Jenseits der Nostalgie

Lokalgeschichte und Lebenserinnerungen in Ost- und Westdeutschland

  1. Ostalgie – ein Problembegriff
  2. Nostalgie vor der Ostalgie?
  3. Parallelen der Erinnerung in Ost und West
  4. »Ostalgie«, »Nostalgie« – oder einfach nur »Geschichte«?

Anmerkungen

1. Ostalgie – ein Problembegriff

Mein Ziel in diesem Essay ist es, die lokale Perspektive zu nutzen, um über die Begriffe »Ostalgie« und »Nostalgie« hinauszugehen. Der genauere Blick auf lokale Räume und Praktiken bietet die Möglichkeit, Erinnerungen, die gemeinhin als Nostalgie qualifiziert werden, als Teil einer schon länger bestehenden örtlichen Erinnerungskultur zu verstehen. Wie das Beispiel des sächsischen Dorfes Neukirch zeigt – vor und nach 1989/90 –, war eine ambivalente Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes ein Mittel, um die Stärke der Gemeinschaft zu beschwören. Entgegen der in Wissenschaft und Öffentlichkeit präsenten Überzeugung erscheint Nostalgie hier nicht als eine Flucht in die Vergangenheit, sondern als ein aktives Auseinandersetzen mit der Geschichte und ihren Auswirkungen in der Gegenwart.

Meine Betrachtung beginnt in der ersten Juniwoche des Jahres 1997. Neukirch, etwa 40 Kilometer östlich von Dresden im Lausitzer Bergland gelegen, feierte das 775. Jubiläum seiner Gründung mit einer großen Festwoche. Vom Bürgermeister bis hin zu den örtlichen Vereinen und Schulen bereiteten sich weite Teile der Dorfgemeinschaft auf einen großen Festumzug vor, der den Höhepunkt der Feierlichkeiten darstellen sollte – und dies in einer Phase, in der nicht allen zum Feiern zumute war. Wie für so viele ostdeutsche Gemeinden brachte die staatliche Einheit für Neukirch gemischte Resultate: Auf der einen Seite endeten die im ländlichen Raum besonders ausgeprägten Versorgungslücken, was den Lebensstandard schlagartig ansteigen ließ. Im Dorfbild waren nun bald restaurierte Fassaden zu sehen, und ein wahrer Bauboom ließ den über Jahrzehnte bestehenden Wohnungsmangel in Vergessenheit geraten. Auf der anderen Seite gingen im Zuge der Privatisierung der Industrie viele örtliche Arbeitsplätze verloren, nachdem das Dorf über Jahrzehnte vom »VEB Sondermaschinen- und Rationalisierungsmittelbau« geprägt worden war. Vor allem Frauen und Ältere waren von dieser Umstrukturierung betroffen und fanden oft nur schwer neue Beschäftigung in der unmittelbaren Nähe. Darüber hinaus schlossen ehemalige Zentren des Dorflebens wie das Kino oder die Festhalle. Ein Industriedorf, in dem Gemeinschaftsleben und lokale Identität bis dahin auf den örtlichen Betrieben aufbauten, wurde so innerhalb von wenigen Jahren zu einer Pendler*innengemeinde mit wachsenden sozialen Unterschieden. Auch die ersten negativen Folgen des demographischen Wandels zeichneten sich ab, da vor allem jüngere Menschen den höheren Löhnen und besseren Möglichkeiten der Städte und der westlichen Bundesländer folgten. Von über 7.000 Menschen Anfang der 1980er-Jahre fiel die Einwohner*innen­zahl Neukirchs auf heute knapp unter 5.000.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es wenig überraschend, dass die DDR-Vergangenheit den Festumzug der Neukircher*innen maßgeblich prägte. Allerdings folgte die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und der deutschen Einheit im Ort weniger dem offiziellen Diskurs der »totalitären« DDR und der »friedlichen Revolution« als vielmehr eigenen, lokalen Deutungen. Für das Veranstaltungskomitee, eine Mischung aus neuen, demokratisch gewählten Ortsvertretern sowie leitenden Figuren der Vereine und der Ortschronisten, von denen etwa die Hälfte vor 1990 SED-Mitglieder gewesen waren, hatten Heimatverbundenheit und das Beschwören von Einigkeit im Ort Vorrang. Das Format der Festwoche selbst baute stolz auf DDR-Traditionen auf: Der Festumzug folgte dem Beispiel der Parade, die 1972 zum 750. Gründungsjubiläum des Dorfes organisiert worden war, und steuerte auf den Festplatz im Zentrum zu, wo auch die sozialistischen Maiparaden geendet hatten. Zahlreiche Wagen erinnerten an die Betriebe und Vereine, die im Sozialismus gegründet worden waren. Selbst kleinere Unternehmen und Geschäfte, von der Textilmanufaktur bis hin zur örtlichen Apotheke, nahmen mit ihrer Belegschaft am Festumzug teil und stellten damit stolz die Lebendigkeit des Ortslebens zur Schau.

Aber die Neukircher*innen nutzten den Umzug auch, um auf ihre Weise mit dem ehemaligen Regime »abzurechnen«: Teil des Umzugs war eine symbolische Rekonstruktion der Berliner Mauer – versehen mit einem großen Loch, einer Fahne aus D-Mark-Scheinen und dem Slogan »Wir waren sind das Volk!«. Mit diesem Wagen feierten die Neukircher*innen trotz der Schwierigkeiten der 1990er-Jahre die Reisefreiheit und die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sie mit der Einheit erlangt hatten. Indem sie triumphierend die durchbrochene Mauer durch den Ort trugen, stellten sie sich als Überwinder*innen der Teilung dar. Des Weiteren nahm eine offene weiße Limousine mit Doppelgängern von Erich Honecker und Karl-Eduard von Schnitzler, begleitet von Stasi-Offizieren mit überdimensionierten Ohren und Brillen, am Umzug teil, mit dem die Überwachung und politische Propaganda in der DDR verspottet wurden. In der karnevalesken Auseinandersetzung mit Umbruch und Repression erscheint die DDR-Vergangenheit als Kette von Hindernissen, über die die Neu­kircher*innen gemeinsam triumphieren konnten. Die Stärke der Gemeinschaft wurde in zweierlei Hinsicht affirmiert: zum einen mit einer Distanzierungsgeste, die die Schuld für Repressionen auf »die Mächtigen« in Ost-Berlin statt auf konkrete Personen im Ort verwies. Zum anderen war das »Vorfahren« von Honecker und Schnitzler in Neukirch eine Art Siegesgeste der lange vernachlässigten Provinz über die ehemals Herrschenden.

Die Neukircher tragen die symbolischen Reste der Mauer durch das Dorf, Juni 1997. (Foto Müller, Heimatmuseum Neukirch)
Die Neukircher tragen die symbolischen Reste der Mauer durch das Dorf, Juni 1997. (Foto Müller, Heimatmuseum Neukirch)
Auch Doppelgänger Karl-Eduard von Schnitzlers und Erich Honeckers nehmen am Festumzug teil – begleitet vom »VEB Horch und Guck«, Juni 1997. (Foto Müller, Heimatmuseum Neukirch)
Auch Doppelgänger Karl-Eduard von Schnitzlers und Erich Honeckers nehmen am Festumzug teil – begleitet vom »VEB Horch und Guck«, Juni 1997.
(Foto Müller, Heimatmuseum Neukirch)

Diese im Festzug dargebotene Mischung aus Abrechnung mit dem Sozialismus und Stolz auf die Errungenschaften und Traditionen aus der DDR mag überraschen. Sie verdeutlicht aber vor allem die Art und Weise, wie die Neukircher*innen die DDR-Vergangenheit durch ihre lokale Brille betrachteten. In der Tat zielte die zentrale Botschaft des Festumzugs weniger auf die DDR selbst, sondern feierte vielmehr die Ortsgemeinschaft, die in der Lesart der Veranstalter*innen seit Jahrhunderten verschiedenste Herausforderungen der Geschichte überstanden hatte. Im Angesicht des rapiden Wandels des Dorfes in den 1990er-Jahren bot die Festwoche eine optimistische Sicht auf die Kontinuität der Geschichte, die den Neukircher*innen Mut für die Gegenwart und Zukunft machen sollte.

Wie lässt sich diese lokale Art der Auseinandersetzung mit der sozialistischen Vergangenheit und der Gegenwart der Transformationsgesellschaft am besten beschreiben? Inmitten wachsender Sorgen vor einer Romantisierung des Sozialismus in den 1990er-Jahren deklarierten vor allem westdeutsche Historiker*innen und Beobachter*innen diese Art der Erinnerung schnell als »Ostalgie«. Im Zuge der Einheit verschwanden Symbole der DDR und Konsumprodukte des Sozialismus oft über Nacht aus dem Alltagsbild. Als sich in den 1990er-Jahren ein Verlangen nach genau dieser materiellen Kultur des DDR-Alltags wieder einstellte, etablierte sich schnell der zuerst durch eine Kabarettgruppe geprägte Begriff »Ostalgie«.1 Rasch entwickelte sich Ostalgie zu einem Kampfbegriff für konservative Stimmen, die das Verlangen nach Aspekten des DDR-Alltags als politisch gefährlich kritisierten.2 Gleichzeitig diente der Begriff dazu, Ostdeutsche und ihre Erinnerungen zu exotisieren. So reiste zum Beispiel der westdeutsche Journalist Henryk M. Broder 1995 durch die brandenburgische Provinz und stellte mit Erstaunen fest, dass Ostdeutsche DDR-Traditionen im Ort aufrechterhielten und Konsumprodukte aus der Zeit des Sozialismus wiederentdeckten. Broder bilanzierte: »Der Ossi, das rätselhafte Wesen: Zuerst kann er die DDR nicht schnell genug loswerden, dann klagt er darüber, daß sie ihm abhanden gekommen ist, schließlich versucht er, sie aus ein paar Bruchstücken wieder zusammenzusetzen. Während im Westen von der Notwendigkeit der ›inneren Einheit‹ gesprochen wird, setzt sich der Osten um so stärker vom Westen ab, je mehr sich die Lebensbedingungen angleichen.«3

Im Zuge solcher Debatten wurde der Begriff »Ostalgie« immer weiter ausgedehnt, bis er letztendlich auf fast alle Aspekte der DDR-Erinnerung angewandt wurde. Wie Thomas Ahbe noch 2005 bilanzierte: »In ostdeutschen Erzählgemeinschaften fällt die Erinnerung an die DDR und die deutsche Vereinigung ambivalenter als in der öffentlichen Erinnerung aus. Diese inoffizielle und halböffentliche Erinnerung etikettiert man häufig als Ostalgie.«4 Die Debatten um Ostalgie sind deshalb ein erhellendes Beispiel für die negative Wertung, die dem Begriff »Nostalgie« und seinen verschiedenen Ausdrucksformen anhaftet.

Seit Anfang der 2000er-Jahre wird »Ostalgie« allerdings nur noch selten als politischer Kampfbegriff benutzt. Im Gegensatz zu den 1990er-Jahren sind sich Histori­ker*innen inzwischen seines wertenden Subtexts bewusst. Seit der Jahrtausendwende haben zahlreiche Studien das Verlangen nach Aspekten des DDR-Alltags differenziert erforscht und es auf verschiedene Weise interpretiert: zum Beispiel als »Gegen­erinnerung« einer »gemeinsamen Vergangenheit« der Ostdeutschen in den Jahren seit dem Fall der Mauer oder als ein Verlangen nach dem bescheidenem Konsumglück des Sozialismus in einer Zeit der wirtschaftlichen Unsicherheit.5 Hester Vaizey hat sogar vorgeschlagen, Ostalgie als eine Folge des tiefgreifenden Wandels der alltäglichen Lebenswelten von ehemaligen DDR-Bürger*innen zu verstehen – und deshalb als eine Nostalgie, die sich nicht wesentlich von derjenigen unterscheide, die Westdeutsche für ihre Jugend empfinden.6

Vaizeys Vorstoß ist aus zweierlei Gründen wichtig. Zum einen korrigiert er den durch die langjährige Fokussierung auf Ostalgie in der Forschung erweckten Eindruck eines ostdeutschen Erinnerungs-Exzeptionalismus, bei dem Parallelen der Erinnerung an die Nachkriegszeit in Ost- und Westdeutschland weitgehend ignoriert wurden. Zum anderen lädt Vaizey dazu ein, die Erinnerungen von Ostdeutschen nicht nur im unmittelbaren Kontext des politischen Umbruchs zu analysieren, sondern auch in einer längeren Perspektive der Lebensgeschichten im geteilten und vereinten Deutschland. Dennoch bleibt die Frage: Inwiefern hilft es unserem Verständnis der ostdeutschen Erinnerungen, wenn wir »Ostalgie« wieder in das breitere Phänomen der »Nostalgie« einbetten?

Diese Frage beantworte ich im Folgenden mithilfe eines doppelten Vergleichs. Zum einen öffne ich den Blick auf das Geschichtsengagement in Neukirch vor 1990 und zeige damit, dass oftmals als »ostalgisch« bewertete Diskurse Teil einer schon länger bestehenden lokalen Geschichtskultur waren. Zum anderen vergleiche ich Neukirch mit einer westdeutschen Gemeinde: Ebersbach an der Fils in Baden-Württemberg, etwa 35 Kilometer östlich von Stuttgart gelegen. Im Zuge meiner Dissertation zum Dorfleben in der DDR und der Bundesrepublik interviewte ich jeweils 20 Bewohner*innen der beiden Orte und sprach mit ihnen über ihre Lebensgeschichten und Erfahrungen des Wandels im Dorf.7 Der Blick über die ehemalige innerdeutsche Grenze zeigt erstaunliche Parallelen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Mein doppelter Vergleich bietet damit ein Gegengewicht zu den Debatten um »Ostalgie«, die lange symptomatisch gewesen sind für das insgesamt limitierte Verständnis, das ostdeutschen Erfahrungen im vereinigten Deutschland entgegengebracht worden ist.

2. Nostalgie vor der Ostalgie?

Die Fokussierung von Erinnerungsstudien auf die Zeit ab 1990 hat einen folgenschweren Nebeneffekt: Es scheint, als sei Nostalgie in Ostdeutschland nach der staatlichen Einheit quasi aus dem Nichts entstanden. Während in der Bundesrepublik Nostalgie als eine angebliche Begleiterscheinung des Konsumkapitalismus ab den 1970er-Jahren ausgiebig diskutiert wurde, ist sie in den historischen Debatten über die DDR fast komplett ignoriert worden. In der Tat war das Geschichtsverständnis des SED-Regimes auf die Zukunft gerichtet. Da die offizielle Rhetorik die DDR auf einem klaren Entwicklungspfad von einer rückständigen Vergangenheit zu einer besseren, sozialistischen Zukunft sah, war ein nostalgisches Zurückblicken offiziell nicht erwünscht. Auch Ortsgeschichten in Neukirch folgten diesem Muster und dokumentierten vor allem Verbesserungen der Lebensbedingungen im Dorf seit der »Befreiung« durch sowjetische und polnische Truppen in Mai 1945. Dennoch: Das Beschwören von Gemeinschaft durch Erinnerungen an hart umkämpfte Errungenschaften, das nach 1990 oft als Ostalgie bezeichnet wurde, war schon wesentlich früher ein wichtiger Bestandteil der lokalen Erinnerungskultur.

Ein Beispiel hierfür ist der Tischtennisverein in Neukirch, welcher den offiziellen Aufbaudiskurs ganz im Sinn der eigenen Zwecke interpretierte, nämlich um Erfolge der Vereinsgemeinschaft herauszuheben. In den Besatzungsjahren gegründet, konnte der Tischtennisklub trotz anfänglichen Mangels an Ausrüstung und geeigneten Spielorten am Ende der 1970er-Jahre auf drei Jahrzehnte des erfolgreichen Vereinslebens zurückblicken. Ein Mitglied erinnerte sich: »Mit viel Elan und Begeisterung zur Sache haben die genannten Sportfreunde alle Klippen überwunden, die ihnen im Wege standen. Keine Bälle (kleine Textilschiebungen mussten herhalten), Schläger von anno dazumal, Fahrgelder wurden aus der eigenen Tasche bezahlt […]. Die erste einheitliche Kleidung waren sechs Kopfbänder, gestrickt von der Sportfreundin Hildegard Kittan. Den dritten Tischtennistisch stellte Oskar Patzig in handwerklicher Meisterarbeit her. Das Holz dazu hat er vier Monate in seiner Küche getrocknet. Es war eine zufriedene und schöne Zeit, wo alles mit Hand anlegte und die Sportgemeinschaft im Vordergrund stand.«8 Was wie ein typischer Fall von Ostalgie klingen mag, ist in Wirklichkeit ein Zitat aus einer Rede, die 1977 zum 30. Jahrestag der Gründung des Vereins gehalten wurde. Der Stolz, bescheidenes Glück in der Mangelwirtschaft gefunden zu haben, war nicht erst ein Phänomen der Zeit nach der »Wende«. Schon vor der Einheit war diese Form des sehnsüchtigen Zurückblickens ein wichtiges Mittel, um Zusammenhalt inmitten der Versorgungslücken des Sozialismus zu beschwören.

Auch diese Erinnerung zeugt vom ambivalenten Umgang des Dorfes mit Wandel: Anfang Oktober 1989 schrieb Hans Schlenkrich, der über viele Jahre eine führende Position in der Konsumgenossenschaft des Dorfes eingenommen hatte, auf Anfrage der Ortschronisten eine kurze Geschichte der Läden in Neukirch.9 Schlenkrich stellte vor allem heraus, was er und seine Kollegen zur Verbesserung der Konsumsituation im Dorf getan hätten: »Wie viele Stunden sind da zusätzlich geleistet worden. Es war eine Selbstverständlichkeit[,] und keiner fragte nach der Bezahlung. Wir, die alten Kollegen, die damals die Anfänge mitgemacht haben, können mit Fug und Recht behaupten, dass auch wir unseren Anteil am Aufbau unseres sozialistischen Staates geleistet haben […].«10 Wie die Mitglieder des Tischtennisvereins, so modifizierte auch Schlenkrich den Aufbaudiskurs, um gemeinschaftliche Errungenschaften im Ort zu feiern. Dieser Rückblick sparte allerdings kritische Perspektiven nicht aus. Während Schlenkrich die in der Nachkriegszeit geschaffenen Einrichtungen lobte, beklagte er zugleich den Verlust der kleinen »Kolonialwarenläden« des Dorfes, da diese neben allen benötigten Gütern auch immer Gelegenheit für »einen kleinen Schwatz« geboten hätten. Schlenkrichs Ausblick auf die negativen Begleiteffekte der Modernisierung passte nur schlecht in den offiziellen Diskurs des sozialistischen Fortschritts. Darüber hinaus ließ sich seine Sehnsucht nach den »Kolonialwarenläden« des Ortes kaum mit der antiimperialistischen Ideologie des SED-Regimes vereinbaren. Dass die Ortschronisten es dennoch nicht für notwendig hielten, Schlenkrichs Kommentare zu redigieren, kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass ein solches Reflektieren über negative Begleiteffekte des Wandels unter den Neukircher*in­nen weit verbreitet war.

Interessanterweise wurde diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit schon damals von westdeutschen Beobachter*innen als »Nostalgie« bezeichnet. Im August 1977 berichtete die »Süddeutsche Zeitung« von einem steigenden Interesse an Antiquitäten, historischen Fassaden und Lokalgeschichten in der DDR, um zu bilanzieren: »Jenseits der Elbe rollt die Nostalgie-Welle«.11 Der Zeitpunkt des Artikels ist in diesem Fall vielsagend: Inmitten der westdeutschen »Nostalgie-Welle« projizierten die Beobachter aus der Bundesrepublik ihre eigenen Nostalgiediskurse auf die Deutschen jenseits der Mauer. Im Zuge der Wiedervereinigung gerieten diese Debatten über Nostalgie in der DDR allerdings rasch in Vergessenheit.

Während der 1990er-Jahre änderten sich die Bezugspunkte der Lokalgeschichte, als die Ortschronisten – nun frei von Zensur und politischer Einflussnahme, aber ansonsten mit fast unverändertem Personal – zahlreiche Veröffentlichungen vorlegten. Besonders im Fokus standen nun Orte des Gemeinschaftslebens, die in den Jahren nach der deutschen Einheit von Schließung bedroht waren. Ortschronist Siegfried Heinrich zum Beispiel veröffentlichte 1995 eine Serie von zehn Artikeln über das Neukircher Kino in der »Sächsischen Zeitung«.12 1911 gebaut und 1957 nach langer Stilllegung renoviert und wiedereröffnet, galt das Kino als ein Symbol örtlicher Errungenschaften in der DDR. Als zweites Kino in der DDR mit einer sogenannten Visionsbar, in der man Speisen und Getränke während der Filmvorführung genießen konnte, war es der Stolz des Dorfes. 1991 wurde das Kino von einem westdeutschen Investor gekauft und kurz darauf stillgelegt. Das verfallende Gebäude steht bis heute als eine schmerzhafte Erinnerung an die Verluste der Wendejahre im Zentrum des Ortes. Drei der Artikel in Heinrichs Serie beschäftigten sich mit der DDR und erläuterten, wie Freiwillige, zu denen auch Heinrich als Leiter des Filmklubs gehörte, das Kino trotz fehlender Mittel zu einem beliebten Treffpunkt ausgebaut hatten.13 Im letzten Artikel widmete sich Heinrich der Schließung des Kinos nach dem Ende der DDR: »Am 3. Juli 1991 schlugen nach der Aufführung des Filmes ›Drei Männer und eine Lady‹ die Pforten des Neukircher Kinos unerbittlich zu. […] Wenn es die Neukircher auch schmerzt, sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Zeit, da ihr Kino nur als solches genutzt wurde, aus vielerlei Gründen abgelaufen ist. Was bleibt, ist die Erinnerung an jene 80 Jahre Neukircher Kino-Geschichte. Was aber eben auch nicht aus dem Sinn verschwinden will, ist der immer und immer wieder aufglühende optimistische Gedanke, dass eines Tages doch wieder ›neues Leben aus den Ruinen blühen wird‹.«14

Heinrichs Text war im Duktus einer Trauerrede für einen beliebten Ort des Gemeinschaftslebens verfasst. Seine Schlussworte, ein Zitat aus Schillers »Wilhelm Tell«, lassen sich zugleich als Anspielung auf die DDR-Nationalhymne lesen und suggerieren die Hoffnung einer erneuten Aufbau-Ära nach schweren Zeiten. Heinrichs Geschichte des Kinos folgte damit in vieler Hinsicht der Tradition der DDR-Ortschroniken, hatte jedoch einen anderen, sehr konkreten Zweck: So war kurz vor der Publikation Hoffnung aufgekommen, dass die Gemeinde das Kino retten könne. Mit seiner Serie wollte der Ortschronist die Bedeutung dieses Projekts unterstreichen. Letztlich blieben die Pläne aufgrund der enormen Kosten aber in den Schubladen des Gemeindeamtes.15 Ungeachtet dessen wird hier deutlich, wie sehr die Lokalgeschichte der Transformationszeit für Ortschronisten wie Heinrich ein Mittel war, um an Errungenschaften der Dorfgemeinschaft zu erinnern und vom Wandel bedrohte Räume des Dorflebens zu bewahren.

Auch hier läge es nahe, von Ostalgie zu sprechen. Allerdings ignorierte dieses Etikett, dass Heinrichs Blick sich nicht auf die DDR-Zeit beschränkte, sondern »80 Jahre Neukircher Kino-Geschichte« betrachtete. In der Tat steht die DDR in den meisten Ortsgeschichten aus den 1990er-Jahren nicht im Mittelpunkt. Heinrich selbst veröffentlichte zwischen 1993 und 1996 drei Bände mit Neukircher Fotografien aus den Jahren 1860 bis 1930.16 Mit diesem Blick auf das Dorf in den Jahrzehnten der Industrialisierung wollte der Ortschronist zeigen, dass die Neukircher*innen schon einmal einen anscheinend überwältigenden Wandel ihrer Alltagswelt gemeistert hätten. In der Einleitung zum ersten Band argumentierte Heinrich, dass die Neukircher*innen ein »Menschenschlag […] von echter Oberlausitzer Art« seien, der durch seine Hartnäckigkeit und unerbittliche Arbeitsmoral immer wieder die Stürme der Geschichte überstanden habe. Am Beispiel der Krisen, die das Dorf durchlief, betonte der Ortschronist, dass diese Mentalität den Neukircher*innen auch in der Zukunft helfen werde: »Legen sich auch wie ein großer Schatten die Ereignisse des Ersten Weltkriegs und die Folgen der Inflation und der Weltwirtschaftskrise auf die Bevölkerung, die Neukircher Bürger haben keine Kraftanstrengung gescheut, die Nöte der Zeit zu überwinden. Mit hohem, heimatverbundenem Einsatz, mit Risikofreudigkeit und mit einer optimistischen Lebenseinstellung haben sie später auch jene schweren Probleme gelöst, von denen sie in den beschriebenen fünfzig Jahren noch gar nicht wussten, dass sie einmal auf sie zukommen würden. Mit solchen Menschen [...] darf man wohl getrost in die Zukunft schauen.«17 Auch ohne explizite Verbindung zu den 1990er-Jahren war die Botschaft klar: Diese Mentalität werde es ermöglichen, die erneuten Krisen der Transformationszeit zu überstehen.

Heinrichs Beschwören der Hartnäckigkeit der Neukircher*innen im Angesicht von historischen Herausforderungen war typisch für die Veröffentlichungen der 1990er- und 2000er-Jahre. Auch die von den Ortschronisten 2009 herausgegebene Bildchronik, die als offizielle Geschichte des Dorfes fungierte, stellt die lange Sicht auf fast acht Jahrhunderte Neukircher Geschichte in den Vordergrund. Die Mangelwirtschaft des Sozialismus ebenso wie die deutsche Einheit finden sich eingereiht in den Ablauf externer Krisen und Herausforderungen, die die Dorfgemeinschaft trotz aller Schwierigkeiten überwunden habe.18 Der Blick zurück auf Aspekte des Dorflebens im Sozialismus muss deshalb als Teil einer längeren Auseinandersetzung mit dem Wandel der alltäglichen Lebenswelten verstanden werden.

3. Parallelen der Erinnerung in Ost und West

Während Nostalgie in Ostdeutschland vor allem als ein Phänomen der Transformationsgesellschaft nach 1990 erforscht wurde, stand im Westen die Nostalgie-Welle der 1970er-Jahre im Vordergrund der Diskussionen.19 Ein Ost-West-Vergleich zeigt jedoch, wie ähnlich die Sehnsucht nach der Vergangenheit teils artikuliert wird. In meinen Gesprächen mit Neukircher*innen hörte ich zwar immer wieder Narrative, die als typische Elemente von Ostalgie beschrieben werden könnten: das Beschwören einer verlorenen Gemeinschaftssolidarität, Klagen über den Verlust der familiären Lebensumwelt der Kindheit sowie entpolitisierte Diskurse kollektiver Errungenschaften in der Diktatur. Allerdings fand ich diese Diskurse in sehr ähnlicher Form auch in den Gesprächen mit den Bewohner*innen von Ebersbach in Baden-Württemberg.

Eine erste solche Parallele liegt im Verlangen nach Gemeinschaft. In ihren Lebenserinnerungen hoben viele Neukircher*innen hervor, dass der Zusammenhalt aus der Zeit des Sozialismus in der »Ellenbogengesellschaft« des Kapitalismus verlorengegangen sei. Jürgen Thomas (geboren 1950) stellte zum Beispiel fest: »Der Zusammenhalt war eigentlich, denke ich, besser wie heute. Heute ist der Egoismus viel weiter verbreitet. Man war geselliger zusammen.«20 Auch Petra Mrosowski (geboren 1958) betonte, dass Ungleichheiten und der Verlust von örtlichen Arbeitsplätzen Lebensweisen diversifiziert und ein »Zusammengehörigkeitsgefühl« zerstört hätten.21 Solche Einschätzungen waren keine Einzelfälle: Sie finden sich in den Erinnerungen von Wendeverlierern wie -gewinnern und wurden auch von Interviewpartner*innen unterstützt, die in der DDR Opfer von Repressionen waren.

Meine Interviewpartner*innen in Ebersbach beschworen allerdings ebenso oft einen angeblich verlorenen Zusammenhalt. Dies ist umso überraschender, da Ebersbachs Entwicklung seit 1945 auf den ersten Blick wesentlich erfolgreicher verlief als diejenige von Neukirch. In den Jahren des westdeutschen »Wirtschaftswunders« wuchs Ebersbach von einem Industriedorf, das Neukirch in Größe und Struktur der Dorfgemeinschaft ähnelte, zu einer boomenden Kleinstadt mit 15.000 Einwohner*in­nen heran. Seit der deutschen Einheit hat Ebersbach eine erneute Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs erlebt, die zu einer weitreichenden Modernisierung des Stadtzentrums geführt hat. Trotz der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in Ebersbach drückten auch dort fast alle Interviewpartner*innen ein Verlangen nach dem früheren Gemeinschaftsgefühl aus. Die Ebersbacher*innen siedelten den Verlust der Dorfgemeinschaft allerdings nicht in den 1990er-Jahren an, sondern im rapiden Wachstum der 1960er- und 1970er-Jahre, als sich Ebersbach von einem Dorf in eine mittelgroße Pendlergemeinde entwickelte. Martin Hafner (geboren 1941) erinnerte sich zum Beispiel an seine Kindheit im Ort, als noch »jeder jeden kannte«, und hob hervor: »Also die Gemütlichkeit, die ja auch Zusammengehörigkeit bringt, die gibt es heute nicht mehr.«22 In der gleichen Weise, wie die Neukircher*innen den wirtschaftlichen Wandel der Wendejahre für den Verlust des Gemeinschaftsgefühls verantwortlich machten, stellten die Ebersbacher*innen die negativen Begleit­effekte der Modernisierung der Nachkriegszeit in den Mittelpunkt ihrer Lebenserinnerungen.

Auch der Verlust der familiären Umgebung der Kinder- und Jugendzeit war in ost- wie westdeutschen Erinnerungen allgegenwärtig. Interviewpartner*innen in Neukirch beklagten oft, dass wichtige Orte des Gemeinschaftslebens in der DDR der Entwicklung seit 1990 zum Opfer gefallen seien. Diese Beschwerden kristallisierten sich vor allem um das bereits erwähnte Kino. Wie Stephan Albert (geboren 1952) erinnerten sich viele Neukircher*innen an Ausflüge mit Familie und Freunden und kritisierten, dass »dieses wunderschöne Kino, das Gebäude, für ein Äppel [sic] und ein Ei an irgendjemanden verhökert [wurde], der nichts weiter vor hatte, als das Ding sterben zu lassen«.23 In der Summe stellten einige Interviewpartner*innen die Transformationszeit in Neukirch als eine Zeit der Verluste und des Abstiegs dar. Wie Mrosowski im Hinblick auf die Schließung des Kinos und der Festhalle erklärte: »Wenn ich mir [die DDR-Dorfchronik] durchlese, sage ich mir immer: Was ist alles in der Zeit neu dazugekommen? Jetzt in Neukirch speziell. Und was haben wir denn davon noch? Nichts mehr. Und das ist eigentlich schade. Weil vieles ist nur noch eine Geldfrage, es zählt nicht mehr alles andere, sondern nur noch, ob es irgendwie finanziellen Nutzen hat.«24

Das Neukircher Kino am Tag seiner feierlichen Wiedereröffnung 1957 (Fotograf*in unbekannt, Heimatmuseum Neukirch)
Das Neukircher Kino am Tag seiner feierlichen Wiedereröffnung 1957
(Fotograf*in unbekannt, Heimatmuseum Neukirch)
Im Jahr 2003 nahm der Neukircher Frank Märker eine Fotoserie über die Ruine des ehemaligen Kinos auf. Die Detailbilder, mehr als zwölf Jahre nach der Schließung des Kinos entstanden, zeigen treffend, wie sehr das leerstehende Gebäude bis heute ein schmerzhaftes Symbol der Verluste der Transformationszeit ist. (Frank Märker, Heimatmuseum Neukirch)
Im Jahr 2003 nahm der Neukircher Frank Märker eine Fotoserie über die Ruine des ehemaligen Kinos auf. Die Detailbilder, mehr als zwölf Jahre nach der Schließung des Kinos entstanden, zeigen treffend, wie sehr das leerstehende Gebäude bis heute ein schmerzhaftes Symbol der Verluste der Transformationszeit ist.
(Frank Märker, Heimatmuseum Neukirch)

Trotz der wesentlich erfolgreicheren Entwicklung in Ebersbach seit 1990 fanden sich auch dort ähnliche Diskurse wie jene um das Neukircher Kino. Wie die Neu­kircher*innen beklagten sich die Ebersbacher*innen über den Verlust von historischen Gebäuden im Ortszentrum, mit denen sie aufgewachsen waren. Besonders eine neu eröffnete Fußgängerzone auf dem Gelände der ehemaligen Konservenfabrik Kauffmann im Ortszentrum wurde als »Betonwüste« mit »billige[r] Architektur« abgewiesen.25 Gilbert Kübler (geboren 1955), der direkt neben der Fabrik aufgewachsen war, beschrieb die Umgestaltung des Ortskerns in auffallend ähnlicher Weise wie Mrosowski in Neukirch: »Aber ich weine [dem alten Stadtzentrum] schon so ein bisschen nach, aus dem Grunde einfach, dass ich sage, wenn man sich den Ort anschaut in den Fünfziger Jahren, dann haben wir […] es wirklich hingekriegt, den Ort so zu verändern von der Struktur her, dass sich die ehemaligen Einheimischen nicht mehr auskennen. […] Es identifiziert sich keiner mehr mit dem Ort, mit der Stadt.«26

Trotz der Klagen über den Verlust wichtiger Orte des Gemeinschaftslebens hoben viele Interviewpartner*innen gleichzeitig positive Entwicklungen hervor. Weder Mrosowski noch Kübler lehnten Wandel kategorisch ab. Stattdessen drückten sie ihr Unverständnis für konkrete Veränderungen im Ort aus: den Verlust der örtlichen Sozialräume in einem immer mehr zur Pendlergemeinde werdenden Neukirch sowie den mangelhaften Erhalt von historischer Bausubstanz in Ebersbach. Vor allem bedeutete dieses Verlangen nach Orten der eigenen Jugend nicht, dass die Dorfbewohner*in­nen Sehnsucht nach der Vergangenheit hatten. In Neukirch betonten alle Interview­partner*innen, dass sie nicht die DDR selbst, sondern bloß bestimmte Aspekte ihres Lebens aus der Zeit vor der »Wende« vermissten. Auch in Ebersbach wünschte sich keiner der Befragten eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor 1990, als das Zentrum des Ortes, damals noch ohne Umgehungsstraße, vom Verkehr belastet und stark verschmutzt war. Anstatt in eine idealisierte Vergangenheit zurückkehren zu wollen, plädierten Mrosowski und Kübler dafür, den anhaltenden Wandel der beiden Orte zu beeinflussen und damit eine bessere Zukunft zu gestalten.

Zudem zeigt der Vergleich zwischen Neukirch und Ebersbach, dass auch der entpolitisierte Charakter der DDR-Erinnerungen, der oftmals mit Ostalgie assoziiert wird, Parallelen in westdeutschen Erinnerungen hat. Die Bewohner*innen beider Orte präsentierten ihre Lebenserinnerungen vor allem als Diskurse hart umkämpfter gemeinschaftlicher Erfolge, deren politische Dimension oft an den Rand gedrängt wurde. Wie viele ehemalige SED-Mitglieder in Neukirch räumte Lothar Dietrich (geboren 1954) seine Parteimitgliedschaft erst auf meine Nachfrage hin ein. Zu seinen Beweggründen für den Parteibeitritt erklärte Dietrich, dass er »im Dorf etwas bewegen wollte«.27 Er präsentierte seinen politischen Aktivismus als einen heimatverbundenen, unpolitischen Einsatz für die Dorfgemeinschaft. Diese Erinnerung lässt sich freilich als Versuch Dietrichs interpretieren, sein persönliches Vermächtnis im Ort vom Kontext der Diktatur zu trennen. Gleichzeitig ist sie aber als Ausdruck lokalen Engagements zu lesen: Über Jahrzehnte hatte sich der Neukircher für seinen Ort eingesetzt, indem er der Instandhaltung gemeinschaftlicher Einrichtungen, der Begrüßung von Touristen oder dem Führen einer Ortschronik unzählige Stunden widmete.

Selbst Interviewpartner*innen, die dem Regime kritisch gegenüberstanden, stimmten Dietrich in dieser Hinsicht zu und spielten die politische Dimension solcher Einsätze für die Dorfgemeinschaft herunter. Karl-Louis Lehmann (geboren 1943), der jahrelang von der Stasi überwacht wurde und nach der »Wende« für die CDU in den Gemeinderat einzog, lobte den Einsatz von Aktivisten wie Dietrich, »die aus dem Nichts was geschaffen haben«. Während Lehmann SED-Funktionäre für ihre Unterstützung des diktatorischen Systems kritisierte, betonte er, dass die politische Dimension solcher Beispiele von gemeinschaftlichem Aktivismus im Dorf »keine Rolle« spiele.28 Ähnlich wie die Lokalgeschichten der Ortschronisten versuchten die Inter­viewpartner*innen in Neukirch oft, die Erfolge der Gemeinschaft von den politischen Rahmenbedingungen zu trennen. Dementsprechend ist es wenig überraschend, dass sie ausgesprochen politische Themen wie die Staatssicherheit oft bloß auf Nachfrage erwähnten. Nur fünf von zwanzig Befragten in Neukirch gaben ein klares »ja« als Antwort auf die Frage, ob sie in der DDR das Gefühl gehabt hätten, in einer Diktatur zu leben, obwohl alle Interviewpartner*innen in der anschließenden Diskussion den Einfluss der Stasi im Ort detailliert und durchaus kritisch beschrieben.29

Aber auch die Ebersbacher*innen präsentierten ihre Lebensgeschichten größtenteils als unpolitisch und konzentrierten sich auf gemeinschaftliche Errungenschaften. Gilbert Kübler, zusammen mit einer Gruppe von Freunden für eine der wichtigsten Ebersbacher Umweltprotestaktionen in den 1970er-Jahren verantwortlich, ist hierfür ein Beispiel. Zu den wachsenden Sorgen der Ebersbacher*innen gehörte in dieser Zeit der Autoverkehr durch den Ort, der in der Nachkriegszeit stark angestiegen war und nicht nur Luft- und Lärmverschmutzung verursachte, sondern auch regelmäßig zu schweren Unfällen mit Fußgängern führte. Als die Gemeindeverwaltung öffentliche Forderungen nach einem Zebrastreifen nahe des Zentrums wiederholt ignorierte, nahmen Kübler und seine Freunde einfach Farbe und Pinsel in die Hand und malten in der Nacht zum 1. Mai 1977 einen Zebrastreifen auf die Hauptstraße. Diese Protestaktion sorgte für regionale Schlagzeilen und hatte für die Gruppe sogar strafrechtliche Konsequenzen.30 Als ich Kübler allerdings fragte, ob diese Aktion als Umweltaktivismus bezeichnet werden könnte, lachte er nur. Wie er schilderte, sah sich die Gruppe weder als Teil der Bürgerinitiativen noch der damaligen Umweltbewegung. Stattdessen beschrieb sich Kübler als ein wachsamer Beobachter der Entwicklung des Ortes, dessen Aufgabe es war, Lokalpolitiker an »ihre Aufgaben zu erinnern«.31

Küblers Versuch, Politik und Einsatz für die Gemeinschaft in seinen Lebenserinnerungen zu trennen, war bei weitem nicht das einzige Beispiel dieser Art. Auch andere ehemalige Stadtratsmitglieder oder Aktivist*innen spielten ihre politischen Motivationen herunter und präsentierten ihr Engagement als einen selbstverständlichen Einsatz für die Ortsgemeinschaft.32 Nicht nur die Neukircher*innen, sondern auch die Ebersbacher*innen versuchten ihre persönlichen Lebenswege von den politischen Rahmenbedingungen zu distanzieren. Interviewpartner*innen in Ost und West beschrieben ihre Orte als Gemeinschaften, die den Verwerfungen der »großen« Geschichte ausgesetzt waren, aber innerhalb der dörflichen Lebenswelt Handlungsspielraum hatten. In beiden Orten half diese Perspektive den Interviewpartner*innen, sich als Architekten ihres eigenen Schicksals zu sehen und örtliche Errungenschaften über den zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen.

4. »Ostalgie«, »Nostalgie« – oder einfach nur »Geschichte«?

Wie der doppelte Vergleich in diesem Essay zeigt, müssen Historiker*innen die tiefe Verwurzelung der Erinnerungskultur in der jeweiligen lokalen Perspektive erkennen. Statt Nostalgie als eine Verweigerung von historischem Wandel zu sehen, sollten wir sie als einen festen Bestandteil dieses Prozesses anerkennen – sowohl im Osten als auch im Westen der Republik. Gleichwohl sind diese Erinnerungen auch kritisch zu betrachten: Die Versuche der Neukircher*innen, sich von den politischen Rahmenbedingungen der DDR zu distanzieren oder schwierige Themen wie gesellschaftliche Partizipation oder Exklusion auszulassen, müssen selbstverständlich von Historiker*in­nen hinterfragt werden. Anstatt diese Erinnerungen als nostalgisch abzuweisen, kann und muss die Geschichtswissenschaft aber einen Beitrag dazu leisten, diese lokale Erinnerungskultur mit den notwendigen kritischen Perspektiven zu bereichern.

Für ein besseres Verständnis solcher Erinnerungen ist es auch notwendig, stärker die Parallelen in den Lebenserinnerungen Ost- und Westdeutscher zu erforschen. Die Auseinandersetzung mit westdeutschen Ortsgeschichten und persönlichen Erinnerungen kann helfen, das Klischee des naiven »Ossis« zu überwinden, auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Zudem kann die vergleichende Perspektive helfen, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und die Annahme der grundverschiedenen Mentalitäten in Ost und West zu überprüfen. Die Neukircher*innen und die Ebersbacher*innen jedenfalls würden so einige Gemeinsamkeiten im Rückblick auf die Geschichte ihrer Orte finden: den Stolz auf lokale Errungenschaften trotz schwieriger Rahmenbedingungen, das Verlangen nach einem verlorengegangenen Gemeinschaftsgefühl oder das Streben nach politischer Anerkennung. Für Historiker*innen, die einer Unterhaltung zwischen den Bewohner*innen der beiden Orte beiwohnen könnten, dürfte klarwerden: Was sich hinter dem Begriff »Nostalgie« verbirgt, ist nur selten das Verlangen nach einer idealisierten Vergangenheit.


Anmerkungen:

1 Thomas Ahbe, Ostalgie. Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005.

2 Monika Deutz-Schroeder/Klaus Schroeder, Oh, wie schön ist die DDR. Kommentare und Materialien zu den Ergebnissen einer Studie, Schwalbach 2009; Heinrich Oberreuter, Vorwort, in: Clemens Vollnhals/Jürgen Weber (Hg.), Der Schein der Normalität. Alltag und Herrschaft in der SED-Diktatur, München 2002, S. 5-7.

3 Henryk M. Broder, »Wir lieben die Heimat«, in: Spiegel, 3.7.1995, S. 54-64, hier S. 56.

4 Ahbe, Ostalgie (Anm. 1), S. 7.

5 Paul Betts, Remembrance of Things Past. Nostalgia in West and East Germany, 1980–2000, in: ders./Greg Eghigian (Hg.), Pain and Prosperity. Reconsidering Twentieth-Century German History, Stanford 2003, S. 178-207; Paul Cooke, Representing East Germany since Unification. From Colonization to Nostalgia, Oxford 2005; Daphne Berdahl, On the Social Life of Postsocialism. Memory, Consumption, Germany, Bloomington 2010.

6 Hester Vaizey, Born in the GDR. Living in the Shadow of the Wall, Oxford 2014, S. 165-177.

7 Marcel Thomas, Local Lives, Parallel Histories. Villagers and Everyday Life in Divided Germany, Oxford 2020.

8 Deutscher Tischtennis-Verband im Deutschen Turn- und Sportbund – Bezirksfachausschuss Dresden (1977), Heimatmuseum Neukirch (nachfolgend HM Nk), Zeitgeschichtliche Sammlung (nachfolgend ZS).

9 Die Ortschronistenvereinigung in Neukirch umfasste damals etwa 15 Mitglieder, unter denen zahlreiche Lehrer und fast ausschließlich Männer waren. Etwa die Hälfte der Ortschronisten waren SED-Mitglieder.

10 Hans Schlenkrich, Die Entwicklung des genossenschaftlichen sozialistischen Einzelhandels in Neukirch (1989), HM Nk, ZS.

11 Peter Pragal, Stiller Widerstand mit alten Säbeln: Jenseits der Elbe rollt die Nostalgie-Welle, in: Süddeutsche Zeitung, 9.8.1977.

12 HM Nk, Box Kino/Bad/Post.

13 Siegfried Heinrich, Erste Visionsbar entstand hier: Erinnerungen ans einstige Filmtheater in der Oberlandgemeinde Neukirch, in: Sächsische Zeitung, 24.8.1995.

14 Ders., Noch keine Hoffnung: Erinnerungen ans einstige Neukircher Filmtheater, in: Sächsische Zeitung, 14.9.1995.

15 Ders., Neukircher wollen ihr Kino zurück: Antwort der Staatsregierung steht allerdings noch aus, in: Sächsische Zeitung, 11.11.1994.

16 Ders., Neukirch in alten Ansichten, 3 Bde., Zaltbommel 1993–1996.

17 Ders., Neukirch in alten Ansichten, Bd. 1, Zaltbommel 1993, S. 5f.

18 Ortschronisten Neukirch, Aus der Geschichte unseres Heimatortes Neukirch/Lausitz, Herrnhut 2009. Die Zeit des Nationalsozialismus wird dabei zusammen mit dem Zweiten Weltkrieg auch als eine solche externe Krise präsentiert. Fragen nach der Partizipation der Neukircher im NS-Regime und dem Holocaust werden größtenteils ausgeblendet.

19 Der nach 1990 eingebrachte Begriff der »Westalgie« wurde nie ähnlich systematisch wie die »Ostalgie« erforscht und blieb eher eine Randnotiz in den Debatten. Siehe dazu Dorothea Otto, »Westalgie« in Leander Haußmann’s Herr Lehmann, in: Senses of Cinema 60 (2011).

20 Interview I mit Jürgen Thomas, Neukirch, 3.4.2013.

21 Interview III mit Petra Mrosowski, Neukirch, 14.4.2014.

22 Interview mit Martin Hafner, Ebersbach, 29.4.2014.

23 Interview I mit Stephan Albert, Steinigtwolmsdorf, 19.6.2013.

24 Interview II mit Petra Mrosowski, Neukirch, 4.4.2013.

25 Interview mit Stefan Schmid, Ebersbach, 4.3.2015.

26 Interview mit Gilbert Kübler, Sulpach, 30.4.2014.

27 Interview I mit Lothar Dietrich (Pseudonym), Neukirch, 8.4.2013.

28 Interview II mit Karl-Louis Lehmann, Neukirch, 21.4.2016.

29 Interview I mit Stephan Albert (Anm. 23); Interview mit Hans-Henning von Kleist, Neukirch, 12.8.2014; Interview mit Hannelore Venus, Neukirch, 22.4.2016; Interview I mit Karl-Louis Lehmann, Neukirch, 20.8.2014; Interview mit Frank Pötter, Neukirch, 18.7.2013.

30 Protest in Weiß auf Grau, in: Neue Württembergische Zeitung, o.D. [Mai 1977], Sammlung Gilbert Kübler.

31 Nicht aufgezeichnetes Interview mit Gilbert Kübler, Sulpach, 26.4.2016.

32 Interview mit Lothar und Inka Böllinger (Pseudonyme), Ebersbach, 5.3.2015; Interview mit Dorothea Liebisch, Ebersbach, 18.6.2014; Interview mit Wolfgang Scherr, Ebersbach, 3.3.2015.

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