Ein Fundament der Forschung

Zum Abschluss der Quellenedition »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945«


  1. Genese
  2. Umsetzung
  3. Rezeption und Wirkung
  4. Ausblick

Anmerkungen

[Ich danke Susanne Heim, der langjährigen Projektleiterin der Gesamtedition, für eine ausführliche E-Mail-Korrespondenz sowie eine Durchsicht des Textes, Wulf Kansteiner für eine Diskussion kritischer Punkte sowie Sonja Knopp (Institut für Zeitgeschichte München – Berlin) und Adina Stern (Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin) für die Unterstützung bei der Recherche nach Rezensionen der VEJ.]

»Die deutschen Juden, denen die neue Wendung nicht unerwartet kommen kann, haben ihre innere Ruhe und Würde zu wahren. Es ist selbstverständlich, daß das deutsche Judentum sich gegen jeden Versuch der formalen und tatsächlichen Entrechtung und Depossedierung mit allen Mitteln und aller Energie zur Wehr setzen wird. Diesen Kampf kann nur ein Judentum führen, das von unbeugsamem Stolz auf sein Volkstum erfüllt ist. Mit Versuchen der Anpassung und Selbstverleugnung ist es vorbei.«1

Am 31. Januar 1933 rief die in Berlin erscheinende »Jüdische Rundschau«, ein Organ der zionistischen Bewegung, in einem selbstbewussten und kämpferischen Ton die deutschen Juden zum Widerstand auf. Der Leitartikel vom Tag Eins nach der »neuen Wendung«, gemeint war die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, ist das erste Dokument der Edition »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland«.

Auf den Zeitungsartikel folgen mehr als 5.000 Dokumente in insgesamt 16 Bänden, die die Prozesse der Definition, der Enteignung, der Entrechtung, der Versklavung, der Deportation und schließlich der Ermordung der von den Nationalsozialisten als »Juden« verfolgten Menschen in allen Teilen Europas dokumentieren. Die Quellensammlung umfasst den gesamten Zeitraum der NS-Herrschaft vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945. Die Schriftstücke sollen dabei zunächst jeweils für sich stehen, von einer Einzelepisode berichten, ein Detail im historischen Prozess repräsentieren. Zugleich aber sollen sie in ihrer Summe das Gesamtgeschehen überliefern. Die Anfänge der ambitionierten und im Frühjahr 2021 abgeschlossenen Edition reichen zurück bis zur Jahrtausendwende.

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Website der Edition »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden
durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945« (VEJ)
(Screenshot vom Dezember 2021)

Am 27. Januar 2005, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, kündigte Lorenz Jäger im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« eine »umfassende Quellenedition« zum Holocaust an, die die Historiker Götz Aly und Ulrich Herbert, das Bundesarchiv und das Münchener Institut für Zeitgeschichte planten.2 Der Arbeitstitel des Projekts laute »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945«, vorgesehen seien 16 Bände, die innerhalb von acht Jahren erscheinen sollten.

Nur wenige Monate nach der Ankündigung der Quellenedition wurde in der Mitte Berlins das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eingeweiht, begleitet von dem Ansinnen, dass das Erforschen und Erinnern damit nicht enden dürften. So ist wohl die verbreitete Bezeichnung der Edition als »Schriftdenkmal« aufgekommen, die Horst Möller, einer der Herausgeber, in einem Interview durchaus kritisch sah: Zuallererst sei das Vorhaben ein wissenschaftliches Werk, ein Projekt der historischen Forschung. Daraus entstehe aber gerade wegen der Opferdokumente auch ein Mahnmal – das sei jedoch ein Nebeneffekt und nicht der eigentliche Zweck der Edition.3

Der im Jahr 2005 verwendete Arbeitstitel wurde schließlich drei Jahre später, als der erste Band erschien, auch zum Buchtitel, heute oft abgekürzt als »VEJ«. Mit dem Erscheinen des Bandes »Ungarn 1944–1945« im Mai 2021 ist die deutsche Ausgabe der Quellenedition, ein vor allem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziertes Verbundvorhaben, nun abgeschlossen.4 Es blieb beim geplanten Umfang von 16 geographisch und chronologisch gegliederten Bänden. Nur der anvisierte Bearbeitungszeitraum verdoppelte sich nicht zuletzt wegen der umfangreichen, weltweiten Quellenrecherchen auf insgesamt 16 Jahre. Für zahlreiche Tages- und Wochenzeitungen war der Abschluss der Edition Grund genug, diese als Gesamtwerk zu würdigen.5 Welchen hohen erinnerungspolitischen Stellenwert das Projekt hat, zeigt auch die Tatsache, dass die Herausgeberinnen und Herausgeber am 16. Juni 2021 im Schloss Bellevue von Frank-Walter Steinmeier empfangen wurden, um die 16 Bände zu übergeben. Der Bundespräsident unterstrich bei dieser Gelegenheit die Doppelfunktion der Edition von Forschen und Gedenken und lobte die Rolle der deutschen HistorikerInnenzunft bei der Erarbeitung der Bände (wenngleich gerade der wissenschaftliche Beirat der englischen Ausgabe der VEJ sehr international ist): »Unser Land steht in der Pflicht, die Holocaust-Forschung zu fördern und das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus lebendig zu halten. Die Edition über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie die deutsche Geschichtswissenschaft Verantwortung übernimmt, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.«6 Nachdem Andrej Angrick das Vorhaben 2008 in den »Zeithistorischen Forschungen« knapp vorgestellt hat,7 ist der Abschluss des Projekts Anlass, um hier auch das nunmehr vorliegende Gesamtwerk in den Blick zu nehmen.

1. Genese

Die frühe Holocaust-Forschung stützte sich vor allem auf die Akten der Nürnberger Prozesse, was eine gewisse Einseitigkeit zugunsten einer Täterperspektive in den ersten Gesamtdarstellungen zur Folge hatte. Mit Raul Hilbergs 1992 erschienener Darstellung »Täter Opfer Zuschauer«, die erstmals die »Bystander« einbezog (ein mit »Zuschauer« völlig unzureichend ins Deutsche übersetzter Begriff), und mit Saul Friedländers Konzept der »integrierten Holocaustgeschichte«,8 die den Zeugnissen der Verfolgten denselben Quellenwert und Rang wie den Täterdokumenten einräumte, verbreiterte sich die Quellenbasis erheblich, was seinen Niederschlag in der Konzeption der VEJ fand.

In den einzelnen Bänden sollten zu gleichen Teilen Opfer- und Täterdokumente vertreten sein (jeweils ungefähr 40 Prozent), ergänzt durch Quellen aus der Gruppe der sogenannten nicht unmittelbar beteiligten Dritten, also der Zuschauer, Mitläufer, Alliierten, nichtjüdischen Zeuginnen und Zeugen etc. Die Texte dokumentieren die ganze Bandbreite der Haltungen und Handlungen der Mehrheitsbevölkerung bei der Ausgrenzung und Verfolgung der jeweiligen jüdischen Minderheiten.

Die Quellenedition hatte mit dem Mitte der 1950er-Jahre von Joseph Wulf und Léon Poliakov auf Deutsch herausgegebenen Dokumentenband »Das Dritte Reich und die Juden«, mit dem 1971 von Raul Hilberg edierten, jedoch nie auf Deutsch erschienenen Taschenbuch »Documents of Destruction. Germany and Jewry 1933–1945« sowie mit dem 1983 von Kurt Pätzold im Leipziger Reclam-Verlag zusammengestellten Quellenband »Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942« unter anderem drei historische Vorläufer – allerdings bei weitem nicht im jetzigen Umfang.9 In der Pätzold-Edition finden sich fast ausschließlich Täterdokumente, darunter Vermerke, Verordnungen, Gesetze, Erlasse, aber auch einige zeitgenössische Zeitungsberichte – eine Quellengattung, die in den VEJ ebenfalls vertreten ist. Mit nur 50 Dokumenten ist das Spektrum der Hilberg-Edition gegenüber der VEJ mit allein 350 Dokumenten pro Band jedoch wesentlich geringer. Zudem gibt sie vor allem bekannte Schlüsseldokumente wieder, während die VEJ auch einen hohen Anteil bislang unbekannter Dokumente berücksichtigt.

Im September 1995 berichtete Raul Hilberg auf Nachfrage in einem Brief an seinen Lektor Walter Pehle im S. Fischer Verlag, dass er die »Idee einer Dokumenten­serie« bereits 1979 als Mitglied der von Jimmy Carter einberufenen »President’s Commission on the Holocaust« vorgetragen habe – ohne Erfolg. In seinem Schreiben an Pehle schlug er jedoch vor, einen neuen Versuch zu starten, diesmal in Deutschland und mit einem deutschen Verlag. Gerade nach der Öffnung der Archive in den ehemals sozialistischen Staaten lohne ein solches Vorhaben in besonderer Weise. Hilberg schrieb: »Jetzt bin ich vollkommen überzeugt, daß eine für künftige Generationen wertvolle Zusammenstellung erst zu dieser Zeit und nur in Deutschland richtig angefaßt werden kann. So stehen die jüngst [noch] verschlossenen Archive von Potsdam bis Moskau [nun] zur Verfügung.«10

In der Bundesrepublik wurde erst um das Jahr 2000 herum eine solche Edition möglich, die eine starke institutionelle Verankerung brauchte. Der S. Fischer Verlag nahm das Projekt zwar seinerzeit nicht in Angriff, später aber unterstützte die S. Fischer Stiftung maßgeblich das Erscheinen des ersten Bandes als Pilotvorhaben für die ganze Reihe. Diese wurde schließlich im Oldenbourg Wissenschaftsverlag publiziert (ab 2013 De Gruyter Oldenbourg), einem etablierten Verlag, in dem die Reihen und Zeitschriften des Instituts für Zeitgeschichte üblicherweise erscheinen.

2. Umsetzung

2015 gewährte Susanne Heim, Mitherausgeberin und als Projektleiterin der maßgebliche Kopf hinter der Edition, in einer »Zwischenbilanz« einen Blick in die »Werkstatt«.11 Um die gut 5.500 Dokumente zu edieren, die die Bände nun umfassen, mussten mehrere zehntausend Dokumente in über 230 Archiven in aller Welt gesichtet werden, die dann wiederum einen mehrstufigen Auswahlprozess in verschiedenen Gremien durchliefen. Zudem waren Übersetzungsfragen zu entscheiden und Hintergrundinformationen zu allen in den Quellen genannten Personen einzuholen. Zu den Leerstellen der Edition gehört neben den Archiven der ehemaligen Geheimdienste der Ostblockstaaten, die bis heute nur schwer oder gar nicht zugänglich sind, auch das Vatikanarchiv (Archivio Apostolico Vaticano, bis zum Jahr 2019 unter dem Namen Archivio Segreto Vaticano/Vatikanisches Geheimarchiv bekannt), das die Dokumente zur NS-Zeit erst im Frühjahr 2020, mit der Öffnung der Akten zum Pontifikat Pius’ XII. (1939–1958), zugänglich gemacht hat, sodass diese für eine Aufnahme in die VEJ nicht mehr in Frage kamen.

Der Prozess der Dokumentenauswahl hat eine besondere Bedeutung, weil dem finalen Zusammenstellen der Quellen, verbunden mit dem Verzicht auf viele andere Zeugnisse, bereits eine Interpretation der Geschichte zugrunde liegt. So wird die Zuspitzung und Radikalisierung der Entwicklung im Deutschen Reich und in den besetzten Ländern gerade aus der Abfolge der Dokumente ersichtlich.

Die Auswahl der Quellen orientierte sich dabei an mehreren, teils sich überschneidenden, teils konkurrierenden Aspekten: Erstens war es den Herausgebern wichtig, zwar alle bedeutenden, bereits bekannten und an anderer Stelle edierten Schlüsseldokumente für die Holocaust-Forschung, wie das Protokoll der Wannsee-Konferenz, in die Bände zu integrieren. Zugleich aber sollte auch eine große Zahl bislang unbekannter Quellen abgedruckt werden, um neue Impulse für die Forschung zu geben. Mehr als die Hälfte der letztlich einbezogenen Dokumente waren bislang nicht veröffentlicht oder ins Deutsche übersetzt worden. Deren Zusammenstellung wiederum orientierte sich zweitens an möglichst unterschiedlichen Quellengattungen, sodass nicht nur Aktenstücke in den Bänden vertreten sind, sondern zugleich Egodokumente wie Briefe und Tagebücher. Neben Quellen von prominenten Persönlichkeiten sollten drittens auch unbekannte Menschen zu Wort kommen. Viertens waren Dokumente aller staatlichen und geographischen Ebenen gesucht, aus Zentrum und Peripherie, aus der Provinz wie aus der Stadt, von der Kommunalverwaltung bis zum Ministerium in der Hauptstadt. Hinzu kommen Artikel aus internationalen Zeitungen, um die europäische und globale Dimension des Geschehens zu verdeutlichen, womit die HerausgeberInnen einem wichtigen aktuellen Forschungstrend folgen.12 Außerdem sollten sich fünftens die wichtigsten Ereignisse, aber möglichst auch viele thematische Stränge in der Auswahl wiederfinden. Für jedes Ereignis, für jeden Aspekt versuchte man sechstens Quellen aus Perspektive der Täter, der Opfer und der Mitläufer nebeneinanderzustellen. Was von vornherein ausschied, waren lange Quellen, also ausführliche zeitgenössische Abhandlungen, die man allenfalls in Auszügen wiedergab.

Die Auswahl der Quellen unter diesen Prinzipien verleiht den einzelnen Dokumenten Relevanz. Zum Teil ergab sich aus der jeweiligen Überlieferungssituation auch eine unterschiedliche inhaltliche Gewichtung. Während etwa in den Bänden zum Deutschen Reich die wirtschaftlichen Aspekte der Judenverfolgung eine besondere Rolle spielen, geht es in den Bänden zu Südosteuropa stärker um die Rolle der Kirchen, des Auswärtigen Amtes und der Reichsbahn.13 Der achte Band der Reihe, der sich mit dem Mordgeschehen in Weißrussland, in der Ukraine und in den 1939 von der Sowjetunion annektierten Gebieten Ostpolens beschäftigt, dokumentiert vor allem die Resignation auf Seiten der Opfer und das Handeln der ortsansässigen Verwaltungen, auf deren Zuarbeiten die deutschen Besatzer angewiesen waren.14 Und im Band zu Polen (September 1939 – Juli 1941) wird etwa deutlich, dass die massenhafte antijüdische Gewalt nicht erst mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann, sondern bereits ein Kennzeichen der deutschen Besatzungspolitik seit dem September 1939 gewesen ist. Insofern muss man auch die hergebrachten Zäsurbildungen der Holocaust-Historiographie hinterfragen.15

Die Herausgeber entschieden vorab, ausschließlich Textdokumente aufzunehmen und keine visuellen oder materiellen Quellen; allerdings wurden einige Tondokumente transkribiert. Wichtige Ereignisse sollten in den Bänden möglichst multiperspektivisch abgebildet werden, sodass die Blickrichtungen in den chronologisch angeordneten Bänden nach dem Vorbild der Maßstäbe setzenden Holocaust-Darstellung von Saul Friedländer ständig wechseln.16 Außerdem mussten alle Zeugnisse in der Zeit bis zum 8. Mai 1945 entstanden sein. »Der Grund für diese rigorose Festlegung liegt darin, dass an Untersuchungs- und Zeugenberichte aus der Nachkriegszeit andere Maßstäbe der Quellenkritik angelegt werden müssen als an Dokumente aus der unmittelbaren Zeit der Verfolgung«, erläuterte Mitherausgeber Dieter Pohl diese nicht vollständig einleuchtende, jedoch nachvollziehbare und pragmatisch notwendige Grenzziehung.17

Auf eine Kommentierung der Quellen verzichtet die Edition. Jeder unkommentierte Abdruck von Täterdokumenten, in denen beispielsweise von »Sonderbehandlung« die Rede ist, wenn es um die massenhafte Ermordung von Menschen geht, reproduziert aber ungewollt die verschleiernde Sprache der Mörder. Deshalb gehen jeder Quelle nicht nur das Datum ihrer Entstehung sowie der Verfasser und ggf. Adressat voran, sondern auch eine von dem oder der jeweiligen BandbearbeiterIn verfasste Überschrift, in der unter Ausschluss von NS-spezifischem Vokabular die Kernbotschaft der Quelle angegeben wird. Die »Übersetzung« der Tarnbegriffe in den Fußnoten wäre aus Sicht des Herausgebergremiums einer Belehrung des Lesepublikums gleichgekommen und hätte der gebotenen editorischen Zurückhaltung widersprochen. Eine ausführliche, oft 60 bis 70 Seiten lange Einleitung, in der Regel geschrieben von dem oder der jeweiligen BandbearbeiterIn, fasst den neuesten Forschungsstand zusammen und hilft bei der Einordnung der einzelnen Dokumente in das Gesamtgeschehen. Die Einleitungen aller 16 Bände stellen somit den Status quo der Holocaust-Forschung dar und benennen auch offene Forschungsfragen.

Die besondere Leistung der Edition liegt zudem in der Kontextualisierung jeder einzelnen Quelle mithilfe eines umfangreichen Fußnotenapparates. So wird versucht, für jede handelnde Person biographische Daten und Hintergründe zusammenzutragen, darunter zahlreiche unbekannte Menschen, die Briefe oder Tagebücher verfasst haben, was der Forschung neue Impulse geben kann.18 Jeder Band wird von einem Institutionen-, Lager-, Firmen- und Zeitschriften-Index sowie einem Personen- und einem Ortsregister abgeschlossen. Für WissenschaftlerInnen sind dies wichtige Hilfsmittel, um mit den Bänden zu arbeiten. Ab dem zweiten Band hilft zudem ein ausführlicher Sachindex (»Systematischer Dokumentenindex«) bei der Erschließung.

3. Rezeption und Wirkung

Lorenz Jäger nahm 2005 an, dass die NS-Forschung mit der Edition »vor einem neuen großen Schritt« stehe. Aber hat die VEJ tatsächlich neue Forschungsimpulse gegeben? Wie wird sie in der Fachliteratur und in Neuerscheinungen rezipiert?

Für die Beantwortung der ersten Frage ist es sicher noch zu früh. Doch lässt sich schon jetzt sagen, dass die Arbeit an der Edition Überlieferungslücken offengelegt und für bislang kaum von der Forschung beachtete Länder, wie zum Beispiel Albanien, echte Pionierarbeit geleistet hat.19 Die Edition stellt die Dokumente in ein wirklich breites europäisches Panorama und mit der Heranziehung vieler ausländischer Presseartikel sogar in einen globalen Kontext, den es zur NS-Geschichte vorher so nicht gegeben hat.

Mehr und mehr Neuerscheinungen stützen sich auf die nach dem Buchumschlag benannte »grüne Reihe« der VEJ. In der im Herbst 2021 publizierten deutschen Übersetzung von Léon Poliakovs »Bréviaire de la haine«, das Anfang der 1950er-Jahre in Paris als eine der ersten Gesamtdarstellungen zur nationalsozialistischen »Endlösung« (so der auch nach Kriegsende zunächst noch gebräuchliche Begriff für das Geschehen, das wir heute als Holocaust oder Shoah bezeichnen) erschienen ist, finden sich in mehr als 100 Fußnoten Verweise auf Quellen in verschiedenen VEJ-Bänden.20

Für Universitätsseminare sind die Bände vor allem geeignet, um die Interpretation von Quellen zu lehren. Wegen der konsequenten Multiperspektivität der VEJ lassen sich bei Lehrveranstaltungen leicht Gruppen bilden, die mithilfe einer geschickten Quellenauswahl drei verschiedene Sichtweisen auf ein Geschehen einnehmen können und dabei über verzerrte, weil einseitige Wahrnehmungen der lange Zeit fast ausschließlich täterzentrierten Holocaust-Forschung reflektieren können.

In den Rezensionen der überregionalen Presse wurde die VEJ überwiegend positiv gewürdigt, wenngleich das Interesse für die ungefähr im Jahresrhythmus publizierten Bände im Verlaufe des dreizehnjährigen Erscheinungszeitraumes merklich nachließ. In der Fachcommunity entzündete sich allerdings schon recht früh, insbesondere nach der Herausgabe des ersten Bandes, Kritik an einzelnen Aspekten der VEJ. Die Einleitungen der Bände waren oft Gegenstand von inhaltlicher Detailkritik durch andere Experten desselben Themengebietes. Daneben wurde bisweilen auch Grundsatzkritik am Konzept der Reihe geübt. Kein Geringerer als Hans Mommsen etwa monierte den »impressionistischen Eindruck vom Ablauf der Verfolgung«, der sich bei der Lektüre einstelle. Den Verzicht auf eine inhaltliche Kommentierung hielt Mommsen für besonders problematisch, da gerade amtliche Akten und Rechtsgutachten komplex und schwer verständlich für ein nichtfachliches Publikum seien, an das die Reihe sich eben auch dezidiert richten wolle.21 Wolfgang Benz, der langjährige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, fragte nach dem Erscheinen des ersten Bandes, von dessen »Reichtum an Information und Erkenntnis« er sich angetan zeigte, nach dem »Nutzen eines Großunternehmens, das auf viele Bände und viele Bearbeitungsjahre angelegt ist« und für das man das »schwerfällige und teure Medium Buch« gewählt habe.22

Im Laufe der Jahre wurde mehr und mehr die hohe Qualität und Bedeutung der Reihe – gerade auch in Buchform – anerkannt, sodass die Kritik weitgehend verstummte. Zum Abschluss der Reihe sprach Bernhard Schulz im Berliner »Tagesspiegel« von einem »Meilenstein der deutschen Geschichtswissenschaft«. Und Christoph Jahr zeigte sich in der »Neuen Zürcher Zeitung« davon überzeugt, dass gerade die laufende Debatte um das Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust der Reihe eine neue Relevanz verleihe.23

Jahr lobte in seiner Rezension auch die »zusätzliche Breitenwirkung« der VEJ durch die Höredition »Die Quellen sprechen«, die nicht nur eine Auswahl von Dokumenten wiedergibt und über 70 Zeitzeugenberichte bietet, sondern in der Rubrik »Diskurs« auch zahlreiche Interviews mit den HerausgeberInnen und BearbeiterInnen enthält.24 Die in Zusammenarbeit mit der Redaktion »Hörspiel und Medienkunst« des Bayerischen Rundfunks produzierte, niedrigschwellig zugängliche Audioversion der Edition erweitert den RezipientInnenkreis erheblich über das Fachpublikum hinaus. Dafür wurden die Texte, bisweilen in gekürzter Fassung, von Schauspielerinnen und Schauspielern sowie von Zeitzeugen und -zeuginnen gelesen. Letztere berichten zudem in Interviews, wie sie selbst den Holocaust überlebt haben. Nach der Erstsendung im Rundfunk sind die Audio-Dokumente dauerhaft im Internet abrufbar und wurden auch in Form von Hörbüchern publiziert.

Jeder Band wurde zudem mit einer Publikumsveranstaltung an verschiedenen Orten in Berlin vorgestellt, was wiederum für eine besondere mediale Aufmerksamkeit sorgte. Das noch laufende Projekt (derzeit wird weiter an der englischsprachigen Ausgabe gearbeitet) hat darüber hinaus ausführliche Internetseiten mit vielen Informationen, sowohl beim Verlag25 als auch beim Institut für Zeitgeschichte als federführender Herausgeberinstitution.26

4. Ausblick

Der Umfang von mehr als 5.500 edierten Dokumenten ist für einzelne NutzerInnen nicht komplett zu erfassen. Deshalb sind die Bände auch als durchsuchbare pdf-Dateien verfügbar, die das schnelle Auffinden von Sachbegriffen, Orts- oder Personennamen erleichtern. Allerdings ist diese Funktion nicht kostenfrei, sondern nur hinter einer Bezahlschranke oder mit Bibliotheksausweisen einsehbar. Hier wäre zu hoffen, dass Verlag oder Herausgeber alsbald eine Open-Access-Strategie verfolgen, die die Dokumente in absehbarer Zeit frei zugänglich macht und so eine noch breitere Nutzung ermöglicht.27 Denn ist eine konventionelle gedruckte Edition im Umfang von mehreren tausend Seiten in Zeiten der Digitalisierung nicht antiquiert, ja anachronistisch? Nein – die VEJ hat echte Grundlagenarbeit geleistet und eine Wissensquelle geschaffen, die die Jahrzehnte auch in Buchform überdauern wird. Ende 2021 erscheint zudem eine preisgünstigere broschierte Studienausgabe aller Bände von mehr als 13.000 Seiten, die den von Sparzwängen gebeutelten Bibliotheken und auch Privatpersonen den Erwerb hoffentlich erleichtern wird.

Interessant wäre auch, wenn zusammen mit einer Open-Access-Publikation der ohnehin durch öffentliche Mittel finanzierten Bände ergänzende Dokumente zugänglich würden, die die Genese der Quellenedition nachvollziehbar machen. Gerade für weitergehende Forschungen könnten die ursprünglich sehr viel umfangreicheren Quellenauflistungen interessant sein, aus denen die Dokumente schließlich ausgewählt wurden, um die Auswahlkriterien einfacher nachvollziehen und diese gegebenenfalls auch leichter kritisch überprüfen zu können. Ebenso aufschlussreich wäre es für Expertinnen und Experten, bei den übersetzten Dokumenten die Quellen in ihrer Originalsprache digital aufzubereiten und anzubieten, sodass man sich selbst ein Bild von der Übertragung machen könnte.

Die systematische Anordnung der Dokumente, ihre Wiedergabe in Leinenbänden mit hoher Qualität, steht im Kontrast zu der für die Opfer oft völlig unübersichtlichen Situation, in der die Vernichtung als anarchisches Massaker stattfand. Von ihrer Aufmachung her suggerieren die Bände einen geordneten Ablauf dort, wo oft extrem brutales Chaos herrschte. Ein hochdynamisches Geschehen findet in den Bänden zwangsläufig einen statischen Niederschlag. Nicht nur aus diesem Grund wäre es wünschenswert, wenn der Textedition trotz aller Schwierigkeiten bei der Klärung von Rechten und der Dokumentation von Überlieferungswegen alsbald eine Bildedition an die Seite gestellt werden würde.28 Inzwischen hat sich der Quellenbegriff auch für die Holocaust-Forschung erheblich erweitert und bezieht materielle Zeugnisse mit ein. Fotografische Zeugnisse lassen zumindest eine Annäherung an die Situation vor Ort zu, auch wenn sie nur ein lückenhaftes Abbild liefern, das meist die Tätersicht reproduziert. Den Verzicht auf Fotografien hat Andrej Angrick bereits in seinem Beitrag für diese Zeitschrift 2008 als »methodischen Rückschritt« kritisiert,29 der künftig mit einer Bildedition in gleich hoher fachlicher Qualität korrigiert werden könnte. Dafür müssten jedoch noch einmal beträchtliche finanzielle Mittel aufgebracht werden.

Handschriftliche Notiz von László Deutsch, Belower Wald, 8. Mai 1945  (aus: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, bearbeitet von Andrea Rudorff, Berlin 2018, S. 842f., Dokument 289)
Handschriftliche Notiz von László Deutsch, Belower Wald, 8. Mai 1945
(aus: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden
durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945,
Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, bearbeitet von Andrea Rudorff, Berlin 2018, S. 842f., Dokument 289)

Das letzte Dokument der VEJ-Edition ist ein besonderes, da es zwei Fotografien von handbeschriebenen Blättern zeigt. Deren Inhalt ist nicht wie sonst transkribiert und damit den übrigen Dokumenten grafisch angeglichen, sondern als Faksimile abgebildet, sodass der Charakter als handschriftliche Notiz erhalten bleibt. Der 31-jährige Ungar László Deutsch verfasste die Zeilen im Belower Wald, 120 km nordwestlich von Berlin, am Tag des Kriegsendes und kurz nach seiner Befreiung. Darin äußerte er die Bitte, im Falle seines Todes Bekannte und Verwandte in seiner Heimatstadt Budapest zu verständigen, von denen er jedoch nicht sicher wusste, ob sie den Krieg überlebt hatten. Das Schriftstück mit dem Datum 8. Mai 1945 ist im Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen überliefert. Die Kernsätze lauten: »Ich bin sehr schwach nicht mehr als 40 kg. weiss nicht, ob ich die schwere Reise durchlebe. Bitte denjenigen, der mich mit diesen Zeilen irgendwo trifft, schreibe an die angegebenen Adressen, dass mein Schicksal woh endete, u.s.w.«30

Damit ist der Bogen über zwölf Jahre geschlagen: vom 30. Januar 1933, auf den sich das erste Dokument bezieht, der eingangs zitierte kämpferische Leitartikel der »Jüdischen Rundschau«, bis zum 8. Mai 1945, an dem das europäische Judentum fast vollständig vernichtet und die wenigen Überlebenden ihrer Wurzeln beraubt waren. Ob László Deutsch in Budapest ankam, ist ungeklärt.


Anmerkungen:

1 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 1: Deutsches Reich 1933–1937, bearbeitet von Wolf Gruner, München 2008, S. 65-67, hier S. 66 (Dokument 1).

2 Lorenz Jäger, Die Sache selbst. Zum Forschungsstand: Hilberg, Aly und die Vernichtungspolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.1.2005, S. 33.

3 Horst Möller im Gespräch mit Christoph Lindenmeyer am 13.11.2012 in München, URL: <https://die-quellen-sprechen.de/Horst_Moeller.html>, Min. 30:40 – 34:56.

4 Von der seit 2019 erscheinenden englischen Übersetzung des Gesamtprojekts liegen bislang (Stand: Ende 2021) drei Bände vor: <https://www.degruyter.com/serial/pmj-b/html>.

7 Andrej Angrick, Dokumentation, Interpretation, Impuls. Das Editionsprojekt »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 1933–1945«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 446-450.

8 Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007.

9 Joseph Wulf/Léon Poliakov (Hg.), Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze, Berlin 1955; Raul Hilberg (Hg.), Documents of Destruction. Germany and Jewry 1933–1945, Chicago 1971; Kurt Pätzold (Hg.), Verfolgung Vertreibung Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942, Leipzig 1983. Zu nennen wären außerdem: Peter Longerich (Hg., unter Mitarbeit von Dieter Pohl), Die Ermordung der europäischen Juden. Eine umfassende Dokumentation des Holocaust 1941–1945, München 1989; Jüdisches Historisches Institut Warschau (Hg.), Faschismus – Getto – Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des zweiten Weltkrieges, Berlin (Ost) 1960.

10 Raul Hilberg an Walter Pehle, 5.9.1995, Privatsammlung Walter Pehle.

11 Susanne Heim, Neue Quellen, neue Fragen? Eine Zwischenbilanz des Editionsprojektes »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden«, in: Frank Bajohr/Andrea Löw (Hg.), Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a.M. 2015, S. 321-338.

12 Dieter Pohl im Gespräch mit Christoph Lindenmeyer am 26.10.2012 in München, URL: <https://die-quellen-sprechen.de/Dieter_Pohl.html>, Min. 10:00 – 11:14.

13 Vgl. etwa René Schlott, Besprechung zu: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 13: Slowakei, Rumänien und Bulgarien, bearbeitet von Mariana Hausleitner, Souzana Hazan und Barbara Hutzelmann, Berlin 2018, in: Tagesspiegel, 6.11.2018, S. 25.

15 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 4: Polen September 1939 – Juli 1941, bearbeitet von Klaus-Peter Friedrich, München 2011.

16 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer, 2 Bde., München 1998/2006.

17 Im Oktober 2005 wurde die Edition erstmals ausführlicher von einem der Herausgeber vorgestellt: Dieter Pohl, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Ein neues Editionsprojekt, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 651-659.

18 Susanne Heim, »Beim Schreiben habe ich immer noch einen Funken Hoffnung.« Tagebücher und Briefe verfolgter Juden, in: Frank Bajohr/Sybille Steinbacher (Hg.), »... Zeugnis ablegen bis zum letzten.« Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, Göttingen 2015, S. 81-99.

19 Vgl. Heim, Zwischenbilanz (Anm. 11), S. 331.

20 Léon Poliakov, Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden. Aus dem Französischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ahlrich Meyer, Berlin 2021.

21 Hans Mommsen, Wie es geschehen konnte, in: ZEIT, 13.11.2008, S. 78.

22 Wolfgang Benz, Die Verfolgung und Ermordung der Juden Europas in Dokumenten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 17 (2008), S. 337-343, hier S. 337.

23 Siehe Anm. 5.

27 Wie schnell sich die Ansprüche hier wandeln, zeigt allerdings die Tatsache, dass Andrej Angrick 2008 noch dafür plädierte, die Texte auch auf CD-ROM zugänglich zu machen (Angrick, Dokumentation [Anm. 7], S. 449).

28 Siehe auch die ausführliche Rezension der ersten vier Bände von Michael Wildt, in: Historische Zeitschrift 297 (2013), S. 417-421.

29 Angrick, Dokumentation (Anm. 7), S. 448.

30 Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, bearbeitet von Andrea Rudorff, Berlin 2018, S. 842f., hier S. 843 (Dokument 289).

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