezember 1947).

2 Für Angaben zu ausgewählten Übersetzungen sowie zu weiterführender Forschungsliteratur siehe die begleitende Materialsammlung unter <https://zeithistorische-forschungen.de/material/6144>.

3 Ruth Leiserowitz, Vortrag über Victor Klemperers »LTI«, im Rahmen der Ringvorlesung »Mein liebstes Sachbuch« (6. Januar 2020), Humboldt-Universität zu Berlin, Wintersemester 2019/20 (Tonaufzeichnung).

4 Arvi Sepp, Art. »LTI«, in: Dan Diner (Hg. im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig), Enzyklopädie für jüdische Geschichte und Kultur, Bd. 3: He–Lu, Stuttgart 2012, S. 566-571, hier S. 570.

5 Nicolas Berg, Begriffe der Ausgrenzung, Sprachgesten der Gewalt. Victor Klemperer blickt auf die völkische Radikalisierung der Deutschen, 1933–1939, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 21 (2020), S. 56-65; zu dieser Erfahrung auch: Guy Miron, Space and Time under Persecution. The German-Jewish Experience in the Third Reich. Translated by Haim Watzman, Chicago 2023.

6 Christian A. Braun, Nationalsozialistischer Sprachstil. Theoretischer Zugang und praktische Analysen auf der Grundlage einer pragmatisch-textlinguistisch orientierten Stilistik, Heidelberg 2007.

7 Salmen Gradowski, Die Zertrennung. Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos, hg. von Aurélia Kalisky, unter Mitarbeit von Andreas Kilian. Aus dem Jiddischen von Almut Seiffert und Miriam Trinh, Berlin 2019, S. 83.

8 Kristine Fischer-Hupe, Victor Klemperers »LTI. Notizbuch eines Philologen«. Ein Kommentar, Hildesheim 2001, S. 75.

9 Victor Klemperer, Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dezember 1945, hg. von Günter Jäckel unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin 1996, S. 47f. In Pirna lebte eine Freundin des Ehepaars Klemperer, die Ärztin Annemarie Köhler, die außer den Manuskripten der Tagebücher auch andere Wertsachen für sie aufbewahrt hatte.

10 Ebd., S. 48.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 49; ähnlich auch S. 59.

14 Ebd., S. 50.

15 Ebd., S. 61.

16 Dieses Manuskript gelangte zu Lebzeiten Klemperers nicht mehr in den Druck: Victor Klemperer, Curriculum vitae. Erinnerungen eines Philologen, 1881–1918, 2 Bde., hg. von Walter Nowojski, Berlin 1989; hierzu: Manfred Misch, »…nun bist du wirklich ›ins Allgemeine‹ getaucht.« Der jüdische Traum vom Deutschsein. Zu Victor Klemperers Curriculum Vitae, in: ders. (Hg.), Autobiographien als Zeitzeugen, Tübingen 2001, S. 139-154.

17 Klemperer, Und so ist alles schwankend (Anm. 9), S. 50.

18 Ebd., S. 47.

19 Ebd.

20 Ebd., S. 66.

21 Ebd., S. 59.

22 Ebd., S. 62.

23 Ebd., S. 47.

24 Ebd., S. 56.

25 Ebd.; ähnlich auch S. 58.

26 Ebd., S. 59.

27 Arvi Sepp, Topographie des Alltags. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933–1945, Paderborn 2016, S. 120-129; Jenny Willner, Die Lupe des Philologen. Lektüren in Victor Klemperers LTI, in: Luisa Banki/Michael Scheffel (Hg.), Lektüren. Positionen zeitgenössischer Philologie, Trier 2017, S. 207-231, hier S. 207.

28 Klemperer, Und so ist alles schwankend (Anm. 9), S. 63.

29 Ebd., S. 68.

30 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945, Bd. 2: Tagebücher 1942–1945, hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin 1995, S. 279f. (Eintrag vom 21. November 1942, dortige Hervorhebung).

31 Das »Zion«-Kapitel wurde 1949 in der zweiten Auflage gestrichen; hierzu: Fischer-Hupe, Victor Klemperers »LTI« (Anm. 8), S. 86-90; Roderick H. Watt, ›Ich triumphiere sozusagen‹. The Publication History of Victor Klempererʼs ›Zion-Kapitel‹ in LTI (1947–1957), in: German Life and Letters 56 (2003), S. 132-141.

32 Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. 1 (Anm. 1), S. 563 (Eintrag vom 22. Juli 1948).

33 LTI, S. 222: »Ich habe mich lange dagegen gesträubt, die Annahme, daß wir – und eben weil ich ›wir‹ sagen mußte, hielt ich dies für eine enge und eitle Selbsttäuschung – daß wir derart im Zentrum des Nazismus stehen sollten.«

34 Die Rezeption von LTI erfolgte noch knapp eineinhalb Jahrzehnte unter dem wachen Blick des Autors, der in seinen Tagebüchern weiterhin die Geschicke seines Buches beobachtete, das Erscheinen in der Bundesrepublik 1966 jedoch nicht mehr erlebte; zum Nachwirken von LTI vgl. Fischer-Hupe, Editions- und Rezeptionsgeschichte der »LTI«, in: dies., Victor Klemperers »LTI« (Anm. 8), S. 77-266.

35 Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. 1 (Anm. 1), S. 330.

36 Vgl. auch den Vortrag, der Stalin als Sprachwissenschaftler rühmt: Victor Klemperer, Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland. Ein Vortrag gehalten im Klub der Kulturschaffenden Berlin, Berlin 1953. In LTI wird zwar nicht Stalin gepriesen, aber das Buch enthält politische Bekenntnisse zur Mission Russlands, das nun die »Fackel des Europäertums« trage (LTI, S. 185); der »Schwerpunkt des geistigen Europäertums« sei durch den Sieg über Hitlerdeutschland »nach Moskau verlagert«, so Klemperer (LTI, S. 184).

37 Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen, Bd. 2 (Anm. 30), S. 319 (Eintrag vom 27. Januar 1943); auch: LTI, S. 26.

38 Fischer-Hupe, Klemperers »LTI« (Anm. 8), S. 13.

39 Aus den in den Tagebüchern des »Dritten Reiches« gesammelten, kommentierten und diskutierten Lexemen, Wortprägungen und Denkfiguren der Machthaber und der vox populi übernahm Klemperer nur einen Bruchteil in LTI, rund 170 dagegen nicht; vgl. die Angaben bei Fischer-Hupe, Klemperers »LTI« (Anm. 8), S. 36.

40 Willner, Die Lupe des Philologen (Anm. 27), S. 214.

41 Klemperer, Und so ist alles schwankend (Anm. 9), S. 96 und S. 138 (Einträge vom 19. August und 18. September 1945).

42 Die frühen Tagebücher bieten der Kritik an der politischen Haltung Klemperers viel Material; Studien zum deutschnationalen Gelehrten Klemperer beziehen aber zu selten mit ein, dass er selbst umlernte, in seinen Tagebüchern häufig und in LTI sogar öffentlich Abbitte dafür leistete: »Vielleicht hatte vordem auch ich zu oft DER Deutsche gedacht und DER Franzose, statt an die Mannigfaltigkeit der Deutschen und Franzosen zu denken.« (LTI, S. 318; ähnlich auch an anderen Stellen.)

43 Steven E. Aschheim, Scholem, Arendt, Klemperer. Deutsch-jüdische Identität in Krisenzeiten. Aus dem Englischen von Jan Eike Dunkhase, Frankfurt a.M. 2023, S. 96; vgl. auch Paola Traverso, Victor Klemperers Deutschlandbild – Ein jüdisches Tagebuch, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26 (1997), S. 307-344.

44 Victor Klemperer, Vorbemerkung, in: ders., LTI. Notizbuch eines Philologen, 3. Aufl. Halle a.d.S. 1957; zit. nach Elke Fröhlich, Kommentar, in: LTI, S. 325.

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