Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945. Herausgegeben, eingeleitet und dargestellt von Walther Hofer, Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1957, überarb. Neuausg. 1982, 49. Aufl. 2004. Wenn nicht anders angegeben, folgen die Seitenzahlen der Zitate der letztgenannten Auflage.
Walther Hofers Dokumentation über den Nationalsozialismus, erstmals im August 1957 erschienen, war bis zum Jahresende 1957 bereits mit 100.000 Exemplaren verkauft. Mit einer Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren zählt sie bis heute zweifellos zu den Klassikern dieser Gattung. Der aus der Schweiz stammende Herausgeber lehrte damals an der Freien Universität Berlin; 1952 hatte er sich bei Hans Herzfeld mit einer diplomatiegeschichtlichen Studie über die „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“ habilitiert.1 Auf schmaler Quellengrundlage inmitten der Ruinen einer geteilten Hauptstadt verfasst, war diese Publikation, die 1954 als erster Band in der Schriftenreihe des Münchner Instituts für Zeitgeschichte erschien, ein mutiges Unterfangen, das den Ruf Hofers als eines NS-Experten begründete. 1960 wechselte er an die Universität Bern, wo er bis zu seiner Emeritierung 1988 den Lehrstuhl für Neuere Geschichte innehatte und sich als langjähriger Nationalrat der konservativen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (später: SVP) auch aktiv in der Politik betätigte.2
Während seiner Berliner Zeit als Privatdozent arbeitete Hofer zugleich als Sonderkorrespondent für die Basler Nationalzeitung, ebenso für den Landessender Beromünster (später: Schweizer Radio DRS) und den RIAS. Diese journalistische Erfahrung dürfte dem großen Erfolg der Dokumentation wesentlich zugute gekommen sein. Denn sie entstand aus einer Vortragsreihe Hofers im Winter 1956/57 für den Landessender Beromünster und wurde auf Anregung des Verlegers Gottfried Bermann Fischer für die Taschenbuchausgabe kapitelweise mit einem umfangreichen Dokumentenanhang versehen.
Hofer gliederte die Geschichte des Nationalsozialismus in acht Kapitel, wobei der Abschnitt zur „Judenverfolgung und Judenausrottung“ im ursprünglichen Sendemanuskript auffälligerweise nicht enthalten war. Darstellung und Dokumentation spiegeln den Forschungsstand Mitte der 1950er-Jahre wider. Auch die „überarbeitete Neuausgabe“ von 1982 entspricht mit einer Ausnahme, von der noch zu sprechen sein wird, nahezu vollständig der Erstausgabe von 1957. Hinzu kamen lediglich ein neues Vorwort, ein Abkürzungsverzeichnis und ein annotiertes Personenregister; ferner wurde der Dokumentennachweis teilweise aktualisiert und auf inzwischen erschienene Editionen umgestellt.
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Ende der 1950er-Jahre begann sich der bundesdeutsche Umgang mit dem Nationalsozialismus zu wandeln. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, der zahlreiche ungesühnt gebliebene NS-Verbrechen ins öffentliche Bewusstsein hob und noch im selben Jahr zur Gründung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“ in Ludwigsburg führte, die antisemitische Schmierwelle im Winter 1959/60 und schließlich der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 sensibilisierten eine kritische Öffentlichkeit, die sich nicht länger mit der bequemen Verdrängung und Verharmlosung der NS-Diktatur abfinden wollte. Aus verlegerischer Sicht kam die gut lesbare Dokumentation Hofers in einem günstigen Umfeld auf den Markt: Sie füllte eine Lücke und war als preiswertes Taschenbuch (DM 3,30) konkurrenzlos.
Im ersten Kapitel („Adolf Hitler, seine Ideologie und seine Bewegung“) skizziert Hofer die Biographie Hitlers und den Aufstieg der NS-Bewegung, wobei er die Verantwortung der konservativen Herrschaftseliten betont (S. 14): „Hitler ist letztlich nicht auf dem Rücken einer unwiderstehlichen politischen Bewegung in die Macht getragen worden, sondern die genannten Drahtzieher um Hindenburg haben ihn regelrecht in die Macht geschoben.“ Die grundlegende Studie Karl Dietrich Brachers zur Auflösung der Weimarer Republik3 wird zwar nicht eigens genannt, fließt aber ersichtlich in die Darstellung ein. Ausführlich widmet sich Hofer der Weltanschauung Hitlers, die er prägnant analysiert und auf den Punkt bringt: Sie sei eine „politische Religion“, in deren Mittelpunkt der Rassengedanke gestanden habe (S. 15). Hofer sieht in Hitler nicht den hemmungslosen Opportunisten und Machtpolitiker, wie es die damals maßgebende Hitler-Biographie Alan Bullocks nahelegte,4 sondern den ideologisch motivierten Überzeugungstäter.
Mit „Die nationalsozialistische Revolution“ ist das zweite Kapitel überschrieben, das die Etappen der Machtübernahme schildert und insbesondere die scheinlegale Abschirmung eines im Grunde revolutionären Prozesses hervorhebt. „Mit Recht kann man deshalb sagen“, so Hofer mit Bezug auf die Notverordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, „dass die eigentliche Verfassung des Dritten Reiches der Ausnahmezustand gewesen ist“ (S. 43). Im Dokumentenanhang finden sich die wichtigsten Verordnungen und Gesetze zur Errichtung der Diktatur, ebenso einige Ausführungen Carl Schmitts, der als willfähriger Jurist die Zerstörung des Rechtsstaats legitimierte und weiter vorantrieb.
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Einen äußerst problematischen Punkt des Bandes bilden Hofers Ausführungen zur Brandstiftung des Reichstages, die den unmittelbaren Anlass zu der genannten Notverordnung gegeben hatte. In der Erstausgabe führte Hofer 1957 aus, es sei „geschichtlich erwiesen“, dass die Nationalsozialisten selbst den Brand organisiert hätten. Hauptbeteiligte seien Goebbels und Göring gewesen, „die wahrscheinlich, aber nicht erwiesenermaßen, mit Wissen Hitlers handelten“ (S. 43). Als Beleg berief sich Hofer auf eine Denkschrift des DNVP-Abgeordneten Oberfohren, die heute als plumpe Fälschung gilt.5 Die Schuldzuschreibung entsprach dem allgemeinen Konsens, der erst 1959/60 durch die Recherchen des Amateurhistorikers Fritz Tobias in einer aufsehenerregenden Serie im „Spiegel“ in Frage gestellt wurde.6 In der Auflage von 1963 räumte Hofer ein, dass es keinen eindeutigen dokumentarischen Nachweis gebe und die Wahrheit womöglich nie ans Tageslicht kommen werde.
In den Folgejahren wandte sich Hofer jedoch weiterhin gegen die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes.7 In der „überarbeiteten Neuausgabe“ von 1982 befand Hofer (S. 43): „Inzwischen liegen nun genug neue Dokumente und Zeugenaussagen vor, so dass auch der ‚positive‘ Beweis für die Urheberschaft der NSDAP als erbracht gelten kann.“ Entsprechend wurde auch der Dokumentenanhang (Nr. 23) mit der Aufnahme einer angeblichen Geheimrede Görings und weiterer Zeugenaussagen neu gestaltet. Im Verlauf der zunehmend erbittert ausgetragenen Kontroverse entpuppten sich diese Schlüsseldokumente allerdings wiederum als Fälschungen.8 Selbst wenn man trotz der historischen Evidenz Zweifel an der Alleintäterschaft van der Lubbes haben sollte,9 so gebietet es die wissenschaftliche Seriosität, dass in einer Dokumentation keine offensichtlichen Fälschungen abgedruckt werden und darüber hinaus die bis heute andauernde Kontroverse im Textteil offen benannt wird. Nichts davon ist bisher geschehen.
In diesem Kontext ist auch der mehrfache Rückgriff auf Hermann Rauschnings „Gespräche mit Hitler“ zu nennen, den Eberhard Jäckel schon in der Besprechung der Erstausgabe gerügt hatte. Denn tatsächlich ist diese – 1939 im Exil entstandene – Publikation keine seriöse Quelle für die Gedankenwelt Hitlers, was der Forschung seit langem bekannt ist.10 Ebenso fehlt bei vielen Dokumentenauszügen eine exakte Datierung und Beschreibung. Selbst die berühmt-berüchtigte Rede Heinrich Himmlers bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943 ist nur mit dem nichtssagenden Titel „Aus einer Rede des Reichsführers-SS“ versehen. Diese editorischen Mängel hätten längst mit geringem Aufwand beseitigt werden können.
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In den weiteren Kapiteln entfaltet Hofer die innere Entwicklung der NS-Diktatur. Er skizziert das Herrschaftssystem: die Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens zum Aufbau einer neuen „Volksgemeinschaft“, die „ihr Vorbild in nichts anderem als in der totalen Wehrgemeinschaft des ersten totalen Krieges von 1914 bis 1918“ fand (S. 75). Am Ende des dritten Kapitels argumentiert Hofer nachdrücklich gegen die in den 1950er-Jahren so beliebte Aufspaltung in die guten und die schlechten Seiten des Nationalsozialismus. Vielmehr sei die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges wie die Ermordung des europäischen Judentums nur die letzte Stufe einer in sich konsequenten Entwicklung gewesen, die aus der Verknüpfung von Rassismus und Imperialismus hervorgegangen sei. Auch habe die zunehmende Popularität Hitlers nicht nur auf Terror und Propaganda, sondern vielfach auf innerer Überzeugung beruht. „Mit einem Wort: man war bereit, auf innere Freiheit für äußere Macht und Größe zu verzichten.“ (S. 81)
Anschließend wird das Verhältnis von Nationalsozialismus und Christentum behandelt. Hier kann die Schilderung des „Kirchenkampfes“ auch heute noch als im Wesentlichen zutreffend gelten, weniger jedoch die zeitbedingte Überbetonung des kirchlichen Widerstandes, der sich zum entschiedenen politischen Widerstand gegen die NS-Herrschaft und ihre Verbrechen gesteigert habe. Die Außenpolitik des „Dritten Reiches“ bis zum Münchner Abkommen 1938 bündelt Hofer unter der Überschrift „Der nationalsozialistische Imperialismus“. Entgegen aller Apologetik, die Militärs und Diplomaten gerne in ihren Memoiren der 1950er-Jahre ausbreiteten, bilanzierte Hofer völlig zutreffend (S. 170): „Die Friedensjahre der nationalsozialistischen Außenpolitik sind […] nur als Jahre der Vorbereitung auf den stets ins Auge gefassten Krieg zu verstehen: militärische Aufrüstung und Kriegsvorbereitung im Innern unter Abschirmung durch Friedenspropaganda und Antibolschewismus nach außen.“
Das sechste Kapitel schildert die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und zeichnet in gedrängter Form den politischen und militärischen Verlauf bis zum Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ nach. Allerdings bleibt die barbarische Kriegsführung und Besatzungspolitik im Osten merkwürdig unterbelichtet. Die so genannten verbrecherischen Befehle, die unmittelbar vor dem Angriff auf die Sowjetunion den ideologischen Vernichtungskrieg legitimierten, fehlen im Dokumentenanhang ebenso wie Hinweise auf den „Generalplan Ost“ oder die Ausbeutung der besetzten Gebiete. Zudem entspricht die Bilanz der deutschen Kriegsverluste (Dok. Nr. 151) schon lange nicht mehr dem Stand der Forschung.
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Das Kapitel zur Judenverfolgung wurde für die Dokumentation neu verfasst. Dass Hofer hier strikt als Intentionalist argumentiert, versteht sich nach den bisherigen Ausführungen von selbst (S. 268): „Schon in der Theorie verband Hitler die Aufgabe einer Eroberung neuen Lebensraumes im Osten mit dem Gedanken einer physischen Ausrottung des europäischen Judentums, dessen Mutterboden ja gerade jene osteuropäischen Gebiete darstellten, die Hitler für Deutschland erobern wollte.“ Die Vernichtung des europäischen Judentums habe deshalb auch keinen Nebeneffekt des Nationalsozialismus dargestellt, sondern nur die letzte Konsequenz seiner rassistischen Ideologie. Der enge Zusammenhang von Rassismus, Imperialismus und Judenvernichtung durchzieht die gesamte Darstellung des Nationalsozialismus und macht eine der großen Stärken des Bandes aus, zumal wenn man das geistige Panorama der 1950er-Jahre berücksichtigt.
Der deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler widmete Hofer das die Darstellung abschließende achte Kapitel. Text und Dokumentation konzentrieren sich hierbei auf den nationalkonservativen Widerstand, der im 20. Juli 1944 kulminierte, und die Weiße Rose. Das entsprach ganz dem damaligen Geist der Zeit; der vielfältige Widerstand aus Kreisen der Arbeiterbewegung wurde noch weitgehend ignoriert. Für die Neuauflagen des Bandes wäre in diesem Punkt indes eine Ergänzung zu wünschen gewesen.
In seiner Schlussbetrachtung erörtert Hofer den Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte. Inwiefern entstand die NS-Herrschaft aus spezifisch deutschen Wurzeln, inwiefern aus allgemeinen europäischen Erscheinungen? Welchen Anteil besaßen das Preußentum, das Luthertum und die deutsche Romantik? Welches Gewicht hatten die antiliberale Entwicklung zu autoritären Staatsformen im Europa der Zwischenkriegszeit, der Imperialismus und der Antisemitismus als allgemeine Erscheinungsformen und nicht zuletzt die Geistesgeschichte des Totalitarismus? Diese Debatte, in der Hofer eine vermittelnde Position vertrat, spiegelt in ihrer Fragestellung ganz die Diskussion der frühen Nachkriegszeit. Die tieferen Ursachen der „deutschen Katastrophe“, wie Friedrich Meinecke 1946 seine stark beachteten (und von Hofer ausdrücklich empfohlenen11) Reflexionen betitelte, seien schwierig zu erklären. Eindeutig und „furchtbar“ seien hingegen die Folgen (S. 367): „Nicht nur ganz Deutschland und halb Europa lagen in Trümmern, sondern das Erbe Bismarcks, die Einheit des Reiches wurde vertan, das Werk der preußischen Könige vernichtet, ja eine vielhundertjährige geschichtliche Entwicklung, nämlich die deutsche Kolonisation im Osten, rückgängig gemacht, die Soldaten der Sowjetunion stehen an der Elbe, und Europa sieht sich damit der größten Bedrohung seiner Geschichte ausgesetzt. Der deutsche Name wurde mit den größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte belastet und in ungeheuerlicher Weise geschändet. […] Das Dritte Reich ist kein tausendjähriges geworden, aber die zwölf Jahre seines Bestehens haben genügt, die geschichtliche Arbeit von tausend Jahren zu verschleudern.“ Mit ihrem Pathos ist die Schlussbetrachtung inzwischen selbst zu einem historischen Dokument geworden.
1 Walther Hofer, Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Eine Studie über die internationalen Beziehungen im Sommer 1939, Stuttgart 1954.
2 Vgl. Die Schweiz, Deutschland und der Nationalsozialismus: Walther Hofer im Gespräch mit Stig Förster, in: Neue Politische Literatur 52 (2007), S. 189-211.
3 Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Mit einer Einleitung von Hans Herzfeld, Stuttgart 1955.
4 Alan Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1953.
5 Vgl. als neueste Darstellung Sven Felix Kellerhoff, Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls, Berlin 2008, S. 71ff.
6 Maßgeblich gestützt wurde Tobias durch Hans Mommsen, Der Reichstagsbrand und seine politischen Folgen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 12 (1964), S. 351-413.
7 Vgl. Walther Hofer u.a. (Hg.), Der Reichstagsbrand. Eine wissenschaftliche Dokumentation, 2 Bde., Berlin 1972/78.
8 Vgl. Henning Köhler, Der „dokumentarische Teil“ der Dokumentation – Fälschungen am laufenden Band, in: Uwe Backes u.a., Reichstagsbrand – Aufklärung einer historischen Legende, München 1986, S. 167-216.
9 Vgl. z.B. Alexander Bahar/Wilfried Kugel, Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird, Berlin 2001; Hersch Fischler, Zum Zeitablauf der Reichstagsbrandstiftung. Korrekturen der Untersuchung Alfred Berndts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 617-632; Dieter Deiseroth (Hg.), Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht, Berlin 2006.
10 Eberhard Jäckel, Dokumente zur Geschichte des „Dritten Reiches“, in: Neue Politische Literatur 3 (1958), Sp. 29-38, hier Sp. 33. Vgl. auch Theodor Schieder, Hermann Rauschnings „Gespräche mit Hitler“ als Geschichtsquelle, Opladen 1972; Wolfgang Hänel, Hermann Rauschnings „Gespräche mit Hitler“. Eine Geschichtsfälschung, Ingolstadt 1984.
11 Vgl. auch die Promotion Hofers (1947): Geschichtsschreibung und Weltanschauung. Betrachtungen zum Werke Friedrich Meineckes, München 1950.