1/2020: Offenes Heft

Aufsätze | Articles

Alle Kriegsparteien bombardierten im Zweiten Weltkrieg Ziele, die lange Zeit als zivil gegolten hatten. Diese sogenannten strategischen Bombardierungen wurden im Auftrag der US-Regierung ab dem Kriegsende mit einem Stab von über 1.000 Mitarbeitern in Deutschland und Japan aufwendig evaluiert (United States Strategic Bombing Survey, USSBS). Mithilfe ambitionierter Sozialwissenschaftler gelang es der jungen US Air Force, den strategischen Luftkrieg als militärisch und psychologisch entscheidend darzustellen, und so taten sich für die Luftkriegsexperten auch nach 1945 attraktive neue Beschäftigungsfelder auf. Die Wissenschaftler argumentierten, sie seien in der Lage, methodisch abgesichert einen schnellen und vermeintlich »sauberen« Krieg aus der Luft zu planen. Der Aufsatz stellt die bisher kaum erforschten Logiken und Folgen dieser Kooperation sowie die behaupteten Lehren des Weltkrieges für den Korea- und den Vietnamkrieg dar. Damit hinterfragt er das gängige Verständnis einer radikalen Zäsur, die der erste Einsatz der Atombombe mit sich gebracht habe, und plädiert für einen neuen Blick auf die Militär-, Gewalt- und Wissensgeschichte des »Kalten Krieges«.

 *       *       *
No Zero Hour.
Social Scientific Expertise and the American Lessons of Air War

In World War II, all warring parties bombed targets previously regarded as civilian. After the war concluded, the US government commissioned a team of over 1,000 people in Germany and Japan to evaluate these so-called ›strategic bombing campaigns‹ (United States Strategic Bombing Survey, USSBS). With the help of ambitious social scientists, the US Air Force was able to cast the strategic air war as militarily and psychologically decisive, opening up new, attractive fields of study for experts of aerial warfare after 1945. These social scientists argued that with their special knowledge, they could plan methodically sound, quick and allegedly ›clean‹ warfare by air. This article depicts the largely unexplored logic behind, and consequences of, this cooperation, as well as the lessons claimed to be learned for the Korean and Vietnam War. It thereby questions the common understanding of the first deployment of an atomic bomb as a radical turning point, and establishes a new perspective on military history and the history of scientific knowledge during the Cold War.

Lange vor der Ära des Online-Datings begannen Heiratsagenturen und Partnerschaftsvermittlungen in den USA und in Europa den Computer einzusetzen, um die Märkte der »einsamen Herzen« zu erobern. Der Beitrag untersucht die Geschichte dieser elektronischen Kontaktvermittlung zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren. Wie änderten sich Vorstellungen von Liebe, Partnerschaft und Ehe im Zeitalter der »technokratischen Hochmoderne«? Und welche Rolle spielte der Computer dabei als »Elektronen-Amor« und »Matchmaking Machine«? Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte der Rechner zum »wissenschaftlichen« Werkzeug einer Optimierung des Privaten. Dabei reflektierte die Geschichte der elektronischen Partnervermittlung – von der »Eheanbahnung« bis zum »Single-Dating« – einen tiefgreifenden soziokulturellen Wandel. Allerdings gab es zugleich eine erstaunliche Persistenz tradierter Werte und Muster des Kennenlernens. So eröffnete das Computer-Dating einerseits gerade für Frauen neue Wege der Partnerwahl. Andererseits (re)produzierte es soziale, ökonomische, religiöse und kulturelle Trennlinien der Gesellschaft. Die »Algorithmen der Liebe« suchten vornehmlich nach Übereinstimmungen; sie schrieben dabei konventionelle Geschlechterbilder und soziale Rollenzuweisungen fort.

 *       *       *
Computer Love.
The Formative Years of Electronic Matchmaking in the US and Western Europe

Way before the era of online dating apps, marriage bureaux and dating agencies in the US and Europe began using computers to conquer the rapidly growing markets of the ›lonely hearts‹. This article explores the long and chequered history of electronic matchmaking since the 1950s. How did the concepts of love, partnership and marriage change over the years and under the premises of a ›technocratic high modernity‹? And what role did the computer play as ›electronic cupid‹ and ›matchmaking machine‹? Soon after the Second World War, the computer became a ›scientific‹ instrument for the optimization of the private, intimate spheres of life. Here, the history of electronic matchmaking – from ›matrimonial services‹ to the ›singles dating craze‹ – reflected far-reaching social and cultural changes. However, it also revealed a remarkable persistence of traditional norms and patterns of dating. In this context, computer dating ushered in new ways for women to deliberately choose their husbands and partners. At the same time, it (re)produced social, economic, religious and cultural divides. As the ›algorithms of love‹ paired matches according to the criterion of conformity, they perpetuated conventional role images, social values and moral concepts.

This article reassesses the emergence of human rights advocacy in 1970s West Germany from the perspective of memory politics. Focusing on the campaigns against political violence in South America, the article first traces the boom and bust of antifascist activism against the Chilean junta in the early 1970s. It then analyzes the displacement of abstract antifascist discourses by a more humanitarian human rights talk closely intertwined with concrete references to National Socialist crimes. Taking the perspective of grassroots advocates, this article explores how and why activists referenced the crimes of Nazism to defend human rights in the present. Finally, the article moves beyond the claim that human rights politics were minimalistic and even anti-antifascist, by showing how some human rights activists continued to think of themselves as antifascists. They infused antifascism with entirely new meanings by recovering the 20 July 1944 assassination attempt against Hitler as an acceptable example of anti-government violence.

 *       *       *
Vom Antifaschismus zu den Menschenrechten.
Geschichtspolitik in den westdeutschen Kampagnen gegen die Militärregime in Chile und Argentinien (1973–1990)

In diesem Aufsatz wird die Entstehung der Menschenrechtsinitiativen in Westdeutschland während der 1970er-Jahre aus der Perspektive der Geschichtspolitik neu bewertet. Mit Blick auf die Kampagnen gegen politische Gewalt in Südamerika zeichnet der Beitrag zunächst den Aufschwung und den Zusammenbruch antifaschistischer Politik gegen die chilenische Junta in den frühen 1970er-Jahren nach. Dann analysiert er den Wandel von abstrakten antifaschistischen Diskursen hin zu einem stärker humanitären Menschenrechtsgespräch, das eng mit konkreten Hinweisen auf nationalsozialistische Verbrechen verknüpft war. Der Beitrag untersucht die verschiedenen Gründe dafür, wie und warum Aktivisten die NS-Herrschaft als historische Kontrastfolie zur Verteidigung der Menschenrechte in der Gegenwart nutzten. Schließlich geht der Aufsatz über die Behauptung hinaus, dass Menschenrechtspolitik minimalistisch und sogar anti-antifaschistisch gewesen sei, indem er zeigt, wie einige Menschenrechtsaktivisten sich weiterhin als Antifaschisten betrachteten. Sie verliehen dem Antifaschismus völlig neue Bedeutungen, etwa mit Verweis auf das Attentat vom 20. Juli 1944 als akzeptables Beispiel für Gewalt gegen eine Terrorherrschaft.

In der Bundesrepublik und in der gesamten westlichen Welt außerhalb der USA wurde Auslandsbestechung bis Ende der 1980er-Jahre als ein legales Mittel der Exportförderung behandelt. Sie war straffrei und sogar steuerlich absetzbar. Das änderte sich erst im Zuge der »Compliance Revolution« der 1990er-Jahre. Der Beitrag analysiert diesen Wandel für die Bundesrepublik und untersucht die Debatten um die Auslandskorruption. Er konzentriert sich dabei auf die Positionen der Unternehmerschaft und der im Bundestag vertretenen Parteien. Ausgangspunkt ist der stabile Korruptionskonsens der Bonner Republik, der zunächst auch noch in der Berliner Republik Bestand hatte, dann aber unter dem Einfluss einer zunehmend kritischen Zivilgesellschaft und der internationalen Staatengemeinschaft zerbrach. Nachdem es unausweichlich geworden war, die Auslandskorruption zu ächten, wurde hartnäckig darum gerungen, mit welchen juristischen Mitteln sie zu bekämpfen sei. Am Ende eines von vielen Blockaden und Umleitungen verzögerten Prozesses stand ab 2002 die Strafbarkeit aller Arten von Auslandskorruption. Welche Ermittlungsinstrumente eingesetzt werden durften und wie effektiv die Strafverfolgung sein sollte, blieb jedoch weiter strittig. Der Aufsatz zeigt nicht zuletzt die Rückwirkungen internationaler Rechtsnormen für die nationalstaatliche Ebene.

 *       *       *
From Export Promotion to Felony.
The Criminalization of Foreign Corruption in the Federal Republic of Germany since 1990

In the Federal Republic of Germany and in the entire Western world with the exception of the USA, bribery abroad was treated as a lawful instrument of export promotion until the end of the 1980s. It was not indictable, and was even tax deductible. This only changed in the course of the ›Compliance Revolution‹ of the 1990s. The article analyzes this process as it pertained to the Federal Republic of Germany and examines the debates on foreign corruption. It focuses on the attitudes of economic elites and the parties represented in the Bundestag. The starting point is the unquestioned acceptance of foreign corruption in the Bonn Republic, which initially lasted well into the Berlin Republic, but then crumbled under the influence of an increasingly critical civil society and the international community. After outlawing foreign corruption had become inevitable, there was a persistent struggle over the exact design of the legislation and the vigor of its implementation. At the end of a long drawn-out process delayed by many obstructions and diversions, all types of foreign corruption became punishable by 2002. Which investigation tools were permissible and how stringent prosecution should be, however, remained contentious. Crucially, the article also reveals the repercussions of international legal norms for nation states.

Essays

  • Constantin Goschler

    Die Vermessung der Zeitgeschichte

    Quantifizierte Forschung und ihre ambivalenten Effekte

  • Georg Toepfer

    Diversität

    Historische Perspektiven auf einen Schlüsselbegriff der Gegenwart

Quellen | Sources

Besprechungen | Reviews

Neu gelesen

  • Monika Dommann

    Mit dem Fließband zum Fortschritt?

    »M.T.C.«: Sigfried Giedions visuelle Historiographie der Mechanisierung in den USA

  • Henning Tümmers

    »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«?

    Robert Jay Liftons Psychohistorie »Ärzte im Dritten Reich« (1986/88)

zu Rezensionen bei »H-Soz-Kult/Zeitgeschichte«

Neu

bei »Docupedia-Zeitgeschichte« und »zeitgeschichte | online«