„Nur Idioten ändern sich nicht“

Biographischer Wandel und historische Sinnkonstruktion im Dokumentarfilm „Die Anwälte“

Anmerkungen

Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte, Buch und Regie: Birgit Schulz, Produktion: Bildersturm Filmproduktion GmbH, in Koproduktion mit WDR, NDR, RBB, in Zusammenarbeit mit Arte, Deutschland 2009, 92 Min.,
Website: http://die-anwaelte.realfictionfilme.de, Begleitband: Birgit Schulz/Martin Block, Die Anwälte. Ströbele, Mahler, Schily – Eine deutsche Geschichte, Köln 2010.

 

Trailer: Die Anwälte

 

Berlin-Moabit, 1971: Drei Anwälte sitzen im Gerichtssaal – der eine, Horst Mahler, als Angeklagter, dem die Mitgliedschaft in der Roten Armee Fraktion (RAF) vorgeworfen wird; die beiden anderen, Hans-Christian Ströbele und Otto Schily, als seine Verteidiger. Ein Foto dieser Szene wählt die Regisseurin Birgit Schulz als Einstieg für ihren Dokumentarfilm „Die Anwälte“ über die Lebensläufe von Mahler, Ströbele und Schily, die sich damals in jenem Gerichtssaal kreuzten, in dem sie nun für den Film interviewt wurden. Doch geht Schulz weit über diesen Schnittpunkt hinaus. Sie nutzt das Foto als Ausgangspunkt für eine filmische Parallelbiographie, die den Werdegang der drei Anwälte bis in die Gegenwart verfolgt. Die Protagonisten werden nicht allein als „RAF-Anwälte“ beschrieben – eine Kennzeichnung, gegen die sie sich auch selbst verwahren. So betont Schily, wie unsinnig das Label „Terroristenanwalt“ sei. Man werde ja auch nicht zum „Mörderanwalt“, wenn man einen Mörder verteidige, oder zu einem „Flick-Untersuchungsanwalt“, nur weil man den gleichnamigen Untersuchungsausschuss geleitet habe. Damit gibt Schily das Stichwort für eine weitere zentrale Episode der jüngeren bundesdeutschen Zeitgeschichte, die der Film in biographisch verdichteter Form erzählt. „Eine deutsche Geschichte“ lautet schließlich auch der Untertitel des Films, dessen Protagonisten die Geschichte der Bundesrepublik gleichermaßen entscheidend mitgestaltet haben, wie sie umgekehrt von ihr geprägt wurden.

Die drei Anwälte haben seit ihrer gemeinsamen Zeit in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen.1 Während Ströbele als „linkes Gewissen der Grünen“ (so der Trailer zum Film) seine politische Orientierung weitgehend beibehalten hat, sind sowohl Schily als auch Mahler politisch nach rechts gerückt – freilich in sehr unterschiedlichem Maße: Schily wurde 1998 Innenminister und trieb in dieser Funktion Sicherheitsgesetze voran, die er 20 Jahre zuvor noch vehement bekämpft hatte.2 Mahler dagegen entwickelte sich vom Anwalt und Mitglied der RAF zum Neonazi und Holocaustleugner.3 Diese ausgesprochen spannende Konstellation wirft die grundsätzliche Frage nach den Hintergründen des biographischen Wandels auf. Wie lassen sich die lebensgeschichtlichen Brüche erklären? Zwar wird die Frage im Film weder explizit formuliert noch eindeutig beantwortet. Gleichwohl werden die persönlichen Entwicklungslinien der Anwälte fortwährend verhandelt. Auf drei Ebenen wird den Biographien von Mahler, Ströbele und Schily Sinn verliehen: erstens durch die interviewten Protagonisten selbst, zweitens durch die Regisseurin und Drehbuchautorin sowie drittens durch die Zuschauer des Kinofilms. Diesen sich teilweise überlagernden Prozessen biographisch-historischer Sinnkonstruktion möchte ich im Folgenden nachspüren.

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1. „Der Holocaust als Urmotiv politischer Sozialisation“

Alle drei Anwälte wurden in den 1930er-Jahren geboren. Im Film kommen sie wiederholt auf Kindheitserlebnisse im Nationalsozialismus zurück. Die persönlichen Erfahrungen mit dem Regime werden von den Protagonisten als Grundlage der eigenen Biographie und Überzeugung charakterisiert; dies geschieht jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. Schily, Jahrgang 1932, bezeichnet den „Holocaust als Urmotiv meiner politischen Sozialisation“. In einer bewegenden Bundestagsrede, die im Film leider undatiert wiedergegeben wird, schildert er die regimekritische Haltung seiner engsten Familienangehörigen, um dann jedoch zu betonen, dass der einzige, der „für eine gerechte Sache sein Leben eingesetzt“ habe, sein Schwiegervater Jindrich Chajmovic gewesen sei, der als jüdischer Partisan in Russland gegen die Wehrmacht gekämpft hatte.4 Schily deutet seine eigene Biographie als Verpflichtung gegenüber der deutschen Geschichte. Die unbedingte Verteidigung des Rechtsstaates, aber auch des staatlichen Gewaltmonopols wird aus der Diktaturerfahrung heraus begründet. Hiermit rechtfertigt Schily nicht zuletzt auch sein Engagement im gescheiterten NPD-Verbotsverfahren von 2002.

Ströbele, Jahrgang 1939, historisiert die Bedeutung des Nationalsozialismus für seine Biographie, indem er darauf verweist, dass ihm zu Zeiten der APO die behauptete Analogie zwischen dem nationalsozialistischen Terror und amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam evident erschienen sei. Dies habe entscheidend zu seiner Radikalisierung Ende der 1960er-Jahre beigetragen. Heute wählt Ströbele einen sehr persönlichen Blick auf die eigene Kriegserfahrung. Er erinnert sich im Gespräch, wie er und einige Kinder aus der Nachbarschaft gegen Ende des Krieges mit Blindgängern hantierten. Als schließlich eine Granate explodierte und einen seiner Freunde tötete, war er nur zufällig kurz im Haus verschwunden. Die distanzierte Historisierung früherer Überzeugungen und die historische Kontingenzerfahrung kommen in seiner biographischen Erzählung gleichermaßen vor.

Mahler, Jahrgang 1936, berichtet von den Dankgebeten in seiner mittelständischen schlesischen Familie, die bis 1945 stets Adolf Hitler mit eingeschlossen hätten. Er deutet dies heute als „nicht erzwungenes Bekenntnis von innen her“. Offenkundig stiftet Mahler hier metaphysische Kontinuitäten zu seinen heutigen rechtsradikalen Überzeugungen.5 Viel mehr ist von ihm in dieser Hinsicht nicht zu erfahren. Mahler wird im Film nicht der Raum dafür gelassen, auf Basis persönlicher Erfahrungen seine völkischen und antisemitischen Ideen zu entwickeln und zu verbreiten.6 Die Trennung des Zeitzeugen vom rechten Ideologen stellte gewiss eine der großen Herausforderungen für das Filmprojekt dar. Den damit verbundenen Fallstricken entgeht der fertige Film zum Glück weitestgehend.7

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2. „Das Klicken in der Nierenschale“

Die Regie ist mehr als ein bloßes Korrektiv biographischer Selbststilisierungen. Die produktive Arbeit der Filmemacherin und Journalistin Birgit Schulz bildet vielmehr die zentrale zweite Ebene biographisch-historischer Sinnkonstruktion. Bereits in früheren Produktionen über Romy Schneider, Hildegard Knef und Alice Schwarzer hatte Schulz einen biographischen Zugang gewählt.8 Für „Die Anwälte“ entwarf sie nun eine aufwändige Dreier-Konstellation. Durch die Fragen, die im Film nicht zu hören sind, steuerte sie die Interviews. Ihre Montage setzt die ausgewählten Gesprächspassagen miteinander in Beziehung und ergänzt sie durch historische Originalaufnahmen. Auf diese Weise schafft die Regisseurin ihr eigenes Narrativ.

Der Film verfolgt eine chronologische Erzählweise, versucht jedoch nicht, die Biographien vollständig wiederzugeben. In der Konzentration auf wesentliche Momente liegt eine der Stärken des Films. Dabei setzt Schulz die einzelnen Lebensabschnitte immer wieder in Beziehung zu den großen zeitgeschichtlichen Zäsuren. Hierfür arbeitet sie mit einer ikonographischen Verdichtung, die durchaus an die detailversessene Re-Inszenierung sattsam bekannter visueller Pop-Ikonen in Uli Edels „Baader Meinhof Komplex“ (2008) erinnert, auch wenn es sich hierbei um einen Spielfilm handelt.9 In beiden Filmen erfüllt der dokumentarisch inszenierte Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 dieselbe dramaturgische Funktion: Er soll authentifizierend wirken und die Politisierung der Protagonisten erklären.

Die visuelle Argumentation wird durch passend gewählte Aussagen der Anwälte unterstützt. Mit drastischen Worten schildert Mahler seine Erinnerung an Ohnesorgs Obduktion, bei der ein Polizeiprojektil aus der Schädeldecke geholt wurde: „Ich höre das Klicken noch in der Nierenschale.“ Ströbele bezeichnet den 2. Juni 1967 als „Schicksalstag“ und Anlass seiner Beteiligung an der APO. Schily charakterisiert seine Rolle als Nebenkläger im Strafverfahren gegen den Todesschützen Karl-Heinz Kurras als seinen ersten politischen Prozess.10 Die Zeitzeugenerinnerung entspricht hier ganz dem medialen Gedächtnis, in dem der tote Ohnesorg zu einer Chiffre geworden ist, die die Radikalisierung der APO wie von selbst zu erklären scheint. Dabei muss offen bleiben, inwieweit die Erinnerungen der interviewten Anwälte ihrerseits der medialen Vorstrukturierung des Gedächtnisses unterliegen.11

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Die Protagonisten erzählen ihre Geschichte scheinbar selbst. Abgesehen von einer einführenden Vorstellung der drei Anwälte kommentiert kein auktorialer Erzähler das gezeigte Material. Diese Gelegenheit zur Selbstdarstellung hat deutliche Einwände hervorgerufen. So moniert der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP), dass die Anwälte mit ihren den Film dominierenden Monologen die Deutungshoheit über die erzählte Zeit und über ihr eigenes Verhalten erhielten.12 Eine solche Kritik verkennt jedoch, dass sich die narrativen Zusammenhänge vor allem aus der handwerklich hervorragenden Montage des Films ergeben.13 „Die Anwälte“ setzt sich ausschließlich aus den drei gefilmten Interviews sowie zeitgenössischem Bild- und Tonmaterial zusammen. Hierbei wird der Montagecharakter des Films durchaus sichtbar gemacht; Birgit Schulz verwendet dafür verschiedene Verfremdungseffekte. Historische Fernsehbeiträge werden in einem verkleinerten Bildausschnitt gezeigt, der an eine alte Mattscheibe erinnert. Tondokumente werden mit anderen Filmaufnahmen kombiniert, so dass neue Bild-Ton-Collagen entstehen. Die Anwälte schließlich werden bei den Interviews im Gerichtssaal aus den unterschiedlichsten Winkeln gefilmt, wobei der Kamerafokus von Großaufnahmen des Gesichts bis hin zu Totalen im Profil reicht. Das erlaubt eine Distanzierung von den Protagonisten.

Gleichwohl entwickelt der Film mitunter eine starke Suggestionskraft. Vor allem die vorwärtstreibende Musik und die kammerspielartigen Interviewsequenzen vermögen es, den Betrachter in den Bann zu ziehen. Darin gleicht „Die Anwälte“ dem vielfach ausgezeichneten Dokumentarfilm „Black Box BRD“ von Andres Veiel (2001).14 In beiden Filmen handelt es sich zudem um Parallelbiographien, die sich auf Basis intensiv geführter Zeitzeugeninterviews dokumentarisch mit der RAF auseinandersetzen – nur dass sich im Falle von „Black Box BRD“ die Lebenswege der beiden Protagonisten Wolfgang Grams und Alfred Herrhausen erst kurz vor ihrem gewaltsamen Tod kreuzten und beide nicht mehr für Gespräche zur Verfügung stehen konnten. In Veiels Film werden die Biographien daher vor allem durch Gespräche mit Angehörigen und einstigen Weggefährten rekonstruiert, was ungleich tiefere Einblicke in die unterschiedlichen soziokulturellen Milieus der alten Bundesrepublik erlaubt.

In „Die Anwälte“ kommen die Protagonisten der Parallelbiographie selbst zu Wort. Dabei ist bemerkenswert, wie sie sich vor der Kamera inszenieren und wie sie im Film zusammen mit dem Archivmaterial in Szene gesetzt werden. Schily erscheint im Interview verblüffend altersmilde und emotional. Das steht in starkem Kontrast zu der engagierten Rhetorik, wie sie in den historischen Aufnahmen Schilys auf beeindruckende Weise zum Vorschein kommt. Der einst scharfzüngige Verteidiger des Rechtsstaates und „omnipotente Avantgardist der Realpolitiker“15 ist der heimliche Star des verwendeten Archivmaterials – wahrscheinlich deshalb, weil er das Spiel mit der Öffentlichkeit am besten beherrschte.16 Ströbele wirkt im Interview ungebrochen idealistisch und kämpferisch, jedoch rhetorisch weniger begnadet. Mahler schließlich dominiert die heutigen Interviewsequenzen mit beklemmender Souveränität. Ausgerechnet er argumentiert am präzisesten und historisiert die gemeinsame APO-Zeit am konsequentesten. Das steht in einem starken Kontrast zu den bewusst knapp gehaltenen Archivaufnahmen aus jüngerer Zeit, in denen Mahler sich mit seinen rechtsradikalen Thesen selbst diskreditiert. So hinterlässt er schließlich einen äußerst zwiespältigen Eindruck.

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3. „Da fehlen mir die Worte“

Birgit Schulz lässt Ambivalenzen bestehen und bietet dem Publikum dadurch mehrere Lesarten ihres Filmes an. Das gilt auch für die Frage nach dem biographischen Wandel der Protagonisten, die der Zuschauer letztlich ohnehin für sich selbst beantwortet. Abgesehen von der eigenen Filmwahrnehmung und veröffentlichten Kritikermeinungen ist diesem dritten, individuellen Prozess historischer Sinnkonstruktion schwer nachzuspüren. Gerade in der eigensinnigen Aneignung des filmischen Materials besteht jedoch ein besonderes Merkmal des audiovisuellen Mediums.17

Die Kinobesucher erhalten von den Protagonisten und von der Regisseurin mehrere Angebote, um dem biographischen Wandel der Anwälte Sinn zu verleihen. Im Falle Schilys ist das von bemerkenswerter Widersprüchlichkeit. An einer Stelle des Interviews gibt er offen zu: „[…] ich habe die Macht angestrebt, das stimmt“, und fügt hinzu: „Nur Idioten ändern sich nicht.“ Damit entfaltet er ein pointiertes anthropologisches Argument, das für jene Zuschauer anschlussfähig sein dürfte, die der Überzeugung sind, wer in der Jugend nicht links sei, habe kein Herz, und wer im Alter nicht rechts sei, habe keinen Verstand. Untermalt wird Schilys Aussage allerdings mit den bekannten Fernsehbildern des Innenministers mit Polizeihelm und Gummiknüppel. Das ist ein starkes visuelles Angebot für linke und liberale Kritiker von Schilys späterer Sicherheitspolitik. An einer anderen Stelle des Films bestreitet Schily dagegen den Bruch in seiner Biographie. Mit dem Hinweis, law and order seien sozialdemokratische Werte, argumentiert er: „Die Sicherheit der Bürger ist die vornehmste Aufgabe des Rechtsstaates.“ Beides stehe in keinem Gegensatz zueinander.18 Indem Schily versucht, den Widerspruch aufzulösen, bemüht er sich um Kohärenz im biographischen Selbstbild.19 Auch das ist ein ernstzunehmendes Angebot an die Zuschauer, welches das menschliche Bedürfnis nach einer stringenten Lebensgeschichte bedient.

Ganz anders Ströbele. Gerade derjenige, der sich selbst am stärksten „treu“ geblieben zu sein scheint, befasst sich in den Interviewsequenzen am deutlichsten mit eigenen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. So gesteht Ströbele, er wünsche sich heute eine Gesellschaft, in der Sozialismus mit Freiheit gleichgesetzt werde, aber auf gar keinen Fall mehr eine Diktatur des Proletariats. Selbstkritisch reflektiert Ströbele auch den Wandel in der bundesdeutschen Protestkultur und schildert seine „Begeisterung und Bewunderung“ für die breiten neuen sozialen Bewegungen, die Ende der 1970er-Jahre auf die zahlenmäßig marginale Studentenbewegung folgten. Andererseits wird im Film immer wieder Ströbeles Beständigkeit inszeniert. Das reicht von Interviewpassagen über sein kindliches Gerechtigkeitsempfinden bis hin zu der verzweifelten Bundestagsrede, die Ströbele 1999 anlässlich des Beschlusses zur Beteiligung der Bundeswehr an NATO-Operationen im Kosovo hielt. Es ist genau diese Mischung aus gemäßigter Entradikalisierung und politisch-moralischer Integrität, mit der der Film Ströbeles Biographie vielleicht am nachvollziehbarsten erscheinen lässt.

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Mahlers Rechtsruck bleibt dagegen ein Rätsel. Er selbst versteht ihn nicht als Bruch, sondern spricht von einer Entwicklung, die in sich logisch erscheine. Im Gespräch führt er seinen diametralen Sinneswandel auf die Lektüre von Hegels Werken zurück, die ihm ausgerechnet Schily als 20-bändige Gesamtausgabe mit ins Gefängnis gebracht hatte.20 Gefragt nach seiner heutigen Einschätzung von Mahlers Absturz ins rechtsradikale Lager, wehrt Ströbele ab: „[…] da fehlen mir die Worte.“ Und Schily meint lediglich: „Das ist eine Tragödie.“ Eine Erklärung hat auch er nicht. Das letzte Mal begegnet er Mahler im Film während des NPD-Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Schily vertritt als Innenminister die Bundesregierung, Mahler die NPD. Der Ausgang ist bekannt: Aufgrund zahlreicher V-Leute in den Reihen der Partei scheiterte das Verbotsverfahren. In dieser Konfrontation der beiden Anwälte liegt die traurige Ironie am Ende der Geschichte.

Kanzleischild des „Sozialistischen Anwaltskollektivs“, 1970
(Foto: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Zeitgeschichtliche Sammlung, Signatur 6/FOTB022239)

Zum Schluss des Films zeigt Birgit Schulz noch einmal das Eingangsfoto, auf dem Ströbele, Schily und Mahler 1971 zusammen im Moabiter Gerichtssaal zu sehen sind. Heute würden die Anwälte nicht mehr zusammen für ein Foto posieren – für den Film konnten sie im selben Gerichtssaal nur einzeln interviewt werden. Die Konstellation ähnelt hingegen der damals fotografierten Szene. Während Mahler nach dem Interview wieder ins Gefängnis ging, verließen Ströbele und Schily den Gerichtssaal, um zurück ins öffentliche Leben zu gehen. Damit schließt sich der Erzählbogen um 40 Jahre bundesdeutsche Zeitgeschichte, auf die der Film drei sehr persönliche Perspektiven eröffnet. Die Frage nach den Hintergründen des biographischen Wandels der drei Anwälte bleibt dagegen (wohl unvermeidlich) offen.

Anmerkungen: 

1 Im Berufsverständnis lassen sich allerdings bereits zu APO-Zeiten Unterschiede zwischen den drei Anwälten ausmachen. Während Mahler sein anwaltliches Selbstverständnis weitgehend dem Anspruch der RAF unterordnete und Ströbele die Möglichkeiten der Anwaltsrolle zumindest bis an die Grenzen austestete, vertrat Schily seine Mandanten strikt im Rahmen des gesetzlich Zulässigen. Vgl. Stefan Reinecke, Die linken Anwälte. Eine Typologie, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 948-956.

2 Grundlegend: Stefan Reinecke, Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister, Hamburg 2003.

3 Siehe v.a. Eckhard Jesse, Biographisches Portrait: Horst Mahler, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 13 (2001), S. 183-199; Martin Jander, Horst Mahler, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1, Hamburg 2006, S. 372-397. Jander betont, dass Mahler seine politische Orientierung faktisch zweimal gewechselt habe: zunächst vom Nazi-Sohn und Burschenschaftler zum Sozialdemokraten und zum Leninisten, dann vom APO-Anwalt und RAF-Terroristen zum Neonationalsozialisten. Vgl. auch den Exkurs zu Horst Mahler bei Reinecke, Otto Schily (Anm. 2), S. 350-355.

4 Schily hielt die Rede am 13. März 1997 in der Debatte um die erste „Wehrmachtsausstellung“. Nachzulesen ist die Rede unter http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/13/13163.pdf, S. 14713ff.

5 Dieses Bild einer Rückkehr zu politischen Prägungen der Kindheit wird auch von Martin Jander aufgegriffen, um Mahlers biographischen Wandel nachzuvollziehen: „Er löste sich aus dem elterlichen nationalsozialistischen Milieu in Richtung Leninismus und kehrte von dort aus über die christliche Kulturkritik zur nationalsozialistischen Haltung seines Elternhauses zurück.“ Jander, Horst Mahler (Anm. 3), S. 394.

6 Zu Mahlers Ideologie vgl. Rainer Erb/Andreas Klärner, Antisemitismus zur weltgeschichtlichen Sinnstiftung. Horst Mahler vor Gericht, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 14 (2005), S. 111-134.

7 Zu einem entgegengesetzten Urteil kommt Christian Buß, Die drei Fragezeichen. Polit-Doku „Die Anwälte“, 17.11.2009, online unter URL: http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,661717,00.html.

8 Eine Filmographie von Birgit Schulz findet sich unter http://die-anwaelte.realfictionfilme.de/regie.php.

9 Website zum Film: [...][Anm. der Red.: Link ist nicht mehr verfügbar]. Siehe auch die Diskussionsbeiträge und Materialien unter http://www.zeitgeschichte-online.de/md=RAF-Film-Inhalt.

10 Kurras’ Zuträgerdienste für die Stasi waren zum Zeitpunkt der Interviews offenbar noch nicht bekannt; jedenfalls gibt es an keiner Stelle des Films einen Hinweis darauf. Allerdings erscheint es fraglich, ob diese Information die Deutung des 2. Juni 1967 substantiell geändert hätte.

11 Zur Prägekraft von Filmen für die individuelle Vergangenheitserzählung siehe Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002, S. 108, S. 129ff.

12 Gerhart Baum, Im Zeugenstand. Der Anwalt und frühere Innenminister Gerhart Baum über den bedenklichen Dokumentarfilm „Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte“, in: ZEIT, 26.11.2009.

13 Zur Montage als konstitutivem Funktionszusammenhang von Spiel- und Dokumentarfilmen siehe Gertrud Koch, Nachstellungen – Film und historischer Moment, in: Klaus E. Müller/Jörn Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 536-551, hier v.a. S. 538.

14 Siehe http://www.black-box-brd.de. Der Film erzählt die Lebensgeschichten des Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen und des RAF-Terroristen Wolfgang Grams, der 1989 mutmaßlich an der Ermordung Herrhausens beteiligt war und selbst 1993 in Bad Kleinen bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben kam.

15 Saskia Richter, Die Utopistin und der Realissimo: Jutta Ditfurth und Otto Schily. Zwei Pole grüner Politik und zwei politische Wege, in: SOWI 34 (2005) H. 1, S. 65-71, hier S. 66.

16 Vgl. ebd., S. 68.

17 Vgl. Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 72-85.

18 Zu Schilys Verständnis von Freiheit und Sicherheit siehe auch Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 907.

19 Stefan Reinecke attestiert Schily eine grundsätzliche Reflexionsschwäche; Schily habe sich nie klargemacht, wie er vom Linken zum Rechten, vom Liberalen zum Konservativen geworden sei. Vgl. Reinecke, Otto Schily (Anm. 2), S. 374-379.

20 Vgl. ebd., S. 352.

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