Mit dem Fließband zum Fortschritt?

»M.T.C.«: Sigfried Giedions visuelle Historiographie der Mechanisierung in den USA

Anmerkungen

[Die Autorin dankt Filine Wagner vom gta Archiv der ETH Zürich, Laurent Stalder und Karin Schraner.]

Buchcover von 1948 und 1982
(gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion)
Sigfried Giedion, Mechanization Takes Command.
A Contribution to Anonymous History, New York: Oxford University Press 1948; dt.: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1982; Die Herrschaft der Mechanisierung.
Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Herausgegeben und mit einem Essay von Henning Ritter. Mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1994. Die Zitate im Text folgen der letztgenannten Ausgabe.

Für dieses Buch muss man sich etwas Zeit nehmen. Ich hatte die gut 700 Seiten umfassende amerikanische Originalausgabe von »Mechanization Takes Command« (den Titel kürzte Giedion in seinen Notizen mit dem Akronym »M.T.C.« ab) im Sommer 2017 im Amtrak California Zephyr auf meiner Reise von Greenriver, UT, nach Chicago, IL, im Gepäck. Diese Reise bot aktualisiertes Anschauungsmaterial zu Giedions Sondierungen der US-amerikanischen Industrialisierungsgeschichte. Sie folgte jener Eisenbahnlinie, welche Kalifornien (wo die Frontier-Gesellschaft Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende gelangte) mit Chicago verbindet (der nach dem großen Brand von 1871 zur Industriemetropole avancierten Stadt am Lake Michigan). Dazwischen öffnete sich der Midwest, dessen verrostete und verlassene industrielle Infrastruktur (Bahnhöfe, Fabriken, Brücken, Städte) durch das Zugfenster ins Blickfeld geriet und somit den Endpunkt der von Giedion dokumentierten Entwicklungen brutal vor Augen führte. Die heruntergewirtschafteten Landschaften des Midwest und Giedions Streifzüge in ihre Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts flossen ineinander über. Etwa dann, wenn der Zug stillstand und mein Blick bei den Getreide-Elevatoren hängen blieb, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzen und der Personenzug den unendlich langen Güterwagen, die von Diesellokomotiven angetrieben werden, den Vortritt lassen musste. Oder wenn ich beim mäandrierenden Durchblättern des Buches und dem Blick aus dem Zugfenster den Faden verlor und eindöste – und dann beim Eindunkeln jäh von den sleeping car attendants, welche die ausklappbaren Sitze für die Nacht mit ein paar Handgriffen zu Betten umwandelten, in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Oder im Nachfolgemodell des von George M. Pullman 1869 in seinem Patent beschriebenen Speisewagens, wo die Reisende aus Europa und Wählerinnen des amtierenden Präsidenten sich am gemeinsamen Tisch zum Verzehr von Burger, Steaks und Hot Dogs wiederfanden. Jenes Präsidenten, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Re-Industrialisierung abgehängter Regionen im einst prosperierenden Rostgürtel der USA versprach.

Sigfried Giedions Notizbuch zu M.T.C.
(gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion)

Giedions Interesse galt in M.T.C. den vergessenen oder kaum beachteten Werkzeugen und Erfindungen, welche den Alltag des industrialisierten Lebens geprägt haben: »Es sind äußerlich bescheidene Dinge, um die es hier geht, Dinge, die gewöhnlich nicht ernstgenommen werden, jedenfalls nicht in historischer Beziehung. Aber so wenig wie in der Malerei kommt es in der Geschichte auf die Größe des Gegenstandes an. Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne.« (S. 19) Dies ist inzwischen vielleicht der berühmteste Satz des Buches, der Giedions Credo zum Ausdruck bringt, eine Architektur-, Technik-, Kunst- und Designgeschichte alltäglicher anonymer Objekte ohne Autoren zu schreiben. M.T.C. ist eine Ode sowie zugleich eine Warnung an das mechanische Zeitalter und heute selbst als Quelle dieser Epoche zu lesen. Es ist das Amerika-Buch eines Europäers,1 deutsch gedacht und mit Hilfe des Übersetzers Martin James2 für ein amerikanisches Publikum geschrieben, aber erst drei Jahrzehnte später in der Muttersprache des Autors erschienen. Entstanden ist es während des Zweiten Weltkrieges, weit weg von den Grausamkeiten des Geschehens in Europa. Doch der Krieg ging Giedion unentwegt durch den Kopf, wie er seiner Frau, der Kunsthistorikerin Carola Giedion-Welcker, 1942 aus den USA nach Zürich schrieb.3

»Better Living! Kitchen of Tomorrow«. Prospekt für moderne Kücheneinrichtung von LOF (Libbey Owens Ford), ca. 1940
(gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion)

M.T.C. vereint die Trouvaillen eines sammelwütigen Amerikareisenden, der auf der Suche nach Bildmaterial aufwendige Recherchen durchgeführt hatte (etwa im Fundus des US Patent Office und in der McCormick Historical Association in Chicago), umtriebig mit US-amerikanischen Unternehmen korrespondierte und der Geschichtsschreibung bislang vernachlässigte Quellengattungen erschlossen hat: Patentzeichnungen, Warenkataloge und Werbebroschüren. Ein Buch, das sich vom Material treiben lässt, relational gedacht und gestaltet ist und programmatisch Fragment bleibt. Erzählt wird auch eine Geschichte des Midwest im Denkmodus der Moderne. Mit leeren Landschaften, die durch Eisenbahnen erschlossen werden, ohne die American Indians zu erwähnen, die schon vorher da waren und durch die Landnahme und Raumerschließung verdrängt oder getötet wurden. Eine Geschichte anonymer Alltagsdinge, doch auch eine Ode an kreative Persönlichkeiten wie Oliver Evans (der Erfinder einer mechanischen Müllerei Ende des 18. Jahrhunderts), George M. Pullman (der Erfinder der Luxusreisen Mitte des 19. Jahrhunderts), Cyrus McCormick (der Kaufmann und Erfinder von Mähmaschinen und Traktoren) oder Gustavus Franklin Swift (der umtriebige Unternehmer hinter dem Meatpacking District in Chicago zu Beginn des 20. Jahrhunderts). Eine Geschichte des Fortschritts, die in Fortschrittskritik mündet. Und über weite Passagen auch eine Möbelgeschichte eines Stilhygienikers in der Tradition des Arts and Crafts Movement und des Werkbundes.

Als M.T.C. 1948 bei Oxford University Press in englischsprachiger Originalausgabe erschien, war der diplomierte Maschinenbauingenieur und promovierte Kunsthistoriker Sigfried Giedion (1888 in Prag geboren und 1968 in Zürich gestorben) bereits 60 Jahre alt. Der Industriellensohn war in den 1920er-Jahren mit dem Bauhaus in Weimar in Kontakt gekommen. Seit 1928 förderte er als Generalsekretär der CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) und seit 1931 als Mitbegründer der Wohnbedarf AG an seinem Wohnort in Zürich das moderne Bauen und Wohnen. Als Giedion durch Vermittlung von Walter Gropius 1939 eine Poetik-Gastprofessur in Harvard erhielt, unternahm er die erste Reise nach Chicago und in den Midwest.4 Giedion, der nach der Annexion Österreichs durch NS-Deutschland 1938 bereits das Schlimmste befürchtete (»eines Tages aufzuwachen und zu vernehmen, dass die motorisierten Batterien Göhrings [sic!] bereits Zürich passiert haben«), bemühte sich nach seiner Rückkehr in die Schweiz um einen neuen Aufenthalt in den USA, der ihm durch eine Vorlesung 1941 an der Yale School of Fine Art ermöglicht wurde.5 Er blieb bis zum Kriegsende in den USA, betrieb dabei umfangreiche Archivrecherchen für M.T.C., verschickte Fragebögen an Industrieunternehmen und arbeitete von Dezember 1941 bis Dezember 1945 am Manuskript. Viele Textversatzstücke wurden unterwegs geschrieben, sind auf Hotelbriefpapier entstanden, in Notizbüchern und Ordnern beständig weiterentwickelt und verworfen, dann in Diktaten schließlich verdichtet worden (vgl. Henning Ritters editorische Notizen in der deutschen Ausgabe von 1994, S. 819).

Giedions Buch löste sich von der Linearität eines Fließtextes; er dachte Text und Bild von Beginn an relational. Bereits 1942 notierte Giedion in New York, dass die Bilder etwa ein Drittel des Buches ausmachen sollten. Das Werk sollte auch mittels flüchtigem Durchblättern zugänglich sein: »This pictural way may lead the reader on the other way to the text. The aim is to offer a combination of a picture book and scientific research.«6 Giedion bemühte sich beim Patent Office in Washington DC und bei US-amerikanischen Unternehmen um das Bildmaterial sowie um die Zusendung von Fotografien und Fotokopien. Schließlich fanden 501 Bilder Eingang ins Buch. Medienhistorisch betrachtet ist M.T.C. ein Kind des Photostat-Zeitalters, einer Fotokopiertechnik auf Basis des fotografischen Umkehrprismas, die vor dem elektrostatischen Xerox-Kopierverfahren die Bürowelt erobert hatte. Ohne das Medium Photostat, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Bibliotheken, staatlichen Verwaltungen, Gerichten, Banken und Versicherungen das Paperwork rationalisiert und mechanisiert hatte, wäre diese aufwendige Enzyklopädie der Mechanisierung, die sich selbst eines ihrer Medien bediente, nicht denkbar gewesen.

Photostat eines britischen Patents für eine Mähmaschine von 1811 – für Giedions Kapitel über die Mechanisierung der Landwirtschaft
(gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion)
Zeichnung und Fotografie, Patent und Praxis,
19. und 20. Jahrhundert: Doppelseite mit dem ersten US-Patent eines Mähdreschers (1836) und einem
Klein-Mähdrescher bei der Ernte (1930)
(aus: Sigfried Giedion, Mechanization Takes Command.
A Contribution to Anonymous History,
New York 1948, S. 164f.)

Giedion hatte schon 1942 genaue Vorstellungen bezüglich der Bildgestaltung formuliert: »Approximately half of the illustrations will be line-cuts. When it is possible, care will be taken to unite different illustrations in one block.«7 Beim Layout des Buches arbeitete er mit dem Fotografen und Typografen Herbert Bayer sowie der Malerin und Gestalterin Elisabeth Wolff zusammen.8 Die auf Fotografie, Fotokopie, Schere und Leim basierende Collagetechnik der Buchgestaltung bringt nicht bloß die materialgetriebene Vorgehensweise des Autors und der beiden anderen Beteiligten zum Ausdruck, sondern evoziert auch neue Leseoptionen des Mediums Buch: Neben der linearen Textlektüre ergeben sich Möglichkeiten zu parallelen Betrachtungen der Bilder und Bildblöcke mitsamt ihrer inhaltlich substantiellen Bildlegenden. Eine vergleichbare Vorgehensweise einer visuellen Historiographie, die material- und bildergetrieben und assoziativ vorgeht, ist dann erst viel später wieder anzutreffen: in Kultbüchern wie Klaus Theweleits 1977/78 erschienenen »Männerphantasien«9 und speziell in Marshall McLuhans zusammen mit dem Gestalter Quentin Fiore 1967 veröffentlichtem »The Medium is the Massage«.10

Sigfried Giedion 1961 im Studio des Schweizer Buchhändlers und Verlegers Hoepli bei der Gestaltung der italienischen Ausgabe von »Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition«, der Monographie Giedions zur modernen Architekturgeschichte, die 1941 bei Harvard University Press erschienen war
(gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Ulrich Stucky)

Tageszeitungen wie die »New York Times« oder die »Herald Tribune« widmeten M.T.C. Titelgeschichten, auch die »Neue Zürcher Zeitung« (NZZ) besprach das Buch – bezeichnenderweise nicht im Feuilleton, sondern in der Technikbeilage. Der Forderung Giedions, Technik als Kunst zu betrachten, mochte die NZZ offenbar nicht Folge leisten. Der Theaterdramaturg und Publizist Hans Curjel war in seiner Rezension entzückt von den »amüsanten Abbildungen«, »die eine dem Bewusstsein völlig entschwundene Welt entstehen lassen«, und attestierte ihnen eine eminente kunsthistorische Bedeutung. Er verwies auch auf Giedions Argument, dass die Schöpfungen der Alltagswelt und der Kunst denselben Prinzipien folgen (Abstraktion, Einführung des Faktors Zeit, Simultanität).11

Der Kanadier McLuhan, der Giedions Buchkonzept später gewissermaßen noch radikalisiert hat, gehörte auch zu den euphorischen Rezensenten von M.T.C., das er zusammen mit Moholy-Nagys »Vision in Motion« 1949 besprach.12 Er sah in M.T.C. eine Erweiterung der Untersuchungsobjekte für Literaturwissenschaftler und ein neues Set von Werkzeugen, um das gesamte Spektrum alltäglicher Objekte zu erforschen. An Giedions Buch gefiel ihm die Aufmerksamkeit gegenüber einer Vielfalt von Dingen und Aktivitäten in den USA, einem Land, das wegen eines Mangels an Arbeitskräften zwar das Handwerk zunehmend vernachlässigt und die Produktion mechanisiert habe, dabei jedoch eine Reihe von Werkzeugen, Objekten und Gebäuden mit unbewusster Schönheit hervorgebracht habe. Medienhistorisch interessant ist McLuhans Beobachtung, dass Giedions Buch eine neue, aktive Wahrnehmung durch den Nutzer erfordere: »He [i.e. Giedion] makes very heavy demands of his readers since he presents ideas not as things to be known or argued about but as tools with which the reader must work for many years.«13 Das sind Gedanken, die später in McLuhans Unterscheidung zwischen »kalten« und »heißen« Medien wieder auftauchten, einer Differenzierung von Medien nach dem Grad der Aktivität des Rezipienten. Während heiße Medien nur wenig Aufmerksamkeit beanspruchen, die Sinne nur wenig herausfordern, verlangen kalte Medien den Rezipienten mehr ab, da diese die Inhalte aktiv ergänzen müssen.14

Kritik am viel besprochenen Buch gab es bloß am Rande, etwa vom niederländischen Technikhistoriker Robert J. Forbes in der Zeitschrift »Les Archives Internationales d’Histoire des Sciences«. Er lobte das Buch zwar insgesamt euphorisch als Pionierleistung, doch bezeichnete er Giedions Anspruch auch als spezialistisch und überzogen (»its attempts to cover too much ground in a small space, its sweeping statements that want further confirmation by patient sorting out of details«15). Forbes gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Wissenschafts- und Technikgeschichte diesen Anstoß aufnehmen und die von Giedion gleichermaßen ergiebig wie skizzenhaft umrissenen Probleme vertiefen möge.

Radikal mit M.T.C. ins Gericht ging dann der britische Architekturkritiker Reyner Banham 1969, kurz nach Giedions Tod im Jahr zuvor.16 Das Buch habe seine Reputation nicht verdient. Seit dem Erscheinen sei es als Monument statt als Ausgangspunkt weiterer Forschung betrachtet worden. Speziell kritisierte Banham Giedions Quellenkorpus: Patentschriften würden die Ideen der Erfinder enthalten, aber nichts über die konkrete Durchsetzung einer Erfindung auf dem Markt und wenig über die real gebaute Architektur aussagen.17 An dieser Kritik ist etwas dran, und sie verweist auch noch auf ein größeres Problem des Buches: Obwohl Giedion durchaus materialistisch vorgeht, argumentiert er gleichzeitig prinzipiell idealistisch und setzt einen Zeitgeist voraus, der die Geschicke der Welt leitet. Er interessiert sich für die Visionen einer Zeit, die Ideen der Erfinder. Beispielhaft für dieses Vorgehen ist Giedions Kapitel über die Geschichte des Fließbandes und der wissenschaftlichen Betriebsführung (S. 101-153), das den Kern seines Arguments im Buch enthält. Wer die Ursprünge des Fließbandes zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der amerikanischen Industrie in Chicago und Detroit verstehen wolle, müsse zurückgehen ins späte 18. Jahrhundert, zum Beginn einer rationalistischen Denkweise und zu Oliver Evans’ Plänen für mechanisierte Mühlen. Es sei die Zerlegung der Arbeit in Teilprozesse gewesen, die Adam Smith 1776 in »The Wealth of Nations« beschrieben hatte, welche den Beginn der Mechanisierung markiert habe und in der Großschlachterei in Chicago dann bis zum Lebendigen selbst vorgedrungen sei.

Bildmontage in M.T.C.: Serialität der Mechanisierung
(gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion)
Buchgestaltung für Augenarbeiter:
Bilder im Breitformat auf einer Doppelseite in M.T.C.
(aus: Sigfried Giedion, Mechanization Takes Command.
A Contribution to Anonymous History, New York 1948, S. 122f.)

Mit den Übersetzungen ins Französische (1980) und ins Deutsche (1982) setzte drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen der Originalausgabe eine zweite Phase der Rezeption ein.18 Als M.T.C. 1982 erstmals in deutscher (Rück-)Übersetzung herauskam, wies Stanislaus von Moos in seinem Nachwort auf eine offensichtliche Lücke des Buches hin – das Nichtthematisieren des »Einbruch[s] der Mechanisierung in die Techniken der visuellen Kommunikation (Fotografie, Film)« (S. 782). Zudem relativierte er den Pioniergedanken von M.T.C. etwas, indem er Giedions Buch als Weiterführung der von Arts and Crafts bis zum Werkbund angestoßenen Kunstgewerbe-Reformen einordnete, manche Querbezüge zu Adolf Loos herausschälte (den Giedion in M.T.C. nicht erwähnte) und insbesondere auf Le Corbusiers wichtige Arbeiten hinwies, die M.T.C. vorangingen – etwa Le Corbusiers Bewunderung für die Schlafwagen und seine Sammlung von Werbematerial (S. 801).

Nach dem Erscheinen der deutschen Erstausgabe würdigte Hans Magnus Enzensberger M.T.C. in einer begeisterten Rezension für den »Spiegel«.19 Auch er nahm die Visionen des amerikanischen Mechanikers Oliver Evans im ausgehenden 18. Jahrhundert, der als Erster eine Müllerei mechanisierte, zum Ausgangspunkt seiner Besprechung. Doch sein Interesse an M.T.C. war von der eigenen Gegenwart geprägt – und zwar von der Sorge um die Ersetzung des Menschen durch Maschinen: »Zweihundert Jahre später, bei grob gerechnet fünfzig Millionen Arbeitslosen in den Industriezonen der Welt, werden wir das Lebenswerk des Oliver Evans wohl etwas ernster nehmen müssen.«20 Die Robotik- und KI-Diskussion, die zu Beginn der 1980er-Jahre (zusammen mit dem durch das Orwell-Jahr 1984 getriggerten Diskurs der technischen Überwachung) die Wahrnehmung von Automatisierung strukturierte, bildete die Folie für Enzensbergers Lektüre. Dieser erblickte in Giedion einen Anthropologen vom Range eines Norbert Elias oder Walter Benjamin, »der uns lehrt, in den Eingeweiden unserer Zivilisation zu lesen. Über eine vollständige Theorie verfügt er nicht. [...] Gerade die Offenheit und Beweglichkeit seines Denkens, in dem das Unvorhersehbare nicht liquidiert wird, macht die Aktualität seiner Lehre aus.«21

US-Patent von 1885 für einen ergonomisch geformten,
verstellbaren Eisenbahnsitz (Zeichnung rechts unten)
(aus: Sigfried Giedion, Mechanization Takes Command.
A Contribution to Anonymous History, New York 1948, S. 398f.)

Obwohl weder die Entwicklung der Fotografietechnik, des Films, des Lichts, geschweige denn des Computers in M.T.C. Erwähnung findet, ist das Buch seit den 1990er-Jahren zur wichtigen Inspiration geworden – besonders für die Entstehung einer neuen Infrastrukturgeschichte, welche Mediengeschichte, Alltagsgeschichte, Verkehrsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und Bildwissenschaft verzahnt. Die Skizzenhaftigkeit, das Fragmentarische, das Denken in Relationen, das Interesse für Mobilität, Räume und Bewegung sowie der Anspruch Giedions, größere Zeiträume ins Blickfeld zu nehmen und die Gegenwart aus historischer Perspektive kritisch zu kommentieren, ist von großer Attraktivität und Aktualität für die gegenwärtige Geschichtswissenschaft.

Giedion entstammte einer Industriellenfamilie, sein Vater war Mitbesitzer der Spinnerei an der Lorze im Kanton Zug in der Schweiz. Er wurde zu einem aufmerksamen Chronisten, welcher die materielle Kultur ernstnahm. Lange bevor die Industriekultur mit den ersten Tendenzen der De-Industrialisierung nach 1970 in den Status eines kulturellen Erbes erhoben wurde, wirkte Giedion als einer ihrer historischen Sachwalter. In seinem Nachlass finden sich auch ein paar Modelle von Patentmöbeln, die das US Patent Office 1926 weggeschmissen hatte – Giedion ersteigerte sie bei Auktionen.

Etikett des Modells eines Patentmöbels, 1874
(gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion)

Dass Giedion selbst ein Kind seiner Zeit war, diese zwar kritisch beäugte, jedoch auch ihre gravierenden blinden Flecken mit sich trug, ist genauso festzuhalten. Als der amerikanische Pionier der Umweltgeschichte William Cronon 1991 ein Buch über die Industriemetropole Chicago und ihre Verflochtenheit mit dem Midwest veröffentlichte und dabei auch die für den Aufbau einer Verkehrsinfrastruktur wichtige Meatpacking-Industrie behandelte, zitierte er in einer Fußnote Giedions M.T.C.22 Gerade die Lektüre dieses Buches, nach wie vor ein Meilenstein der Umweltgeschichte, der Regionalgeschichte und der Wirtschaftsgeschichte, führt eklatant die Ignoranz der Moderne gegenüber der brutalen Gewalt ihrer großen Expansionsprogramme vor Augen, die Menschen, Tiere und Pflanzen in Massen »ausrottete« oder aus ihren angestammten Lebensräumen vertrieb. Auch eine Sozialgeschichte der Technik, welche die an Mechanisierungsprozessen sich entzündende soziale Frage einbezieht, vermag M.T.C. nicht zu leisten.

Doppelseite mit Illustrationen zum
mechanisierten Schweineschlachten,
unter anderem aus dem US-Patent von 1882 (rechts)
(aus: Sigfried Giedion, Mechanization Takes Command.
A Contribution to Anonymous History,
New York 1948, S. 230f.)

Andererseits ist der Autor gerade für seine Geschichte der Gewalt, genauer gesprochen für eine Geschichte der Mechanisierung des Tötens, nicht genug zu loben. In einer Zeit, als die Kritik an den Schlachthäusern Chicagos nach einer Skandalisierungswelle um 1900 verstummt war,23 widmete sich Giedion in einer der stärksten Passagen seines Buches dem Tabuthema der industrialisierten Tierschlachtung und Fleischverarbeitung. Er beobachtete, dass sich der Übergang vom Leben zum Tod allerdings letztlich der Mechanisierung entziehe, wenn er ohne Schaden für das Fleisch vor sich gehen sollte. Die organische Substanz widersetze sich der Mechanisierung, nur die Hand des Metzgers vermöge »die Präzision und Geschicklichkeit eines Chirurgen mit der Raschheit eines Akkordarbeiters [zu] vereinen« (S. 275). Bei dieser drastischen Passage erweist sich die große Gabe Giedions, genau hinzuschauen, gut hinzuhören und präzise zu beschreiben: »So zeigt sich, daß das Töten selbst nicht mechanisiert werden kann. Alles Gewicht liegt also auf der Organisation. In einem der großen Betriebe werden in der Sekunde durchschnittlich zwei Tiere getötet, was einer Tagesquote von nahezu sechzigtausend Stück entspricht. Die Todesschreie der Tiere mit den geöffneten Halsschlagadern vermischen sich mit dem Geräusch des riesigen Trommelradars, dem Lärm der Zahnräder und dem Zischen des Dampfes. Todesschreie und Maschinengeräusche sind kaum auseinanderzuhalten. Und auch das Auge kann kaum festhalten, was es sieht. [...] Es geschieht alles so rasch und ist so geschmeidig in den Produktionsvorgang eingegliedert, daß kein Gefühl aufkommt.« (S. 276)

Verworfener Umschlagentwurf von Stamo Papadaki, Mai 1947
(gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion)

Das Thema des industrialisierten Tötens fand auch Eingang in den Entwurf für einen Buchumschlag des griechischen Architekten Stamo Papadaki im Mai 1947, auf dem eine knallrot eingefärbte Nahaufnahme von Fleisch mit technischen Zeichnungen (eine Varianz von Rädern und Zahnrädern) aus dem 19. Jahrhundert überlagert wurde.24 Diese Mehrdeutigkeit und Drastik wollten Giedion und der amerikanische Verlag den Lesern schließlich doch nicht zumuten. Sie wählten stattdessen eine typografische Lösung.25 Kurze Zeit, notabene, nachdem das massenhafte Töten in den Konzentrationslagern auch vor dem Menschen nicht Halt gemacht hatte.


Anmerkungen:

1 Vgl. Reto Geiser, Giedion and America. Repositioning the History of Modern Architecture, Zürich 2018.

2 Vgl. den Dank des Autors in: Sigfried Giedion, Mechanization Takes Command. A Contribution to Anonymous History, New York 1948, S. vii.

3 Brief von Sigfried Giedion an Carola Giedion-Welcker, 20.9.1942; zit. nach Filine Wagner, Surrealist History. »Mechanization Takes Command« and Art as Method, in: Chan Carson/Graphische Sammlung ETH Zürich u.a. (Hg.), Richard Hamilton, Sigfried Giedion – Reaper, Zürich 2017, S. 193-211, hier S. 194. Zur Beziehung von Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker ist kürzlich ein schön gestaltetes Buch erschienen, mit Editionen und Abbildungen von Briefen sowie einem reichen Fundus von Fotografien: Almut Grunewald (Hg.), Die Welt der Giedions. Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker im Dialog, Zürich 2019.

4 Vgl. Eduard F. Seckler, Sigfried Giedion at Harvard University, in: Studies in the History of Art 35 (1990): Symposium Papers XIX: The Architectural Historian in America, S. 265-273, hier S. 269.

5 Ebd., S. 273.

6 gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion, 43-T-7, Konzept, Inhaltsverzeichnis, Einleitung, Schluss: Typoskript Sigfried Giedion, Size, Illustration, Text, NYC June 1942.

7 Ebd.

8 Zur Bild- und Buchgestaltung von MTC vgl. auch Gregor Harbusch, Mechanization Takes Command, 1948, in: Werner Oechslin/Gregor Harbusch (Hg.), Sigfried Giedion und die Fotografie. Bildinszenierungen der Moderne, Zürich 2010, S. 268-271.

9 Siehe dazu Sven Reichardt, Klaus Theweleits »Männerphantasien« – ein Erfolgsbuch der 1970er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 401-421.

10 Der Titel war zunächst ein Druckfehler (»Massage« statt »Message«), wurde vom Autor dann aber begeistert akzeptiert.

11 Hans Curjel, Aufstieg der Mechanisierung, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.11.1948, S. b. 9.

12 Herbert Marshall McLuhan, Encyclopedic Unities, in: Hudson Review 1 (1949), S. 599-602. Zur Beziehung von Giedion und McLuhan und ihren Montagetechniken vgl. Reto Geiser, »Verbio-Voco-Visual«. Montages in the Work of Sigfried Giedion and Marshall McLuhan, in: Nanni Baltzer/Martino Stierli (Hg.), Before Publication. Montage in Art, Architecture, and Book Design. A Reader, Zürich 2017, S. 74-92.

13 McLuhan, Encyclopedic Unities (Anm. 12), S. 599.

14 Giedion hat über McLuhan auch Eingang in den Kanon der Media Studies gefunden. In seiner 1964 erschienenen Monographie führte McLuhan M.T.C. in der kurzen Bibliographie »Further Readings for Media Studies« auf. Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964.

15 gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion, M.T.C. Rezensionen: Robert J. Forbes, Buchbesprechung: S. Giedion, Mechanization takes Command (a Contribution to Anonymous History), New York 1948, in: Les Archives Internationales d’Histoire des Sciences, No. 9, Oktober 1949, S. 1242-1245.

16 Reyner Banham, The Architecture of the Well-tempered Environment, London 1969.

17 Ebd., S. 16.

18 Die französische Übersetzung wurde im Verlag des Centre Georges Pompidou veröffentlicht: Sigfried Giedion, La mécanisation au pouvoir. Contribution à l’histoire anonyme, Paris 1980.

19 Hans Magnus Enzensberger, Unheimliche Fortschritte, in: Spiegel, 7.2.1983, S. 196-201.

20 Ebd., S. 196.

21 Enzensberger, Unheimliche Fortschritte (Anm. 19), S. 201.

22 William Cronon, Nature’s Metropolis. Chicago and the Great West, New York 1991, S. 441.

23 Vgl. Upton Sinclair, The Jungle, London 1906.

24 Vgl. gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Sigfried Giedion, 44-T-7. Materialien, diverse. Buchumschlag-Entwurf von Stamo Papadaki, Mai 1947, und Harbusch, Mechanization Takes Command (Anm. 8), S. 269.

25 Für das Cover der deutschen Erstausgabe von 1982 griff man schließlich auf das Werk »Composition aux clefs« von Fernand Léger (um 1924) zurück, das auch in Giedions Kapitel über Schlösser und Schlüssel vorkommt (Abb. 36, S. 89).

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