- Pop und Propaganda: Ideologisierung im Kalten Ätherkrieg
- Von der »Fraternisierung« zum globalen Terrorziel:
Die Internationalisierung der West-Berliner Disco-Szene - Vom Rauch-Haus zur Popperschlacht: Subkulturelle Radikalisierung
- Fazit und Ausblick
Philadelphia, Detroit, The Bronx oder Saint Germain des Prés: Manchen urbanen Topographien hat sich die Musikgeschichte so sehr eingeschrieben, dass ihre Ortsnamen wie unverwechselbare Marken synonym für spezifische Sounds oder Pop-Stile stehen. Dies lässt sich auch in Deutschland finden. Seit kurzem wird hier die untergegangene »Halbstadt« West-Berlin mit Macht neu entdeckt. Zahlreiche Romane, Memoiren, Bildbände, Sachbücher und Ausstellungskataloge erinnern an ihre Popgeschichte.[1] Manche dieser Publikationen beschwören eine Art Westalgie,[2] die als retrospektives Unbehagen an den aktuellen Umbrüchen verstanden werden kann. Im Kontrast zur sich rasant verändernden Hauptstadt der Berliner Republik erscheint der Westen der geteilten Stadt darin als ein Ort, der zwar im Zentrum der geopolitischen Konflikte seiner Epoche lag, gleichzeitig aber – zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten seiner Existenz – davon scheinbar unberührt die Kulisse einer hedonistischen Freizeitgesellschaft bildete, die sich in künstlerischen Avantgarden sowie politisierten und subkulturellen Milieus formierte. Man mag hier Ansätze der Mythenbildung erkennen, doch rückt damit die Sonderrolle der vergangenen Stadt in den Fokus.
Auch aus nüchterner zeithistorischer Perspektive spricht einiges dafür, West-Berlin nicht nur vom Ost-Teil der Stadt klar abzugrenzen, sondern ebenso von der Geschichte der Bundesrepublik, der es oftmals pauschal zugerechnet wird. Dies wird im Folgenden auf dem Feld der Popgeschichte[3] an drei Prozessen exemplarisch demonstriert: der Ideologisierung aufgrund der besonderen Frontstellung im Kalten Krieg, der Internationalisierung durch die Westalliierten sowie der subkulturellen Radikalisierung. Diese Faktoren prägten die Entstehung einer West-Berliner Popscape entscheidend mit.[4]
1. Pop und Propaganda:
Ideologisierung im kalten Ätherkrieg
Die politische und wirtschaftliche Isolation der Stadt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die sich nach der Berlin-Blockade und dem Mauerbau verschärfte, traf auch die Kulturlandschaft. An seine Rolle als wichtiger Standort der Unterhaltungsindustrie konnte und durfte Berlin nach 1945 nicht mehr anschließen. Die Ufa, der wichtigste Konzern für die Produktion populärer (und nationalsozialistisch ideologisierter) Unterhaltungsformate, wurde nach alliiertem Willen zerschlagen.[5] Ihre Hinterlassenschaften fielen weitgehend der DDR zu, so dass auf West-Berliner Gebiet kein ähnlich bedeutsamer Kulturkonzern mehr entstand. Der Mauerbau führte zudem zur Abwanderung zahlreicher Unternehmen. Der Kulturproduktions-Standort West-Berlin wurde durch diese politischen Faktoren erheblich geschwächt, doch entstand eine neue Kultur- und Medienlandschaft, die durch den Kalten Krieg hochpolitisiert wurde. Während staatliche Subventionen und Kulturbetriebe offiziell als Kunst anerkannte Inhalte institutionalisierten,[6] setzte gerade die alliierte Medienpolitik auf in Deutschland noch wenig etablierte popkulturelle Formate.
Westalliierte Kulturoffiziere hatten Pop als ein fruchtbares Feld in zwei Kernanliegen der Westbindungs-Politik erkannt: zum einen bei der Umerziehung der nationalsozialistischen Deutschen, zum anderen im Ost-West-Konflikt. Dabei adressierten sie verstärkt die junge Generation. Eine Untersuchung der Amerikaner hatte bereits 1946 ergeben, dass in der deutschen Jugend ein signifikant anderer Musikgeschmack ausgeprägt war als bei den Älteren.[7] Die Affinität junger Deutscher zum amerikanischen Jazz hatte zu ersten Experimenten mit Rundfunkprogrammen geführt, die einer musikalischen Re-Education dienen sollten, nach rassistischen Hörer-Protesten gegen die »Neger-Musik« teils aber wieder eingestellt wurden. Der Rundfunk spielte als politisches Medium dennoch eine wichtige Rolle bei der Internationalisierung. Berlin besaß aufgrund seines Vier-Mächte-Status eine große Vielfalt fremdsprachiger Soldatensender, die zunächst Jazz und seit den 1950er-Jahren auch Rock- bzw. Popmusik gezielt in ihrer Programmgestaltung einsetzten.
Im britischen Sektor funkte der British Forces Broadcasting Service (BFBS), im amerikanischen das American Forces Network (AFN) und im französischen die Radio Forces Françaises de Berlin (FFB). Unter dem vom Kalten Krieg geprägten Motto »Eine freie Stimme der freien Welt« firmierte im amerikanischen Sektor seit 1948 der RIAS. Seine wichtigsten Pop-Sendungen waren »RIAS-Treffpunkt« mit Live-Übertragungen aus Berliner Diskotheken sowie die Sendung »Schlager der Woche«.[8] Als Reaktion darauf gegründet, war in West-Berlin auch die für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich pop-affine DDR-Sendung »DT 64« zu empfangen.
Getarnt als West-Radio strahlte zudem der im Ost-Berliner Stadtteil Grünau produzierte deutschsprachige »Soldatensender 935« westliche, in der DDR boykottierte Musik gezielt von grenznahen Sendern aus, um westalliierte und Bundeswehr-Soldaten vor die Lautsprecher zu locken und mit Propaganda-Sendungen zu indoktrinieren.[9] Pop und Politik mischten sich jedoch nicht nur im Ost-Funk. Auch der 1954 gegründete »Sender Freies Berlin« (SFB) versuchte mit seiner Reihe »SF-Beat« gezielt politische Meinungsbildung mit Popmusik zu verknüpfen. Eine von Infratest im Auftrag des SFB durchgeführte Studie ermittelte 1976 die Zusammenhänge zwischen politischer Meinungsbildung und popmusikalischen Präferenzen der West-Berliner Jugendlichen.[10] Im Unterschied zu Erwachsenen, die das Fernsehen bevorzugten, blieb der Rundfunk für Jugendliche demnach das wichtigste Medium. Die meisten Hörer/innen empfingen SFB und RIAS, doch spielte auch der englischsprachige Soldatensender AFN mit 47 Prozent eine »überraschend große Rolle«, gefolgt von BFBS und BBC (17 Prozent) und Radio Luxemburg (11 Prozent). FFB und DDR 1 schalteten immerhin je fünf Prozent der Jugendlichen ein.[11] Durch die Präsenz der Alliierten hatte Berlin damit eine vielfältigere Rundfunklandschaft als andere Gebiete der Bundesrepublik und der DDR – sowie darüber hinaus ein multilinguales Spektrum.
2. Von der »Fraternisierung« zum globalen Terrorziel:
Die Internationalisierung der West-Berliner Disco-Szene
Der alliierte Einfluss auf die Popscape West-Berlin beschränkte sich nicht auf den Rundfunk. Auch die Club- und Disco-Szene war stark von der Präsenz der Westmächte beeinflusst. Als wichtiges kulturelles Zentrum von Kabarett, Kneipen und Tanzvergnügen hatte Berlin eine weit über die Vorkriegszeit zurückreichende Tradition.[12] Nach 1945 betraf die »Modernisierung im Wiederaufbau« (Axel Schildt) auch das Nachtleben. In provisorischen »Nissenhütten« lockten Jukeboxes ein jugendliches Publikum, dazu kamen Jazz- und Tanz-Clubs sowie seit den späten 1960er-Jahren eine professionelle Diskotheken-Szene, begünstigt durch die fehlende Sperrstunde.[13] Die Haltung der West-Berliner Behörden zum Nachtleben war zunächst von Konflikten geprägt, und auch in den Medien dominierten Nachrichten aus dem Polizeibericht, etwa über die Drogen-Szene der 1970er-Jahre und die Auseinandersetzungen in der so genannten Türsteher-Szene.[14] Positiv besetzte Begriffe einer touristisch und ökonomisch bedeutsamen »Club-Kultur« waren noch nicht etabliert; stattdessen galten Musiklokale als beständiges Problem des Jugendschutzes.[15] In regelmäßigen Razzien wurde das Alter der Gäste überprüft.[16] Bis in die 1980er-Jahre hinein gehörten auch die Streifen der Militärpolizei zum Alltag, die mit Schlagstockeinsatz Soldaten in Zivil, die den Zapfenstreich überzogen hatten, aus den Diskotheken in die Kasernen abführten.
Begünstigt durch die Präsenz zumeist junger französischer, britischer und amerikanischer Soldaten hatten West-Berliner Tanz- und Jazz-Clubs wie die Eierschale oder das Quasimodo ein dezidiert multinationales Publikum. Zudem betrieben die Armeen eigene Clubs, die neben der Freizeitgestaltung der Soldaten auch die Kontakte zwischen den kasernierten Streitkräften und der Berliner Bevölkerung verbessern sollten. Mit dem Checkpoint und dem Silverwings, dem zur McNair-Kaserne gehörigen Gator Club und Starlight Grove sowie dem Friendship Pub in der Nähe der Andrew Barracks bot die amerikanische Militärverwaltung diverse Tanzlokale, in denen Soldaten und Berliner zusammenkommen konnten und die nebenbei auch als Schaufenster der jeweiligen Popkulturen fungierten.[17] Disc-Jockeys importierten Tanz- und Musikstile aus ihren Heimatstädten wie Rock’n’Roll, Jazz und Country in den 1950er- oder HipHop und Funk in den 1980er-Jahren. Nationale Stars wie der amerikanische Country-Sänger Hank Williams oder der französische Rock-Sänger Johnny Hallyday, die zur Truppenbetreuung Berlin besuchten, traten teils auch außerhalb der Kasernen auf: Der Wehrdienstleistende Hallyday etwa präsentierte dem Berliner Publikum im Jazz-Club Badewanne, wie man den St. Tropez Twist tanzt.[18] Darüber hinaus wurden bei populären Massenveranstaltungen wie dem Deutsch-Französischen und dem Deutsch-Amerikanischen Volksfest sowie regelmäßigen »Tagen der offenen Tür« in den Kasernen nationale Musiken aufgeführt, die als kulturelle Brücke zur Berliner Bevölkerung dienen sollten. Etliche Soldaten blieben nach Beendigung ihres Wehrdienstes in Berlin und spielten als Club-Gründer und DJs eine Rolle im Nachtleben – wie der ehemalige afro-französische Soldat Louis Emilio Gomis.[19]
Welchen Stellenwert West-Berliner Diskotheken als Aufenthaltsorte für alliierte Soldaten besaßen, zeigte in dramatischer Weise der Sprengstoffanschlag auf die Diskothek La Belle im Ortsteil Friedenau am 5. April 1986. Die Detonation eines mit Nägeln und Eisenteilen gespickten, drei Kilogramm schweren Sprengsatzes tötete zwei US-Soldaten und eine türkische Zivilistin; rund 250 Discobesucher wurden verletzt, davon drei Dutzend schwer.[20] Wie Vernehmungen von Tatverdächtigen zeigten, war der Anschlag vom libyschen Geheimdienst als Vergeltungsmaßnahme für einen Angriff der US-amerikanischen Marine auf zwei libysche Kriegsschiffe in Auftrag gegeben worden. Er zog neue Vergeltungsmaßnahmen nach sich.[21] Mit der Unterzeichnung eines Entschädigungsabkommens übernahm Libyen 2008 offiziell die Verantwortung für das Attentat,[22] das den Nahostkonflikt auf West-Berliner Gebiet getragen und damit auch gezeigt hatte, wie eng selbst die scheinbar politikferne Sphäre des internationalisierten West-Berliner Nachtlebens mit dem exponierten geopolitischen Status der militärverwalteten Stadt verknüpft war.
3. Vom Rauch-Haus zur Popperschlacht:
Subkulturelle Radikalisierung
Die Präsenz der alliierten »Schutzmächte« hatte nicht nur die Anwesenheit ausländischer Soldaten zur Folge, sondern auch eine überdurchschnittlich hohe Zahl westdeutscher Wehrdienstverweigerer. Da West-Berlinern laut Vier-Mächte-Status der Dienst in einer deutschen Armee verboten war und die Bundeswehr keinen Zugriff auf die offiziell bis 1990 von den Alliierten militärisch kontrollierte Stadt hatte, wurde mit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und der Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht West-Berlin zum Fluchtort für so genannte Totalverweigerer, die sich auch den zivilen Ersatzdiensten entziehen wollten. Nach Massenprotesten gegen die Zwangsabschiebung eines Deserteurs, der in die West-Berliner Kommune I geflohen war, blieben Bundesbürger vom Wehrdienst verschont, wenn sie vor Erhalt des Einberufungsbescheides nach West-Berlin zogen. Das führte zu einem beständigen Zuzug von Bundesbürgern, die drei Eigenschaften auszeichneten: Sie waren jung, männlich und in der Regel pazifistisch eingestellt. Politisch war diese Gruppe, die Schätzungen zufolge bis 1990 rund 50.000 Wehrpflichtige umfasste,[23] überwiegend dem linken oder hedonistisch-libertären Spektrum zuzuordnen. Überdies war die männliche West-Berliner Jugend, die kein Jahr für den Militärdienst einplanen musste, mit einem größeren Zeitbudget ausgestattet als ihre wehrpflichtigen ost- und westdeutschen Altersgenossen. Günstige Mieten der von der Immobilienentwicklung anderer deutscher Großstädte entkoppelten Insel-Stadt minderten zudem den Erwerbsdruck.
Diese Faktoren begünstigten die Ausbildung sub- und gegenkultureller Milieus in West-Berlin.[24] In den 1970er-Jahren konsolidierte sich ein bereits in der Studentenbewegung entstandenes linkes Milieu; zudem erhielt die hauptsächlich im Bezirk Schöneberg entstehende Schwulenszene Zulauf durch Verweigerer. Vor allem in Kreuzberg etablierte sich eine Alternativszene, die durch Stadtteilzentren und Hausbesetzungen die Bezirkstopographie prägte und Popmusik teilweise als Medium politischer Ziele einsetzte.[25] Die Band Ton Steine Scherben um den Sänger Rio Reiser repräsentierte zeitweilig das Genre des AgitPop in einer radikalisierten Form. In den Liedtexten wurden urbane Konflikte etwa um die Besetzung des Bethanien-Krankenhauses im Dezember 1971 verhandelt, zum Beispiel im Rauch-Haus-Song, in dessen Zeilen West-Berliner Politiker namentlich angegriffen wurden.[26]
Einen öffentlichkeitswirksamen Auftakt für die oftmals auf der Straße ausgetragenen subkulturellen Konflikte der 1980er-Jahre bildete die »Popperschlacht«. Durch Medienberichte hatte sich mit dem so genannten Popper-Stil eine Jugendkultur verbreitet, die sich von der vorhergehenden dystopischen Counter Culture des Punk und der diskursiven Problemlösungsmentalität des alternativen Milieus durch eine positive Einstellung zu Karriere und Kapitalismus unterschied und diese Aufstiegsmentalität auch semiotisch zum Ausdruck brachte, etwa durch Markenembleme teurer Bekleidungsfirmen oder mit Songtexten, die ein hedonistisches Luxusleben besangen.[27]
Am 17. Oktober 1980 stürmten Presseberichten zufolge rund 70 im Punk-Stil gekleidete Jugendliche die Diskothek Maxim an der Neuköllner Hasenheide, in der ein bundesweites Popper-Meeting stattfand. »Fein herausgeputzt mit Kaschmirpullovern, Seidenschals und kurzem Haarschnitt hörten sie Popmusik und feierten ihr Treffen mit Champagner.«[28] Es kam zu einer Straßenschlacht, an der sich zeitweise bis zu 1.000 Jugendliche beteiligten und 270 Polizisten eingesetzt wurden. Die Punks, verstärkt von Fans eines in unmittelbarer Nähe stattfindenden Rockkonzerts, griffen mit Pflastersteinen und Eisenketten an, stürzten Autos um und warfen einen Molotowcocktail auf das Lokal. Nach vier Stunden endete die Auseinandersetzung mit 40 Verletzten und 17 Festnahmen; 36 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet.[29] Zwei Tage später folgte ein Racheakt: 60 Popper stürmten das von Punks frequentierte Lokal Chaos.[30]
Konflikte zwischen Jugendkulturen gab es in vielen bundesdeutschen Städten, doch galt die Berliner subkulturelle Szene als besonders aggressiv.[31] Beobachter registrierten, dass die Berliner Punks »härter erscheinen [wollten] als die Punks in Paris oder sogar in London«.[32] Teile der West-Berliner Punk-Szene verstanden sich dezidiert als politisch. Die Radikalität und besondere »Härte« der Berliner subkulturellen Konflikte begründete man auch in den Szenen selbst mit der urbanen Situation, etwa in einem Punk-Fanzine um 1980: »wir begreifen das hier als ghetto. kreuzberg, hauptsächlich k36, ist’n ghetto. hier leben auf engstem raum tausende von menschen. hier gibt’s auch wohnungen, sowas hast du noch nicht gesehen, klaffende löcher in den böden, da rinnt das wasser von den wänden runter. […] mit dunkelziffer bei den ausländern wohnen hier vielleicht 350.000 leute, davon 60 prozent türken. die deutschen sind hier mehr und mehr in neubauviertel ausgezogen. hier wohnst du noch irgendwie ›romantisch‹. du spürst wenn du am tag durch die straßen läufst daß da’n ständiger kampf läuft. hier fahren massig bullen patroulle, die amis fahrn hier an der mauer patroulle. [sic!] alle 3 bis 5 minuten fährt hier’n bullenwagen durch die gegend. da fühlst du dich schon irgendwie wie im ghetto.«[33] Dieser Kampf kulminierte in den späten 1980er-Jahren in gewalttätigen Straßenschlachten bei den von Innensenator Heinrich Lummer geleiteten Polizeieinsätzen um die ritualisierte »Revolutionäre 1. Mai-Demo«,[34] aber auch in Konflikten zwischen den an unterschiedlichen Spielarten der Rockmusik orientierten Jugendszenen.
Dies lässt sich zwar nicht monokausal auf den Zuzug von Wehrdienstverweigerern zurückführen; die politisch-demographische Situation war aber ein wichtiger Faktor für die Radikalisierung bestimmter Milieus. Gleichzeitig entstand eine subkulturelle Szene, die sich mit Teilen des Alternativ- und Künstlermilieus verschränkte und etwa in der Diskothek Dschungel einen Schnittpunkt hatte, der weit über Berlin hinaus bekannt war und auch international erfolgreiche Musiker anzog. In den 1980er-Jahren hatten sich Künstler wie Nick Cave, Grace Jones oder Iggy Pop für längere Zeiträume in West-Berlin niedergelassen und arbeiteten teils dort. David Bowie etwa nahm in den Hansa-Studios seine Berlin-Trilogie auf.[35] Ein Grund der Attraktivität West-Berlins für die von der New-Wave-Ästhetik geprägten Musiker mag gerade in dem als »Härte« empfundenen Zustand der Stadt gelegen haben, die mit Bombengrundstücken und dem Todesstreifen der Mauer als Frontlinie des dominanten geopolitischen Konflikts ihrer Zeit den idealtypischen Ort einer Gegenästhetik zur westlichen Konsumgesellschaft bot.[36] Bowie unterhielt zeitweise ein nicht unproblematisches, romantisches Verhältnis zur deutschen Geschichte und wechselte häufig über den Checkpoint Charlie nach Ost-Berlin.[37]
Die Popgeschichte West-Berlins kann weder als »eigendynamische« Sphäre von der Politik- und Wirtschaftsgeschichte West-Berlins separiert werden, noch lässt sie sich zu dem »kreativen Labor« einer Kulturstadt idealisieren, als das es in der euphemistischen Sprache des Stadtmarketings seit den 1990er-Jahren oftmals erscheint. Wie anhand einiger weniger Beispiele gezeigt wurde, war die hier entstehende Popscape stark von politischen, militärischen und demographischen Faktoren gekennzeichnet, die aus der spezifischen Situation der Stadt resultierten. Selbst ein flüchtiger Blick auf die Rundfunklandschaft belegt, wie sehr West-Berlin von alliierter Kulturpolitik und Kaltem Krieg geprägt war. Auch die Clubszene der Stadt wurde von der Präsenz internationaler Militärs beeinflusst und 1986 sogar zum Schlachtfeld globaler geopolitischer Konflikte ihrer Epoche, wie der Anschlag auf die Diskothek La Belle vor Augen führte. Das Militärstatut begünstigte aber nicht nur die militärische Internationalisierung, sondern machte aus West-Berlin auch einen Zufluchtsort für bundesdeutsche Wehrdienstverweigerer und Pazifisten. Dieser permanente Zustrom förderte die Entstehung alternativer Milieus und die politische Radikalisierung von Jugendszenen, die in teils gewaltsamen Konflikten eskalierte. Die Kulturgeschichte West-Berlins ließe sich damit in eine längere Kontinuität der militärischen Dominanz stellen, denn schon für die Epoche zwischen Reichsgründung und Zweitem Weltkrieg ist der Einfluss des in der (ehemaligen) Garnisonsstadt überrepräsentierten Militärs auf Vergnügungskultur und populäre Musik vom Marsch bis zur Tanzmusik als Besonderheit in Abgrenzung von anderen Metropolen betont worden.[38]
Popgeschichte erscheint demnach nicht als losgelöste ästhetische Sphäre, sondern ist eng mit anderen historischen Faktoren verschränkt, die sich allerdings in Massenästhetiken spiegeln.[39] Es wäre künftig danach zu fragen, wie sich die Wechselwirkungen zwischen Stadtgeschichte und populärer Kultur analysieren lassen, insbesondere das Aufladen von Topographien mit symbolischen Bedeutungen und Images sowie die Auswirkungen dieser Prozesse auf Migration, Immobilienmarkt und andere soziale Verschiebungen. Dabei kann der Begriff der Soundscape als Modell dienen, da in ihm bereits die Verschränkung von fiktionalen und materiellen Räumen, temporalen und spatialen Faktoren angelegt ist, etwa im Zusammenwirken von artifizieller Klang- und architektonisch-materieller Raumproduktion.[40] Dieser Artikel versteht sich als Anregung, über das stark sonisch geprägte Modell der Soundscape hinausgehend ein popgeschichtliches Verständnis von Stadt im Sinne einer Popscape zu entwickeln, das neben Visual History und Material Culture auch politische, wirtschaftliche und kommunikativ-mediale Strukturen stärker berücksichtigen sollte. Ein solches raum-zeitliches Verständnis von Kultur ließe sich besonders im Vergleich unterschiedlicher metropolitaner Pop-Landschaften vertiefen. Die Popscape von West-Berlin, so wurde am Beispiel des Vier-Mächte-Status argumentiert, unterschied sich signifikant von derjenigen anderer Städte. Daher erscheint es auch aus popgeschichtlicher Perspektive gerechtfertigt, die Halbstadt als einen »dritten Zustand« der deutschen Zeitgeschichte nach 1945 zu betrachten, der sich in Abgrenzung nicht nur von Ost-Berlin, sondern auch von der Bundesrepublik perspektivieren lässt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Bernd Cailloux, Das Geschäftsjahr 1968/69. Roman, Frankfurt a.M. 2005; Paul Beatty, Slumberland. Roman. Aus dem Englischen von Robin Detje, Frankfurt a.M. 2009; Tobias Rüther, Helden: David Bowie und Berlin, Berlin 2008, 3. Aufl. 2011; Wolfgang Farkas/Stefanie Seidl/Heiko Zwirner (Hg.), Nachtleben Berlin: 1974 bis heute, Berlin 2013; Ulrich Gutmair, Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende, Stuttgart 2013; Wolfgang Müller, Subkultur Westberlin 1979–1989, Hamburg 2013; Victoria Broackes/Geoffrey Marsh (Hg.), David Bowie. Aus dem Englischen von Peter Friedrich, München 2013 (Ausstellungskatalog).
[2] Vgl. etwa Kerstin Schilling, Insel der Glücklichen. Generation West-Berlin, Berlin 2004, 2. Aufl. 2005.
[3] Als Einstieg und Überblick siehe etwa Bodo Mrozek, Popgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.5.2010; Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek, Einleitung, in: dies. (Hg.), Popgeschichte, Bd. 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld 2014, S. 7-31; Jürgen Danyel/Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek, Pop als Zeitgeschichte, in: dies. (Hg.), Popgeschichte, Bd. 2: Zeithistorische Fallstudien 1958–1988, Bielefeld 2014, S. 7-15.
[4] Unter Popscape soll – im Anschluss an den akustisch geprägten Begriff der Sonosphäre bzw. der Soundscape – eine Überlagerung von popkultureller und topographischer Stadtlandschaft verstanden werden, die als urbane Landmarks Bühnen, Studios, Clubs und Proberäume umfasst und von den Reichweiten pop-affiner Rundfunksender ebenso begrenzt wird wie von den personellen Netzwerken unterschiedlicher Szenen und deren Medien. Vgl. einführend zum Begriff Soundscape: Jonathan Sterne, Soundscape, Landscape, Escape, in: Karin Bijsterveld (Hg.), Soundscapes of the Urban Past. Staged Sounds as Mediated Cultural Heritage, Bielefeld 2013, S. 181-194.
[5] Vgl. Klaus Kreimeier, Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns, Frankfurt a.M. 2002.
[6] Finanziert wurden vor allem Theater, Bibliotheken, Denkmalpflege, Musiktheater, Museen. Im Jahr 1989 erhielt der Kultursektor West-Berlins etwa 835 Millionen DM, wovon kaum etwas in Popmusik floss. Vgl. Kurt Geppert u.a., Kultur als Wirtschaftsfaktor in Berlin. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW im Auftrag der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten, Berlin 1992, S. 102ff.
[7] Intelligence Branch, Information Control Division OMGUS USFET: Radio Listening in Germany, Winter 1946, Bd. 1, Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt a.M. (DRAF), A39-05/1.
[8] Vgl. Heiner Stahl, Jugendradio im kalten Ätherkrieg. Berlin als eine Klanglandschaft des Pop (1962–1973), Berlin 2010, S. 157.
[9] Nach dem Grundlagenvertrag von 1972, der solche Propaganda beendete, wurde der Tarnsender eingestellt. Vgl. Günter Grull, Radio und Musik von und für Soldaten. Kriegs- und Nachkriegsjahre 1939–1960, Köln 2000, S. 193; Jürgen Wilke, Radio im Geheimauftrag. Der Deutsche Freiheitssender 904 und der Soldatensender 935 als Instrumente des Kalten Krieges, in: Christoph Classen/Klaus Arnold (Hg.), Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR, Berlin 2004, S. 249-266; Gerd Kaiser, »Hier ist der Deutsche Soldatensender 935«. Eine Stimme im Kalten Krieg, Berlin 2014.
[10] Jugend in Berlin (West) 1976. Einstellungen, Verhaltensweisen, Mediennutzen. Bd. 2 (Analyse), DRAF, A 53/463, S. 32.
[11] Ebd.
[12] Vgl. etwa Peter Jelavich, Berlin Cabaret, Cambridge 1993; ders., Berlin Alexanderplatz. Radio, Film, and the Death of Weimar Culture, Berkeley 2006; sowie die Romane von Christopher Isherwood und die Reportagen von Billy Wilder.
[13] Eine Besonderheit, die mit dem Slogan »Berlin – durchgehend geöffnet« beworben wurde. Vgl. Bernd Cailloux, Spielzeit 77/78: Die weiße Phase, in: Farkas/Seidl/Zwirner, Nachtleben Berlin (Anm. 1), S. 35-39, hier S. 35.
[14] Zu einem besonderen Negativ-Image führten Buch und Film der Heroin-Abhängigen Christiane F. »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, in denen die Diskothek S.O.U.N.D. im Bezirk Tiergarten eine wesentliche Rolle spielt.
[15] Dieser Imagewandel ist z.T. auf die koordinierte Lobby-Arbeit von Gastwirten und Clubbetreibern im Konflikt sowie im Dialog mit dem Senat zurückzuführen. Vgl. Ingo Bader/Albert Scharenberg, The Sound of Berlin. Subculture and the Global Music Industry, in: International Journal of Urban and Regional Research 34 (2010), S. 76-91.
[16] Vgl. etwa diesen Bericht aus den 1950er-Jahren: »Betr.: Schankwirtschaft Sidney-Bier-Bar«, Berlin N 65, an das Bezirksamt Wedding, Landesarchiv Berlin (LAB), B Rep. 010, Nr. 2300 (unpaginiert).
[17] Vgl. die Dokumentensammlung des AlliiertenMuseums Berlin.
[18] Vgl. BRAVO, 4.3.1962, S. 6.
[19] Er betrieb im Bezirk Schöneberg einen Club für R&B und Black Music. Vgl. das Oral-History-Interview mit Gomis für die Ausstellung »Von G.I. Blues zu G.I. Disco. Der ›American Way of Music‹ in Deutschland« (24.5.2013 – 27.4.2014), Sammlung des AlliiertenMuseums Berlin.
[20] Vgl. Brian L. Davis, Qaddafi, Terrorism, and the Origins of the U.S. Attack on Libya, New York 1990, S. 115f.
[21] Vgl. ebd., S. 119f.
[22] Condoleeza Rice, Secretary of State: Certification Under Section 5(A)(2) Of The Libyans Claims Resolution Act Relating To The Receipt Of Funds For The Settlement Of Claims Against Libya, 31.10.2008, URL: <http://www.state.gov/documents/organization/138871.pdf>.
[23] Vgl. Franz Seidler, Fahnenflucht. Der Soldat zwischen Eid und Gewissen, München 1993, S. 377; Ulrich Bröckling, Truppenflüchter und Totalverweigerer. Fahnenflucht, Eigenmächtige Abwesenheit und Dienstentziehung in der Bundesrepublik, in: ders./Michael Sikora (Hg.), Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998, S. 288-319, hier S. 301.
[24] Vgl. Josef Ernst, The Berlin Scene, in: The Wilson Quarterly 12 (1988), S. 123-127.
[25] Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, bes. S. 498-582 sowie S. 595-604.
[26] »Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.« Rauch-Haus-Song, auf: Ton Steine Scherben, Keine Macht für Niemand. David Volksmund Produktion TSS 17 (1972, LP). Vgl. Beate Kutschke, Anti-authoritarian revolt by musical means on both sides of the Berlin Wall, in: dies./Barley Norton (Hg.), Music and Protest in 1968, Cambridge 2013, S. 188-203, hier S. 193.
[27] Klassische Popper-Bands waren etwa ABC, Roxy Music oder die britische Band Spandau Ballet, deren Name nach Angaben der Gruppe auf die Empfehlung eines Musikjournalisten zurückging: Durch ein Graffito in der Disco Dschungel war er auf das Wort »Spandau« gestoßen – außerhalb Berlins als Standort des alliierten Militärgefängnisses bekannt. Vgl. <http://www.spandauballet.com/news/journeys-to-glory-by-robert-elms-part-1/>.
[28] Straßenschlacht in Berlin: Punker prügeln Popper und Polizisten, in: Welt am Sonntag, 19.10.1980.
[29] Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.10.1980.
[30] Ebd.
[31] Plastische Schilderungen dieser Konflikte bietet der autobiographische Roman von Wolf Uwek, Teddy Boy, Berlin 1995.
[32] Thomas E. Schmidt, Als ich mal dazugehörte. Szenebildung Anfang der Achtziger, in: Merkur 67 (2013), S. 957-966, hier S. 957.
[33] Interview mit der Berliner Punkrock-Band Katapult vom 21. Juli 1979 im Hamburger Fanzine Rockmusik Nr. 4 (o.J., ca. 1979). (Für die Quelle danke ich Henning Wellmann.)
[34] Die Punk- und Hausbesetzermusik ist noch im kollektiven Gedächtnis – weniger bekannt ist, dass auch der Berliner Innensenator als Interpret lokalpatriotischen Liedguts dilettierte. Vgl. Heinrich Lummer, Ich kenn’ eine Stadt (Berlin, Berlin, Berlin)/Au weia, Mensch Meier. Hansa 13610 XU (o.J., Single); Ane/Karl-Heinz Hansen/Heinrich Lummer, Grüne Woche in Berlin/Stammtisch-Marsch. Kaskade KAS 10016 (o.J., Single).
[35] Bowie war auch im Milieu von Kabarett und Travestie heimisch, etwa dem Nachtclub Chez Romy Haag. Vgl. Romy Haag (mit Martin Schacht), Die Nachtclub-Revolution, in: Farkas/Seidl/Zwirner, Nachtleben Berlin (Anm. 1), S. 49-55, hier S. 52.
[36] »Leere Straßen, bröckelnde Fassaden – war der Krieg nicht schon vorbei? […] Westdeutsche Waschbeton- und Verbundsteinpflasterwelt sah anders aus«, schreibt etwa der Schriftsteller David Wagner noch über das Berlin der 1990er-Jahre, in: Anne Fesel/Chris Keller (Hg.), Berlin Wonderland. Wild Years Revisited 1990–1996, Berlin 2014, S. 5.
[37] Vgl. Rüther, Helden (Anm. 1), S. 14, S. 203. In diesem Sinne äußerte sich Bowie auch 1984 im Interview mit dem New Musical Express, zit. in: Oriole Cullen, Metamorphosen. David Bowies Verwandlungen, in: Broackes/Marsh, David Bowie (Anm. 1), S. 234-281, hier S. 257.
[38] Vgl. Sabine Giesbrecht, Unterhaltungsmusik um 1900, in: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001, S. 114-160; Daniel Morat, Music in the Air – Listening in the Streets. Popular Music and Urban Listening Habits in Berlin around 1900, in: Christian Thorau/Hansjakob Ziemer (Hg.), The Art of Listening and its Histories. New Approaches to a History of Music Listening, 1800 to Present, Oxford 2015 (i.E.).
[39] Vgl. zum Begriff der Massenästhetik Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2001 (zuerst 1979); Detlef Siegfried, Pop und Politik, in: Geisthövel/Mrozek, Popgeschichte, Bd. 1 (Anm. 3), S. 33-56.
[40] Murray Schafer betonte bereits 1967: »[…] every piece of music is an elaborate soundscape which could be plotted in three-dimensional space.« Zit. nach Sterne, Soundscape, Landscape, Escape (Anm. 4), S. 185.