- Ein Pamphlet sorgt für Furore
- Die Hintergründe des Boykottaufrufs und die Reaktion bei Polaroid
- Eine Anhörung der Konfliktparteien im US-Repräsentantenhaus
- Polaroid ID-2 als mögliche Überwachungstechnik in Südafrika
- Die »Influx Control« der Apartheid-Politik und ihre Grenzen
- Fazit: Die Vermittlung des Protests durch die Bildideen des Polaroid Revolutionary Workers Movement
1. Ein Pamphlet sorgt für Furore
In der Firmenzentrale der Polaroid Corporation in Cambridge, Massachusetts, zirkulierte Anfang 1971 ein Pamphlet, dessen Titelseite eine auffällige Abbildung zeigte. Sie dürfte den meisten Mitarbeiter/innen des Herstellers von Sofortbildkameras und -filmen vertraut erschienen sein, ähnelte sie doch einer von der Agentur Doyle, Dane & Bernbach gestalteten Zeitschriftenanzeige, mit der die Vorzüge des fotografischen Schnellverfahrens beworben worden waren. Die Annonce präsentierte in Großaufnahme eines der seit 1963 vermarkteten farbigen Polacolor-Trennbilder, von dem soeben mit spitzen Fingern das Negativ abgezogen wird; darunter wird eine nach nur 60 Sekunden fertig entwickelte Sofortbildfotografie sichtbar. Ihr Motiv variierte je nach Saison und Zeitschrift, zeigte jedoch stets Kinder oder Familien bei unterschiedlichen Freizeitaktivitäten. Der wiedergegebene Moment der Enthüllung des Sofortbildes wurde dabei mit dem immer gleichen Werbeslogan beschrieben: »It’s like opening a present.« Die Erwartung und das Erscheinen des Polaroid-Bildes beim Ablösen des Negativs wurden also mit dem Öffnen eines Geschenks gleichgesetzt, um den potentiellen Kunden Emotionen wie Vorfreude, Spannung und Überraschung in Aussicht zu stellen. Mittig in der Fußzeile platziert verlockte die Abbildung einer Polaroid-Kamera zu deren Kauf, den ein nebenstehender Textblock mit den Worten »Polaroid Color Pack Cameras start at under $60« zusätzlich anzuregen suchte.
Mit dem Gedanken an die lange Zeit erfolgreiche Werbekampagne dürften die Empfänger des Pamphlets auf das Titelbild der Broschüre geblickt haben, doch wurde diese Erwartung jäh gebrochen: Zwar war das grafische Gerüst der Anzeige beibehalten worden – die Formatierung der Fußzeile, die Hand, das abzuziehende Negativ und das Format des Bildes –, aber an die Stelle des gewohnten unschuldigen Motivs glücklicher Kinder im weißen Rahmen der Fotografie war ein weit weniger harmloser Anblick getreten. Das Bildfeld zeigte nun eine zur damaligen Zeit alltägliche Szene aus dem Apartheidstaat Südafrika: die Kontrolle zweier schwarzer Südafrikaner durch einen weißen uniformierten Polizisten, bei der die Schwarzen ihre (auch als »Passbooks« bezeichneten) »Reference Books« vorzuweisen hatten – Ausweisdokumente, die von der unterdrückten Bevölkerungsmehrheit des Landes zu jeder Zeit mitzuführen waren.1 Die Fotografie zeigt, wie sich der Polizist soeben in die Informationen eines solchen aufgeschlagenen Passbooks vertieft, während die beiden ihm zugewandten Kontrollierten seine Reaktion und etwaige Konsequenzen erwarten. Die Fußzeile formuliert anstelle des Angebots zum Kauf einer Kamera hier den Aufruf zum Widerstand gegen das Herstellerunternehmen: »Boycott Polaroid. Support the black revolutionary workers at Polaroid. Until all sales to South Africa are discontinued.« Zusätzlich ist eine zweite Botschaft des Polaroid Revolutionary Workers Movement (PRWM) in das Negativ des Sofortbildes eingetragen: »Did Polaroid shoot every South African black?«
Bereits ohne die Polemik und Polysemie dieser provokativen Frage näher zu erörtern, lässt sich das Pamphlet als markantes Beispiel der zu Beginn der 1970er-Jahre international organisierten Ächtungsbewegungen gegen die Apartheid in Südafrika bestimmen, die heute als »Bestandteil des ›kollektiven Gedächtnisses‹ nationaler und transnationaler Erinnerungskulturen«2 gelten können. Wenn die zeithistorische Forschung angesichts dieser Bewegungen gegen die politisch legitimierte Rassentrennung etwa danach fragt, »wie westeuropäische Gesellschaften auf das südafrikanische Apartheid-System reagiert haben, und […] wie in diesen Reaktionen der Wandel von ›modernen‹ zu ›postmodernen‹ Gesellschaften in Europa reflektiert und mitgeformt wurde«,3 so ist eine genuin bildgeschichtliche Analyse der grafischen Produktion der Anti-Apartheid-Initiativen außerhalb Südafrikas bislang weitgehend ausgeblieben. Aktuelle Beiträge von Historikerinnen und Historikern etwa zu zeitgenössischen Plakaten, Zeitschriften oder Spielfilmen zeigen zugleich, dass der visuellen Kultur der internationalen und inländischen Initiativen ein wichtiges Potential innewohnt, um neue Erkenntnisse über die komplexe historische Konfliktsituation in Südafrika zu gewinnen.4
Die folgende Untersuchung zur Kritik des Polaroid Revolutionary Workers Movement an den Verbindungen des US-amerikanischen Unternehmens nach Südafrika hat daher nicht nur das Ziel, ein prägnantes Beispiel der Anti-Apartheid-Proteste zu beleuchten. Dessen Relevanz soll vielmehr gerade aus der Analyse der Bildsprache entwickelt werden. Mit eindringlichen Motiven sollte der Vertrieb der Sofortbildtechnik als ein weitgehend diskret aufgebautes Geschäftsfeld enttarnt werden, ja als Hilfestellung des Unternehmens bei der Konsolidierung der Apartheid-Politik durch die Regierung in Pretoria. Polaroid war kein unwichtiger Akteur: 1968 hatte das Unternehmen rund 7.500 Mitarbeiter/innen, und in den Folgejahren gab es einen deutlichen Personalzuwachs auf zeitweise über 13.000 Beschäftigte.5
Seine besondere Prägnanz erhält der Konfliktfall nicht nur dadurch, dass hier ein auf Bildtechniken spezialisiertes Unternehmen mit den eigenen Waffen der minutiös visuell inszenierten Werberhetorik geschlagen werden sollte. Bedeutsam erscheint er auch deshalb, weil die Auseinandersetzung ihren Kulminationspunkt in der widersprüchlichen Einschätzung eines Exportgutes fand, das der umstrittenen Geschäftstätigkeit des Unternehmens in Südafrika zusätzliche Brisanz verlieh. Hierbei handelte es sich um das sogenannte Polaroid ID-2-System, das eine beschleunigte und vereinfachte Herstellung von fälschungssicheren Ausweisdokumenten ermöglichte. Diese Ausrüstung wurde, so der Vorwurf des PRWM, seitens der Regierung Südafrikas zur Produktion eben jener in der manipulierten Werbung thematisierten Passbooks benutzt.6
2. Die Hintergründe des Boykottaufrufs
und die Reaktion bei Polaroid
Die Reichweite und Bedeutung bebilderter Ephemera zeigt sich im Fall des PRWM-Pamphlets bereits daran, dass der Anlass und genaue Zweck des hier angeführten Boykottaufrufs nicht nur im direkten Umfeld des angeprangerten Kameraherstellers in Cambridge, Massachusetts, bekannt gemacht wurde. Die Fotomontage fand ebenso Verwendung für ein Flugblatt, das an der Westküste der USA wohl ungefähr zur selben Zeit wie die Broschüre des PRWM von der Research Group for the Liberation of Portuguese Africa (RGLPA) in Kalifornien verbreitet wurde.7 Eingeklemmt zwischen den expressiven Lettern der in grober Handschrift notierten Losung »Boycott Polaroid / and South Africa / Partners in Racism« findet sich auf dessen Rückseite eine kurze Zusammenfassung der Hintergründe des Protests im weit entfernten Neuengland. Demnach habe sich die PRWM-Bewegung formiert, um gegen hier nicht näher spezifizierte Investments und den Verkauf von Produkten durch die Polaroid Corporation in Südafrika zu protestieren. Das initiale Motiv des Aufbegehrens lag im Unbehagen der schwarzen Mitarbeiter/innen des Unternehmens begründet, dass mit ihrer Loyalität und Arbeitskraft der Unterdrückung und dem Rassismus in Südafrika Vorschub geleistet werde;8 ein Effekt, der diesen Beschäftigten vor dem Hintergrund von Sklaverei und rassistischer Segregation in der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten sowie einer im Alltag weiterhin spürbaren Ungleichbehandlung von Afroamerikanern erst recht untragbar erscheinen musste.
Die Polaroid Corporation solle sich daher, so der Text des Flugblatts weiter, der Forderung der Vereinten Nationen nach einem vollständigen wirtschaftlichen Boykott Südafrikas anschließen.9 Bis dies geschehe und um das Unternehmen allererst zu einem Ende seines dortigen wirtschaftlichen Engagements zu bewegen, formulierten RGLPA und PRWM folgendes Plädoyer: »Everytime you buy a POLAROID product, you are investing in APARTHEID; you are supporting oppression and racism. (Each purchase?) It all adds up! BOYCOTT POLAROID. YOU CAN HELP: 1. Don’t buy any product with the brand name Polaroid. 2. Send letters of support for the boycott to: Edwin H. Land, president, Polaroid Corporation, 549 Technology Square Plaza, Cambridge, Massachusetts, 02139. 3. Spread the word about the boycott among your friends. 4. Activate yourself: do research; write pamphlets; draw posters; distribute leaflets; picket stores selling POLAROID products; write letters to POLAROID regional offices and sales representatives. 5. Join the RGLPA; or start your own research collective.«10
Zum Zeitpunkt der Publikation des neunseitigen Hefts11 des PRWM und des Flugblatts des RGLPA lag der eigentliche Ursprung der Protestbewegung gegen Polaroid schon fast eineinhalb Jahre zurück.12 Über die Hintergründe des Boykottaufrufs und dessen Verlauf war in der Zwischenzeit nicht nur in der lokalen und nationalen Presse berichtet worden.13 Auch die Polaroid Corporation selbst hatte sich unter dem wachsenden Druck der Belegschaft und aufgrund der öffentlichkeitswirksamen Proteste veranlasst gesehen, bereits am 25. November 1969 erstmals offiziell auf die Vorwürfe und Forderungen zu antworten.14 Eine in ausgewählten Zeitungen geschaltete Anzeige, deren Inhalte von Vertretern des PRWM als aalglatte Ausflüchte betrachtet wurden, überschrieb das Unternehmen mit der schlichten Frage: »What is Polaroid doing in South Africa?«
Die Antwort hierauf fiel in der Darstellung des Unternehmens natürlich anders aus als in derjenigen des Polaroid Revolutionary Workers Movement. Bereits in ihrem Erscheinungsbild suchte sich die durch Polaroid geschaltete Anzeige deutlich von den auf polemische Bildsprache setzenden Ephemera der Protestbewegung abzusetzen. Augenfällig erscheint in dieser Hinsicht etwa der völlige Verzicht der Polaroid Corporation auf Abbildungen zugunsten eines großzügigen weißen Randes um den zentrierten Textblock; wohl mit dem Ziel, der Botschaft optisch die notwendige Seriosität zu verleihen, welche im Umgang mit dem Vorwurf des Rassismus und der Unterstützung eines autoritären Regimes geboten erschien.15 Inhaltlich lässt die Anzeige eine argumentative Strategie erkennen, die sich zu Beginn um Beschwichtigung bemüht: Zwar sei Polaroid bereits seit 1938 in Südafrika tätig, erwirtschafte dort aber seit jeher nur einen geringen Anteil seines Umsatzes; zudem investiere das Unternehmen nicht direkt in der Region, besitze dort auch keine eigenen Produktionsstätten, sondern sei lediglich durch das einheimische Vertriebsunternehmen Frank & Hirsch vertreten. Hierauf folgt eine erste argumentative Volte des Textes, welche die Vorwürfe des PRWM gegen Polaroid zugunsten des Unternehmens zu wenden sucht: Die Tatsache, dass das Unternehmen als erste US-amerikanische Firma in dieser massiven Weise wegen der Kontakte nach Südafrika angegriffen werde, spreche dafür, dass die Öffentlichkeit gerade der für ihre Innovationskraft bekannten Polaroid Corporation zutraue, im Apartheidstaat Südafrika ethisch akzeptable Lösungen zu entwickeln.16
Auf eine klar formulierte Ablehnung des dortigen menschenverachtenden Systems (»We abhor apartheid«) folgt der abschließende rhetorische Kniff der Polaroid-Kommunikationsstrategen. Das Unternehmen verstehe den Vorwurf als eine historische Chance, um anstelle des geforderten raschen Rückzugs aus dem Land den weit schwierigeren Weg zu gehen, sich um eine Veränderung der südafrikanischen Verhältnisse von innen zu bemühen: »[W]e feel the question of South Africa is too important and too complex for a hasty decision. We want to understand what is the best solution for the black people of South Africa. And we feel that solution will be the best one for us too. We have formed a committee of people from all over the company. Black and white, women and men, hourly and salaried employees. They want to try to understand the complexities of Africa. A big undertaking? Indeed it is. […] We feel South Africa is a question that other companies will try to answer in the future. We seem to be the first.«
3. Eine Anhörung der Konfliktparteien im US-Repräsentantenhaus
Was sich in den zitierten Formulierungen als Humanismus der Konzernleitung tarnt, fußte bei genauerer Betrachtung auf einer im weiteren Sinne wirtschaftsliberalen Grundeinstellung innerhalb der Polaroid Corporation, die im Handeln und den Selbstregulierungskräften einer freien Marktwirtschaft das Potential zur gesellschaftlichen Veränderung sah. Hieraus leitete sich die Idee des Unternehmens ab, dass sich die angestrebten Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen der schwarzen Mitarbeiter/innen im besagten Vertriebsunternehmen Frank & Hirsch auf das Umfeld auswirken und so ein Bewusstsein für das moralisch verwerfliche Wesen der Apartheid schaffen würden. Die Konsequenz hieraus wäre, wenn auch nicht über Nacht, eine sukzessive Verbesserung der sozialen Zustände in Südafrika.17 Diese Vorstellung vom »guten Unternehmen« und seinem Einfluss, der positiv geltend zu machen sei, lehnten die Initiatoren des Boykottaufrufs rundheraus ab – ebenso wie schon die vorherige Ankündigung der Polaroid Corporation, eine divers zusammengesetzte Recherchegruppe für den Zeitraum eines Jahres auf die Lösung der konstatierten Probleme in Südafrika anzusetzen.
Die kategorische Anti-Haltung des PRWM veranschaulichen eindrücklich die Aussagen eines ihrer Gründungsmitglieder, Kenneth Williams, die dieser bei einer Reihe von Anhörungen des Subcommittee on Africa des US-Repräsentantenhauses zum »U.S. Business Involvement in South Africa« zwischen Mai und Juli 1971 zu Protokoll gab.18 Während der ebenfalls geladene Senior Vice President der Polaroid Corporation, Thomas Wyman, die zuvor in einer zweiten landesweiten Anzeige verbreiteten Positionen und Initiativen des Unternehmens vor dem Ausschuss zum Teil wortwörtlich reproduzierte, zweifelten Williams und seine Mitstreiterin Caroline Hunter deren Aufrichtigkeit und Nutzen heftig an.
Während in den beiden Zeitungsanzeigen der Polaroid Corporation der spezifische Stein des Anstoßes für die Proteste, die Technik zur Herstellung von Pässen, vollständig ausgeklammert wurde, bestritt der Vizepräsident des Unternehmens in der Anhörung, dass der Vertrieb der ID-2-Technik mit der Produktion von Passbooks in Verbindung gestanden habe.19 Wymans Erklärung erscheint in ihrem ausweichenden Charakter jedoch wenig überzeugend, denn zugleich räumte dieser recht unumwunden die Möglichkeit ein, dass Filmmaterial für etwaige bereits vorhandene ID-2-Systeme auf indirektem Wege bezogen werden könne, sodass der Stopp seines herstellerseitigen Verkaufs an die Regierung nichts nützen würde. Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass das Unternehmen mit dem implizit eingestandenen Verkauf besagter Apparate eine Art Büchse der Pandora geöffnet hatte – dass der Möglichkeit der Herstellung von Passbooks mit diesen Geräten also kaum mehr Einhalt zu gebieten war.
Die auf Wymans Aussagen folgende Anhörung von Williams macht deutlich, wie sehr sich die Fronten zwischen Polaroid Corporation und PRWM in der Zwischenzeit verhärtet hatten; nun ging es beiden Seiten vor allem darum, die jeweilige Gegenseite mit allen Mitteln zu diskreditieren.20 So begnügte sich Williams zufolge die Polaroid Corporation nicht damit, eine Technik zur Ausweisherstellung an das Apartheid-Regime in Südafrika zu verkaufen; das Unternehmen versuche vielmehr unter Ausnutzung des Monopols auf ID-2, diese Technik auch für ein System der Überwachung einzusetzen, das auf eine umfassende Kontrolle der Bevölkerung und Wirtschaft der Vereinigten Staaten abziele. In Williams’ Ausführungen verschob sich damit der Fokus vom eigentlichen Gegenstand des PRWM-Protests auf die Schilderung eines skrupellosen, global agierenden Polaroid-Konzerns. Der Glaubwürdigkeit der Organisation revolutionärer Polaroid-Mitarbeiter/innen und ihrer Ziele dürften solche Verallgemeinerungen vor dem Ausschuss des Repräsentantenhauses ebensowenig genützt haben wie der Polaroid Corporation das durch ihren Vizepräsidenten zuvor formulierte Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit bezüglich ID-2.
Die gegensätzlichen Positionen und Strategien der Konfliktparteien machten eine Einigung unmöglich. So blieb es bei den in der zweiten Annonce der Polaroid Corporation beschriebenen punktuellen Verbesserungen von Arbeitsbedingungen und Bezahlung sowie bei exemplarischen Maßnahmen zur besseren Ausbildung einiger schwarzer Südafrikaner. Noch weniger positiv wirkten sich die Boykottaufrufe jedoch auf ihre Urheber aus: Polaroid kündigte Mitarbeiter/innen, die dem PRWM angehörten. So ebbten die Aktivitäten der Organisation sukzessive ab. Die Konzernleitung verfolgte hingegen weiterhin ihre gewohnten Geschäftspraktiken, wie ein Artikel des »Guardian« Ende 1977 feststellte: »Polaroid S. Africa Sale continues«.21 Erst als kurz darauf der einwandfreie Nachweis erbracht war, dass der Vertriebspartner der Polaroid Corporation, Frank & Hirsch, tatsächlich Apparate und Filme von Polaroid an die Regierung verkaufte, setzte das Unternehmen seine Lieferungen nach Südafrika aus.
4. Polaroid ID-2 als mögliche Überwachungstechnik in Südafrika
Sowohl die schriftlichen Äußerungen des PRWM als auch deren wissenschaftliche und journalistische Aufbereitungen prangerten hauptsächlich die generelle Tatsache des wirtschaftlichen Engagements eines US-Unternehmens in einem autoritär geführten, rassistischen Staat an. Dass die Herstellung von Ausweisdokumenten mithilfe der von Polaroid hergestellten ID-2-Apparate – als tiefgreifenderes Problem – nur sporadisch angeführt wurde, mag unter anderem daran liegen, dass ein tatsächlicher großflächiger Einsatz dieser Technik nicht nachzuweisen war. So ist es auch in der Recherche für diesen Aufsatz nicht gelungen, ein exemplarisches Reference Book zu ermitteln, das dem Format der ID-2-Technik oder ihrer speziellen Lamination entspräche. Mit Sicherheit ist daher lediglich zu konstatieren, dass die Sofortbildausweis-Maschinen nach Südafrika verkauft wurden, wie es der Firmen-Vizepräsident Wyman in seiner Aussage vor dem US-Repräsentantenhaus einräumte.
Zwei unauffällig platzierte Meldungen in der Fachzeitschrift »Physics Today«, die in der April- und in der September-Ausgabe des Jahres 1971 erschienen, verdeutlichen die schon damals im Unklaren gehaltenen Fakten zum Verkauf der ID-2-Technik nach Südafrika. In der Ausgabe vom April nutzten vier namentlich genannte und sechs weitere, anonyme Mitarbeiter/innen der Polaroid Corporation die Zeitschrift als Forum, um eine »Reply to accusations against Polaroid« zu formulieren, nachdem die Vorwürfe bei einem Treffen der American Physical Society (APS) und der American Association of Physics Teachers (AAPT) in New York lautstark durch Mitglieder des PRWM vorgetragen worden waren.22 Die Autor/innen erklärten in ihrer Stellungnahme: »The truth is that no passbook photographs are now or have ever been taken with the ID-2 system. The revolutionary group [i.e. PRWM] has known this for four months.«23 Doch auf die mit Überzeugung vorgetragene Richtigstellung folgen Details, die an der Verlässlichkeit dieser Informationen zweifeln lassen. So bezifferten die Mitarbeiter/innen die nach Südafrika verkauften ID-2-Apparate auf 65, wobei 52 von diesen an private Unternehmen und 13 an das südafrikanische Militär geliefert worden seien. Die nachgeschobene Beteuerung, ein Verkauf der Apparate an die »apartheid agency«24 sei im Vertrag ausdrücklich untersagt worden, konnte die Kritiker/innen des Unternehmens wohl kaum besänftigen. Und ein weiteres Detail macht stutzig: Nachforschungen von Polaroid in Südafrika hätten ergeben, dass 10 Prozent der Passbook-Fotografien auf Polaroid-Film aufgenommen seien – jedoch nicht mithilfe des ID-2-Systems, sondern mit gewöhnlichen Polaroid-Amateurkameras, sowie mit »special identification cameras made by other US companies«.25 Eine solche Verwendung von Kameras anderer Fabrikate mit Polaroid-Film ist – wenn überhaupt – nur mithilfe von Polaroid-Rückteilen vorstellbar, wie sie für das Auslösen des Entwicklungsprozesses in den speziellen Polaroid-Bildeinheiten benötigt werden.
Auf die zitierte Stellungnahme von Polaroid antwortete in der September-Ausgabe 1971 ein Brief der PRWM-Mitbegründerin Caroline Hunter, der erneut von einem »Comment« der Polaroid-Autoren begleitet wurde. Doch auch hier finden sich keine klaren Informationen über eine tatsächliche Verwendung von ID-2 für die Herstellung von Passbooks in Südafrika: Hunter erklärte in einem kurzen Absatz lediglich, dass »[a]ll passbooks are produced on instant film«,26 wobei sie, wie die Polaroid-Autoren in ihrem Kommentar zufrieden feststellten, sowohl vermied, konkret die ID-2-Technik mit den Passbooks in Verbindung zu bringen, als auch Polaroid in dieser Aussage dezidiert als Hersteller der Filme zu benennen. So blieb in diesem Schlagabtausch wiederum die Chance ungenutzt, den konkreten Umfang des Engagements von Polaroid in Südafrika zu klären. Ob in bestimmten Regionen oder in einzelnen Industrieunternehmen und Minen Testläufe mit dem ID-2-Verfahren unternommen wurden, ist daher bis heute eine offene Frage der Forschung zur Apartheid, die am ehesten in Archiven vor Ort zu beantworten wäre.
Auch ohne genaue Kenntnis der Verwendungsweisen wurde in dem eingeräumten Verkauf des ID-2-Systems nach Südafrika jedoch eine klare moralische Verfehlung der Polaroid Corporation gesehen, wie es nicht nur in der Auseinandersetzung um das technische Ensemble zur Herstellung von Passbooks zwischen Wyman und Williams anklingt. Dass die Polaroid Corporation die Tragweite der Vorwürfe und einen damit verbundenen gravierenden Image-Schaden ernstnahm, lässt sich auch aus den Unternehmensberichten der betreffenden Jahre ablesen: So verschwand das ID-2-System, das zwischen 1966 und 1969 stets als wichtigste industrielle Anwendung der Sofortbildtechnik herausgestellt wurde, während der Hochphase der Proteste im Jahr 1970 aus den Meldungen des Unternehmens. Es fand auch 1971 und in der Folge keine Erwähnung mehr, obwohl Polaroid zu dieser Zeit die ebenso erfolgreiche Nachfolgetechnik ID-3 auf den Markt brachte. Anstelle der Präsentation als wichtiges Produkt im Portfolio des Unternehmens bekamen die Aktionäre nun einen Bericht über bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für Angestellte des südafrikanischen Vertriebsunternehmens Frank & Hirsch zu lesen, die im Rahmen des »Experiment in South Africa« für positive Publicity sorgen sollten.
Im Gegensatz zum allgemeinen Vorwurf der Unterstützung eines Unrechtsstaats stellte das von Polaroid angebotene ID-2-System nicht einfach ein Produkt dar, das wie im Fall anderer US-Unternehmen in Südafrika unter den bekannten inhumanen Bedingungen dort hergestellt und vertrieben oder exportiert wurde. Stattdessen handelte es sich hier um ein Instrument, das es der Regierung in Pretoria – betriebsbereit an die Hand gegeben – im Fall eines konsequenten Einsatzes erlaubt hätte, die herrschende Rassentrennung innerhalb der eigenen Bevölkerung sowohl in symbolischer als auch in ganz konkreter, operativer Form weiter auszubauen.
Wie eine Abbildung im Unternehmensbericht der Polaroid Corporation für das Jahr der Einführung der Technik, 1966, zeigt, gehörten zu ID-2 mehrere aufeinander abgestimmte Apparate, die in den folgenden beiden Gerätegenerationen – ID-3 und ID-4 – auf Kofferformat verkleinert wurden. Genau genommen umfasste ID-2 noch zwei separate Kameras: Mit der einen wurde das Porträt einer Person angefertigt, während mit der anderen die komplementären schriftlichen Daten aufgezeichnet wurden. Nach 45 Sekunden konnten die beiden fotografischen Bilder unter Druck miteinander zu einer Einheit verbunden und in Plastik eingeschweißt werden, wodurch das Dokument eine hohe Fälschungssicherheit erhielt.27 Der Hersteller empfahl den Einsatz von ID-2 daher einem breiten Spektrum gegenwärtiger und künftiger Anwender: »Universities, government agencies, banks, and industrial plants represented some of the various types of buyers who ordered complete Polaroid Identification Systems when they went on sale during the last quarter of 1966.«28 Am Beispiel der Hochschulen malte das Unternehmen die Vorteile von bequem und günstig herzustellenden Identifikationskarten in einem bemerkenswerten Szenario aus, welches das klare Bewusstsein für die weitreichenden Möglichkeiten der Technik verrät: »Such an embossed ID card may be issued, for example, at the first station in a university’s registration hall, and then be used several times in rapid succession to record the student’s name on a number of registration forms. Later this same card may be used for recording the withdrawal of library books, attendance at class, charges at the college book store, and for a variety of other purposes.«29
Im Rückblick klingt diese Aussicht auf einen vielseitig einsetzbaren, buchstäblichen »Datenträger«, der die so Identifizierten in heutigem Sprachgebrauch »gläsern« zu machen versprach, für das Jahr 1966 recht visionär. Den Verfechtern der Apartheid in Südafrika kam das Produkt der Polaroid Corporation mit seinen beschriebenen Eigenschaften sehr gelegen, schien sich die ID-2-Technik doch nahtlos in lange gehegte Pläne der südafrikanischen Regierung einzufügen, die diese bereits seit den frühen 1950er-Jahren kontinuierlich verfolgte, selbst wenn sie durch Rückschläge immer wieder verzögert wurden.30 Die entsprechende Agenda der Regierung unter Hendrik Frensch Verwoerd lässt sich als Versuch der Einführung umfassender Verwaltungsmechanismen deuten, mit denen die schwarzen Einwohner/innen des Landes durch eine zentralisierte staatliche Stelle, das Central Reference Bureau, und die Ausgabe eines speziellen Ausweisdokuments, eben jenes Reference Book, in ihren Bewegungen kontrolliert werden sollten.31 Bereits 1952 wurden die Afrikaner/innen mit dem Erlass des Abolition of Passes and Co-ordination of Documents Act verpflichtet, über ihre jeweilige Identität und ihre individuellen Merkmale – seien sie von Geburt an vorhanden, seien sie im Laufe des Lebens erworben – jederzeit verlässliche Auskunft geben zu können. Das Reference Book sollte deren Richtigkeit gewährleisten.32
Dieser sich bereits seit 1910 in der Gesetzgebung anbahnenden »panoptischen Fantasie«33 hätten die Polaroid ID-2-Apparate ab den späten 1960er-Jahren eine verbesserte technologische Grundlage zu liefern vermocht. Indem die mit mobiler Technik produzierten Ausweiskarten nicht nur in bislang ungekannter Einfachheit und Geschwindigkeit an jedem beliebigen Ort angefertigt werden konnten, sondern auch Einheitlichkeit und Fälschungssicherheit versprachen, hätte ID-2 Verbesserungen in drei zentralen Punkten bedeutet, die schon kurz nach dem Beginn der Registrierungskampagne der schwarzen Bevölkerung in den 1950er-Jahren immer wieder deren Verwirklichung und Wirksamkeit konterkariert hatten. So hatte sich der Arbeitsaufwand zur Herstellung der neuen Ausweisdokumente auch durch die Verteilung der Südafrikaner/innen über das gesamte Territorium als immens erwiesen; die schwankenden Richtlinien, nach denen die neuen Reference Books hergestellt wurden, erzeugten Varianten des ursprünglich auf Einheitlichkeit angelegten Dokuments; die Laminierung der Pässe ließ sich trotz gegenteiliger Versprechen der Herstellerfirma lösen und garantierte so keine ausreichende Fälschungssicherheit. Als Ergebnis des langjährigen und aufwendigen Vorhabens blieb daher zu konstatieren, dass der südafrikanische Staat unter der Verwoerd-Regierung sich »viel weniger dazu in der Lage erwies, bedeutsame Informationen über seine Untertanen zu gewinnen, als dies dem älteren, chaotischen, papierbasierten und dezentralisierten Staat gelungen war, den es zu ersetzen galt«.34
5. Die »Influx Control« der Apartheid-Politik und ihre Grenzen
Gerade für den Ankauf von Polaroids ID-2-Technologie durch die südafrikanische Regierung drängt sich die Frage auf, ob es dem Apartheid-Regime um die Verwirklichung der von Breckenridge formulierten »panoptischen Fantasie« ging; ob mit dieser technischen Unterstützung womöglich gar eine staatliche Herrschaft ermöglicht worden wäre, wie sie Michel Foucault als ein System des umfassenden Überwachens und Strafens 1971 – zeitgleich zum Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen PRWM und Polaroid Corporation – zu beschreiben begann.35
Eine Antwort hierauf kann nicht eindeutig ausfallen. So ließen sich die Maßnahmen der südafrikanischen Regierung auf den ersten Blick in der zeitgenössischen Terminologie Foucaults durchaus mit der Einrichtung eines »Tableaus«36 vergleichen – einem »Apparat, der ›Macht‹ produziert und die Individuen in seinem beständigen und stetigen Feld verteilt«.37 Tatsächlich ermöglichte eine solche »Maschinerie«,38 die in Ansätzen schon bestand und durch den Einsatz von Polaroids ID-2 in ihrer Effizienz gesteigert worden wäre, eine Kontrolle der schwarzen Bevölkerung durch den Zugriff auf den Einzelnen an seinem Aufenthaltsort und in seinen Bewegungen. Dies klingt etwa in Daniel Schechters Beschreibung der südafrikanischen Verhältnisse unter der »Influx-Control«-Gesetzgebung aus dem Jahr 1971 deutlich an: »One of the white South African regime’s more odious laws, designed for total control of all movement of the African people, is the ›pass law‹. Every African must carry a passport-sized ›passbook‹ bearing a photograph and the details of his life. This book is used to help regulate the millions of black workers moving in and out of South African cities.«39Dieser Gesetzgebung lag eine Kopplung von »Machttechnik und […] Wissensverfahren«40 zugrunde, eine Verquickung von »Überwachen und Strafen«.
Der bei Foucault abstrakt formulierten »zellenförmige[n]« »Mikrophysik der Macht«, der »unübersteigbare Asymmetrien« Struktur und Halt verleihen,41 eignen integrierende Funktionen ebenso wie exkludierende. Konkret wurde in Südafrika per Gesetz eine Gruppe von Ausweisträgern definiert, die sowohl mit einer geringen Anzahl bestimmter Rechte und Pflichten in ein Verhältnis zur weißen, städtischen Elite gesetzt als auch durch Verbote und die Überwachung ihrer Einhaltung von dieser separiert und zu einer Existenz in ländlichen, teils weit abgelegenen Gebieten gezwungen wurde. Das für Foucaults Modell zentrale Wissen um die Überwachung und die drohende Bestrafung bei Verfehlungen diente auch in Südafrika dazu, das Verhalten der schwarzen Bevölkerung von vornherein zu konditionieren. Das Reference Book stellte hierfür das jederzeit am Körper zu tragende materielle Memento dar – ebenso wie die Legitimation für eine potentiell zu verhängende Sanktion. Eine letzte strukturelle Übereinstimmung mit dem von Foucault im Rückgriff auf Jeremy Bentham als »Panopticon« bezeichneten Funktionsmodell ist in diesem Zusammenhang die Eigenschaft der Passgesetze, gerade nicht – wie bei Bentham – auf der Grundlage einer fixen materiellen Architektur zu beruhen. Diese lieferte Foucault nur noch die prägnante architektonische Metapher für ein System, das mit minimalem Einsatz einen maximalen Effekt zu produzieren erlaubte. Und dieser Effekt, mithilfe der Reference Books und entsprechender Kontrollen die Bewegungen der schwarzen Bevölkerung ohne großflächige Zäune und Mauern zu steuern, war es, der die Idee des effizienten und einheitlichen Ausweissystems, wie Polaroid es mit der ID-2-Technik anbot, so attraktiv für die südafrikanische Regierung machte.
Das dortige System ist im Abgleich mit idealen panoptischen Systemen, wie Foucault sie beschreibt, aber als relativ schlicht, weil asymmetrisch zu bezeichnen: Die eindeutige Trennung von Kontrolleur und Kontrollierten, mit deren unterschiedlicher Position in der Hierarchie, war noch vorhanden; reibungsloser und verlässlicher funktionieren Systeme mit interdependenten Akteuren.42 Auch gab es im Unterschied zu den von Foucault beschriebenen disziplinierenden und disziplinarischen Maßnahmen im Fall der Apartheid keine Möglichkeit zum Aufstieg, keine Aussicht auf Besserung. Die Situation der Individuen wurde nicht durch konformes Verhalten erleichtert, vielmehr blieben sie aufgrund eines biologischen Merkmals unverrückbar an ihre Position in der Gesellschaft gebunden.43
Die Fixierung auf eine ausweisbasierte »Influx Control« ist generell vor dem Hintergrund der spezifischen historischen Konstellation zu sehen, aus der sich seit dem frühen 20. Jahrhundert sukzessive die Apartheid-Politik in Südafrika entwickelt hatte. »Apartheid«, so Christoph Marx, »läßt sich charakterisieren als Versuch, Rassentrennung zur Grundlage der Staatsordnung Südafrikas zu machen.«44 Dieser Versuch war seit den späten 1930er-Jahren mit der Formulierung eines politischen Programms verbunden, dem ab 1948 mit der Übernahme der Regierung durch die burischen Nationalisten konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung folgten, um einerseits den Arbeitsmarkt im Sinne der weißen Minderheit zu regulieren, indem mögliche Erwerbstätigkeiten für die schwarze Bevölkerung immer stärker eingeschränkt wurden; andererseits folgten die Maßnahmen dem langfristigeren Ziel der Errichtung eines homogenen weißen Nationalstaats. Für beide Ziele erwies sich die gesetzliche Einengung der Freizügigkeit bzw. die Möglichkeit der kontrollierten Umsiedlung der schwarzen Bevölkerung als zentrales Steuerungsinstrument, das die Regierung ab dem Ende der 1950er-Jahre in einem bislang ungekannten Maße einzusetzen begann: »Nun sollte die schwarze Mehrheit dauerhaft aus Südafrika ausgebürgert werden, indem seit 1913 bestehende ›Reservate‹ aufgewertet wurden in ›Homelands‹, die angeblich ursprünglichen Siedlungsgebiete der Afrikaner. […] Da die Bantustans kleine Enklaven innerhalb Südafrikas bildeten und über ein großes Gebiet verstreut waren, mußte dies begründet werden. Hier kam den Politikern das Konzept der afrikanischen ›Stämme‹ zugute, die sie nun zu ›Nationen‹ aufwerteten, woraufhin sie folgerichtig die Bantustans zu ›Nationalstaaten‹ erklärten und gleichzeitig die ganze territoriale Rassentrennung als südafrikanische Form der Entkolonialisierung ausgaben. Im Zuge dieser Homelandpolitik begann der Staat Afrikaner in großem Stil umzusiedeln, denn wenn die schwarze Mehrheit erst einmal aus dem weißen Nationalstaat ausgebürgert war, dann konnten die urbanisierten Schwarzen als ausländische Gastarbeiter behandelt werden. Das hieß im Klartext: Wer keinen Arbeitsplatz nachweisen konnte, wurde folglich nicht im weißen Nationalstaat gebraucht und mußte in sein ›Homeland‹ zurückkehren.«45
Deutlich wird nicht nur anhand dieser historischen Genese der Apartheid und ihrer Methoden des Umgangs mit der schwarzen Bevölkerung sowie anhand der zuvor beschriebenen, regierungsseitigen Unfähigkeit zur Durchsetzung des im Central Reference Bureau zusammengefassten Ausweiswesens, dass eine Deutung des südafrikanischen Regimes als »Panopticon« an der Realität vorbeigeht. Vielmehr schreibt eine solche Lesart dem südafrikanischen System eine größere Kompetenz und Durchsetzungskraft zu, als dieses tatsächlich besaß. Darüber hinaus lässt die Widerständigkeit der von der Ausweispflicht Betroffenen erkennen, dass hier eben kein lückenloses Mikrosystem der Macht im Sinne Foucaults waltete: Wenn in nicht unerheblicher Zahl Reference Books gefälscht oder modifiziert wurden oder durch massenhafte Verlustanzeigen das verantwortliche Central Reference Bureau gewissermaßen mit den eigenen Waffen der administrativen Korrektheit geschlagen und bis zur Arbeitsunfähigkeit überlastet wurde, dann zeigt sich, dass im Gegensatz zu Foucaults glasklarem Entwurf eines geschlossenen, unentrinnbaren Machtsystems die in diese Richtung zielenden Initiativen des Apartheid-Regimes noch durchaus unterwandert werden konnten.46
Solcher Ungehorsam gegenüber den staatlichen Verordnungen – und hier zeigt sich die rohe, menschenverachtende Seite des Regimes wiederum besonders deutlich – führte jedoch im Fall der Aufdeckung zu drakonischen Strafen. Bereits »Verstöße gegen die Paßgesetze waren ein Straftatbestand, wurden also nicht nur mit bloßer Ausweisung geahndet, sondern die Betreffenden wurden verhaftet und in Eilverfahren abgeurteilt, die im Durchschnitt eine Minute dauerten. In etlichen Fällen wurden sie dann von den Gefängnissen an Farmer als Sklavenarbeiter ausgeliehen, wo viele von ihnen […] zu Tode geschunden wurden.«47 Den international beachteten Höhepunkt der vom Regime ausgehenden Gewalt stellten die fotografisch dokumentierten, traumatisch und ikonisch gewordenen Ereignisse des 21. März 1960 dar, als sich in der Stadt Sharpeville eine Demonstration gegen besagte harte Ausweisgesetze in ein Blutbad verwandelte: Polizisten schossen aus einer von den Protestierenden umzingelten Wache in die Menge und töteten dabei 69 Menschen.
Betrachtet man die Rolle der Fototechnik als Mittel zur Identitätsbestimmung – im doppelten Sinne ihrer Festlegung und Feststellung – in einem weiteren historischen Kontext, so zeigt sich, dass Lichtbilder bereits seit der großflächigen Einführung der Fotografie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu diesem Zweck Verwendung gefunden hatten. Prominent waren etwa Francis Galtons Kompositfotografien, in denen er mithilfe eines eigens konstruierten Apparats die Fotos von Mitgliedern einer Familie, aber auch von Trägern bestimmter Krankheiten oder Charakterschwächen in einem einzelnen Bild überblendete; ebenso bekannt wurde die Tätigkeit des Kriminalbeamten Alphonse Bertillon, der mithilfe der Fotografie eine Vielzahl von individuellen Körpermaßen der ihm vorgeführten Verdächtigen aufzeichnete, wobei auch sein Vorgehen den Einsatz und die Entwicklung von spezifischen technischen Hilfsmitteln beförderte.48
Beide Methoden, diejenige Galtons wie auch die Bertillons, bedienten sich einer möglichst großen Zahl von Individuen, die sie jeweils einer bestimmten Gruppe innerhalb der Gesellschaft zuwiesen. Dies erfolgte durch eine als wissenschaftlich geltende, da technisch-apparativ gestützte Klassifizierung: Messinstrumente und Kameras halfen dabei, in Schrift und Bild Ordnungssysteme anzulegen, deren Objektivität und Vorhersagekraft im zeitgenössischen Kontext methodisch unzweifelhaft erschienen. Betrachtet man vor dieser historischen Folie des Gebrauchs von fotografischen Bildern zur Festlegung von Identität und Normalität erneut das System der Passbooks in Südafrika, so wird deutlich, dass in ihm dieselben Elemente – Individuen, Instrumente, Prozeduren der Aufnahme, der Klassifizierung und der Überprüfung – auf eine vollständig andere Art eingesetzt wurden, um damit Ziele zu verfolgen, die sich von denen Galtons und Bertillons markant unterschieden: Zwar ging es auch hier vordergründig darum, eine bestimmte Gruppe zu erfassen, doch entfiel das den Methoden der Vorgänger inhärente wissenschaftliche Erkenntnisinteresse vollständig. Der Zwang zum Ausweis des eigenen Bildes diente in erster Linie der Kontrolle der Bewegungen und des Aufenthaltsorts der schwarzen Bevölkerung. Die zweifelsfreie Möglichkeit der Identitätsfeststellung und der Überprüfung, welcher Vergehen sich der Passbook-Träger bereits schuldig gemacht hatte – das Dokument enthielt eine Art Strafregister seines Trägers –, war vor allem dann von Belang, wenn es zur erneuten Bestrafung kommen sollte, die sich im Anschluss folgerichtig in einen weiteren solchen Eintrag verwandelte. Das Passbook ist daher als Instrument der Kontrolle von Aufenthaltsverboten anzusehen, sowie als Mittel der Verhaltenskonditionierung des jeweiligen Inhabers.
Seine notwendige Perfektionierung fand das System in der Mobilität der Kontrolleure, die den Bewegungsspielraum der zu prüfenden Subjekte einschränkte: Nicht die berechenbare statische Kontrollstelle beim Betreten oder Verlassen eines eingegrenzten Bereichs,49 sondern überfallartige nächtliche Razzien und patrouillierende Polizisten wurden zu Symbolen des Prüfungsregimes. Dieses setzte auf die systematische Verunsicherung vor potentiellen Kontrollen, die quasi jederzeit durchgeführt werden konnten, oder ebenso gut ausblieben.
6. Fazit: Die Vermittlung des Protests durch die Bildideen des Polaroid Revolutionary Workers Movement
Im Mittelpunkt des Titelbildes für das zu Beginn angeführte Pamphlet des PRWM steht nicht zufällig die Abbildung einer Passbook-Kontrolle durch einen patrouillierenden Polizisten. Die Gesamtkomposition lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters gekonnt auf diese eingefügte Fotografie, die in Verbindung mit ihrer aus einer Werbeanzeige entlehnten Rahmung das Handeln des südafrikanischen Apartheid-Regimes, das Engagement der Polaroid Corporation am Kap und den Protestaufruf des PRWM mit gestalterischer Raffinesse in einer einzigen Grafik verklammert. Die hierzu eingesetzten visuellen Strategien, mit denen das Titelmotiv diese drei Protagonisten pointiert zusammenbringt, lassen sich schrittweise näher bestimmen.
Als Fundament dient das grafische Gerüst der ursprünglichen Werbeanzeige, das mit der bildrhetorischen Figur des Mise-en-abyme arbeitet, dem Bild im Bild. Während es in der ursprünglichen Werbung der Aufhänger für einen prägnanten Slogan war, demzufolge ein Sofortbild ein Geschenk darstelle, wird es durch den Eingriff des PRWM zum Ansatzpunkt der Sabotage eben jener Werbebotschaft: Indem im gewohnten Rahmen ein unerwartetes, politisch konnotiertes Bild zum Vorschein gebracht wird, werden die Betrachter-Erwartungen, die sich mit der ursprünglichen Annonce für Produkte der Polaroid Corporation verbinden, abrupt gebrochen. So stellt sich ein in den Bereich der Grafik übertragener »Verfremdungseffekt« ein, wie Bertolt Brecht ihn zuerst für das Theater konzipiert hat: »Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.«50
Die Abbildung (s.o., Kap. 1) spielt in der Version des PRWM mit eben jenem Brecht’schen Impetus des Erscheinenlassens und Aufdeckens, indem sie eine an zwei Stellen sichtbare Öffnungsbewegung zeigt: einerseits im Akt des Abziehens des Negativs vom fertigen Sofortbild, den das Unternehmen mit der konsumistischen Verheißung eines Geschenks gekoppelt hatte; andererseits diejenige in der eingefügten Abbildung, in der ein Polizist das Passbook eines Kontrollierten aufblättert. Dieses Öffnen des Ausweisdokuments, das sich synchron mit dem Abziehen des Bildes zu vollziehen scheint, welches den Blick auf eben jene Szene allererst freigibt, pointiert in seiner Gleichzeitigkeit den doppelten moralischen Standard des Herstellerunternehmens wie auch das »dual use«-Potential einer Technik, die sich als unterhaltsames Gadget ebenso anbot wie als Instrument staatlicher Unterdrückung. Das Ablösen des Negativs vom Sofortbild, das nun die ungerechte Herrschaftspraxis offenbart, formuliert damit nicht zuletzt auch den Anspruch des PRWM auf die eigene moralische Überlegenheit gegenüber der Polaroid Corporation und der Regierung Südafrikas.
Die Titelseite des Pamphlets prangert jedoch nicht nur die Verflechtung von Rassenpolitik und globaler Industrie an; der Darstellung wohnt auch eine medienkritische Ebene inne, auf die die ergänzende Textzeile »Did Polaroid shoot every South African black?« hinweist. Die Doppelbedeutung dieser polemischen Frage erschließt sich im Deutschen und im Englischen gleichermaßen: Wie das Wort »schießen« kann das englische Verb »to shoot« für den Gebrauch einer Feuerwaffe – hier sei an das Massaker von Sharpeville erinnert – ebenso stehen wie für das »Schießen« eines Fotos, eines »Schnappschusses«. Die massenhafte Registrierung der Bevölkerung mithilfe obligatorischer Passbooks und ihrer Porträtfotografien wird so nicht nur als eine Form von Gewaltausübung qualifiziert. Die hinzugefügte Frage lässt das ursprüngliche Werbeversprechen wie Hohn erscheinen: Die schwarze südafrikanische Bevölkerung hatte durch die Bildtechnik der Polaroid Corporation nichts geschenkt bekommen, sondern sie drohte durch diese Technik noch stärker kontrolliert zu werden.
Die explizite Textbotschaft des PRWM verbindet sich dabei mit einer visuellen Ansprache, die den Betrachter augenblicklich von dem skandalisierten Sachverhalt zu überzeugen sucht: Hier verweist ein fotografisches Bild, das ursprünglich für eine Spielart von Fotografie warb, auf den Missbrauch der Potentiale eben jener Technik – wodurch der zu transportierende Inhalt und das Medium seiner Darstellung zur Deckung kommen. Die den fotografischen Medien eigenen Möglichkeiten der Retusche und Montage erlaubten es dabei erst, die einstige Werbung für fotografische Produkte der Polaroid Corporation in eine Anti-Werbung zu transformieren. Das verfremdete Bild wird so auch zu einer Erinnerung an den vielfältigen Umgang mit der fotografischen Technik und mit Fotografien, denen immer schon ebenso aufklärerische und dokumentierende Funktionen zukamen, wie sie auch in Grenzbereichen und jenseits von geltenden ethisch-moralischen Konventionen ihren Einsatz fanden.
Die Analyse des Pamphlets und seines Entstehungskontexts hat gezeigt, dass diese Quelle nicht nur einen weiteren Mosaikstein für die Erforschung der Anti-Apartheid-Bewegungen darstellt, die zu Beginn der 1970er-Jahre in zahlreichen Ländern mit ganz unterschiedlichen Motiven aktiv waren;51 sie hat auch erwiesen, dass auf traditionelle Strategien der politischen Grafik ebenso zurückgegriffen wurde wie auf die zeitgenössische Populärkultur und Werbung, die im vorliegenden Fall einen Stein des Anstoßes und zugleich das Vehikel für ihre pointierte Kritik darstellte. Der Boykottaufruf ist als ein historiographisch bedeutsames visuell-textuelles Kondensat anzusehen, das es erlaubt, sowohl die Situation des Apartheidstaats Südafrika als auch die Strategien seiner internationalen Bekämpfung während der 1960er- und 1970er-Jahre aus einer leicht veränderten Perspektive in den Blick zu nehmen. Die Zeitgeschichtsforschung kann solche Praktiken der Bildfindung heute im Abstand mehrerer Jahrzehnte erneut lesbar und nachvollziehbar machen.
Anmerkungen:
1 Zur Entstehung und Funktion der Passgesetze siehe u.a. Muriel Horrell, Laws affecting Race Relations in South Africa (to the end of 1976), Johannesburg 1978; Michael Savage, The Imposition of Pass Laws on the African Population in South Africa 1916–1984, in: African Affairs 85 (1986), S. 181-205; Douglas Hindson, Pass Controls and the Urban African Proletariat, Johannesburg 1987; Deborah Posel, The Making of Apartheid, 1948–1961. Conflict and Compromise, Oxford 1991; sowie generell Saul Dubow, Apartheid, 1948–1994, Oxford 2014.
2 Knud Andresen/Detlef Siegfried, Apartheid und westeuropäische Reaktionen. Eine Einführung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13 (2016), S. 195-209, hier S. 195.
3 Ebd., S. 198.
4 Vgl. hierzu Katharina Fink, »Africa’s Leading Magazine«. Zur Geschichte von »Drum«, einer Ikone des Journalismus, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13 (2016), S. 324-336; Jakob Skovgaard, ›To Make a Statement‹. The Representation of Black Consciousness in Richard Attenborough’s Cry Freedom (1987), in: ebd., S. 372-377; Mara Brede, »Apartheid tötet – boykottiert Südafrika!«. Plakate der westdeutschen Anti-Apartheid-Bewegung, in: ebd., S. 348-359.
5 Über den Anteil schwarzer Mitarbeiter/innen ist in den Jahresberichten des Unternehmens keine Information zu finden.
6 »Polaroid’s photo-identification system, the type employed by many charge-plate companies, motor vehicle bureaus and university administrations, is a cornerstone in the passbook system South Africa uses to insure that its natives won’t get too restless. The ID system […] was introduced before an international police convention in Germany in 1966 [evtl. meint der Autor die Münchner Wehrkundetagung 1966] and the units now sell for $3600 in the U.S. Since its introduction, Polaroid has sold 65 of the systems – at $7200 each – in South Africa through Frank and Hirsch, its distributors there. At first the company denied that their machine helped maintain apartheid; but they were finally forced to admit that it did, and that they had also sold systems to the South African Army and Air Force.« Daniel Schechter, Polaroid Apartheid: Pull Tab, Wait 60 Seconds, in: Ramparts, März 1971, S. 46-50, hier S. 48.
7 Die Abbildung des Flugblatts unterscheidet sich von derjenigen des Pamphlets lediglich in zwei Punkten: Die Überschrift »Polaroid and South Africa« ist nicht enthalten, stattdessen ist der ursprüngliche Slogan der Werbeanzeige »It’s like opening a present« hier ebenso zu lesen wie in einem zweiten Pamphlet des PRWM mit dem Titel »No Bullshit – Boycott Polaroid«, in dem sich die Abbildung mit dem Slogan auf der dritten Seite findet.
8 Zur Entstehung des PRWM vgl. Schechter, Polaroid Apartheid (Anm. 6), S. 47f. Zur Zusammensetzung und Größe der Gruppe sind keine genauen Hinweise zu finden; es scheint sich um eine eher kleine Anzahl von Beteiligten gehandelt zu haben, die sich um die beiden führenden Köpfe Caroline Hunter und Kenneth Williams scharten.
9 Vgl. Michael Reisman, Polaroid Power: Taxing Business for Human Rights, in: Foreign Policy 4 (1971), S. 101-110, hier S. 101.
10 Der Aufruf verweist auf ein Problem, das auch den vorliegenden Beitrag betrifft: Die unsystematische Anfertigung zahlreicher Flugschriften und anderer Ephemera im Zuge der Proteste ist heute kaum zu überblicken und in eine sichere Chronologie zu bringen. Es wird daher nur auf einen Bruchteil des Materials zurückgegriffen, für den Datierungen einigermaßen gesichert sind. Hilfreich hierfür waren insbesondere die unter <http://africanactivist.msu.edu/index.php> einsehbaren Digitalisate des African Activist Archive Project, das vom African Studies Center und MATRIX: The Center for Humane Arts, Letters and Social Sciences Online, beide an der Michigan State University, unterstützt und finanziert wird. Die Materialien zu Polaroid und Südafrika stammen vor allem aus dem privaten Archiv der Aktivistin Caroline Hunter.
11 Das African Activist Archive Project führt zwei Versionen des Pamphlets, von denen die frühere, neunseitige Ausgabe auf den Beginn des Jahres 1971 datiert wird, während die zweite Version den 21. März 1971 als Erscheinungsdatum aufweist und 33 Seiten umfasst.
12 Vgl. Schechter, Polaroid Apartheid (Anm. 6), S. 48.
13 Zwar ist die Anzahl von Veröffentlichungen vor allem in Form von Artikeln und Aufsätzen groß, eine umfassende Darstellung der Ereignisse und vor allem der Publikationen des PRWM steht bislang jedoch aus und kann auch hier nicht geleistet werden. Für den vorliegenden Beitrag wurde vor allem auf Texte von Daniel Schechter, George M. Houser, Erik P. Eckholm und Michael Reisman zurückgegriffen, die in den Jahren 1971/72 wissenschaftliche Beiträge zum Thema Polaroid in Südafrika publizierten. Während Schechter und Houser eindeutig Partei für das PRWM und seine Ziele ergriffen, bemühte sich Eckholm um eine nüchterne Zusammenfassung des Geschehens; Reisman hingegen erachtete den Boykottaufruf des PRWM für un- oder sogar kontraproduktiv. In einer fatalistischen Analyse des dominierenden Gewinnstrebens internationaler Konzerne beschrieb er die Reaktion der Polaroid Corporation auf das PRWM als positiven Schritt zu einer akzeptablen Minimallösung.
14 Die unmittelbaren Reaktionen des Unternehmens auf die Forderungen des PRWM und den Boykottaufruf fasst Schechter zugunsten des PRWM folgendermaßen zusammen: Während Vice-President Arthur Barnes rundheraus jegliche Verhandlungen ablehnte – »We don’t deal with demands from the street« – zeigte sich Firmengründer Edwin Land diplomatischer: »[I]f we at this moment cut off all our business in South Africa, then the newspapers will be full of a vast Polaroid revolutionary movement – a movement with its two or three people. We would soon have a series of new demands. […] I’ve never been pushed around in my life because I have ideals I live and die for.« Arthur Barnes und Edwin Land, ohne Quellenangaben zit. bei Schechter, Polaroid Apartheid (Anm. 6), S. 48f. Schechter erwähnt auch die erzwungene Kündigung eines der Gründer des PRWM, Kenneth Williams, und zweier weiterer, namentlich nicht bekannter Mitarbeiter, sowie die Einschüchterung der Aktivistin Caroline Hunter in Briefen an sie: »In all, Polaroid has put more energy into getting rid of the Revolutionary Workers’ Movement than in easing out of all its business dealings in South Africa.« Ebd., S. 50.
15 Schechter bemerkt zu der Anzeige: »It was a good example of advertising art also in that it never really explained what was going on.« Schechter, Polaroid Apartheid (Anm. 6), S. 47.
16 »At the end of 1969, 300 American corporations had direct capital investments in South Africa, with a total value of $755 million. Most observers place the present value at well over $800 million. During 1969 alone United States investments there increased by 8.5 percent. The figures do not include American corporations operating on a contract, franchise, licence or commission basis with a South African company without making any direct investment. An unknown number of American firms, including Polaroid, are involved in South Africa in this fashion.« Erik P. Eckholm, Polaroid’s Experiment in South Africa: Enlightened Engagement and the Structure of Apartheid, in: Africa Today 19 (1972) H. 2, S. 36-51, hier S. 38. Zur Einstellung der südafrikanischen Regierung gegenüber ausländischen Investoren sowie immer wieder aufkommenden Boykottdrohungen und -gerüchten vgl. die Hinweise bei Christoph Marx, Zukunft durch Apartheid? Verwoerds Rassenideologie, Südafrikas Außenpolitik und der Westen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13 (2016), S. 210-230.
17 Siehe Eckholm, Polaroid’s Experiment (Anm. 16), S. 36: »The Polaroid experiment, claiming to combine opposition to apartheid with continued economic engagement in South Africa, has brought about a new phase in the world-wide debate on the role of foreign corporations in that part of the world. Polaroid’s experiment typifies the newest and most sophisticated trend among liberal businessmen and politicians trying to reconcile their hypothetical abhorrence of apartheid with the lucrative and ever rising American economic involvement in South Africa.« Konträr hierzu George M. Houser: »The political naivete of the Polaroid approach is matched by its moral bankruptcy. How comfortable for an American investor in South Africa to believe that while he is making a tidy profit (17 per cent on investment is not unusual) he is also miraculously changing an evil system. No sacrifice is demanded, no conflict, no struggle; just up the investment and the profits, and the change will inevitably come.« George M. Houser, The Polaroid Approach to South Africa, in: Christian Century, 24.2.1971, S. 249-252, hier S. 251.
18 Statement of Kenneth Williams, representing the Polaroid Revolutionary Workers Movement, accompanied by Caroline Hunter, in: U.S. Business Involvement in Southern Africa. Hearings Before the Subcommittee on Africa of the Committee on Foreign Affairs, House of Representatives, Ninety-Second Congress, First Session, Part 1, Washington 1971, S. 33-49.
19 Statement of Thomas H. Wyman, Senior Vice President, Polaroid Corp., in: Subcommittee on Africa (Anm. 18), S. 2-32.
20 Formulierungen Williams’ wie »world monopoly«, »Polaroid […] is now an agent of the South African government«, »fraud«, »lie«, »great danger to the United States«, oder »[ID-2] will bring upon the American population their first days of slavery, and it must be stopped and considered as a threat«, vermitteln eine Ahnung vom Tonfall seiner Aussagen.
21 Winston Warfield/Tim Patterson, Polaroid S. Africa Sale continues, in: Guardian, 7.12.1977.
22 Stephen A. Benton u.a., Reply to accusations against Polaroid, in: Physics Today 24 (1971) H. 4, S. 9-11.
23 Ebd., S. 9.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 11.
26 Caroline Hunter, Polaroid and South Africa, in: Physics Today 24 (1971) H. 9, S. 11-13, hier S. 11.
27 »The system can provide as many as 200 people an hour with ID cards or badges in full color. Each person gets his identification card on the spot, laminated, and sealed in a protective pouch. The card is the most tamper-proof yet devised because the picture and the data are incorporated in a single photograph. Optionally, the ID card can be inserted in a specially designed plastic pouch that has been pre-embossed with a person’s name and identification number.« Polaroid Corporation (Hg.), Polaroid Corporation Annual Report for 1966, Cambridge 1967, S. 20.
28 Ebd. In den USA kam das ID-2-System 1967 in 200, 1968 bereits in 325 Colleges sowie in vielen Militäreinrichtungen, lokalen Gemeindeverwaltungen, Krankenhäusern, Firmen und Banken zum Einsatz. Es wurde zur Herstellung von Führerscheinen des Staates North Carolina sowie ab 1968 für die in Massachusetts, New Mexico, Alaska und Virginia ausgegebenen Fahrerlaubnisse verwendet. Banken benutzten es für die Kreditkartenanfertigung, zu denen Master Charge und BankAmericard zählten. International wurde ID-2 von der norwegischen und australischen Armee sowie von der Savings Bank Association of Italy angekauft, zudem von drei unbenannten internationalen Airlines sowie von den Automobilherstellern Renault, Volkswagen und Rolls Royce. Vgl. Polaroid Corporation (Hg.), Polaroid Corporation Annual Report for 1967, Cambridge 1968, S. 6; Polaroid Corporation (Hg.), Polaroid Corporation Annual Report for 1968, Cambridge 1969, S. 6.
29 Polaroid Corporation, Annual Report for 1966 (Anm. 27), S. 20.
30 »[T]he old administrative ideal of the universal, centralized registration and control of all African adults […] [dated] back to the formation of the Union of South Africa in 1910. [A.J.] Turton’s specific plan for the Central Reference Bureau and the radical simplification of the regulations governing influx control [in the 1950s] had been developing within Native Affairs since the end of the 1930s. It was an old plan, designed to reconfigure the contested governance of the previous decades, and to support a set of new Apartheid mechanisms, in particular the Labour Bureaux and the new racially-defined Group Areas.« Keith Breckenridge, Verwoerd’s Bureau of Proof. Total Information in the Making of Apartheid, in: History Workshop Journal 59 (2005), S. 83-108, hier S. 83. Ausführlicher ders., Biometric State. The Global Politics of Identification and Surveillance in South Africa, 1850 to the Present, Cambridge 2014.
31 Vgl. Christoph Marx, Zwangsumsiedlungen in Südafrika während der Apartheid, in: Isabel Heinemann/Patrick Wagner (Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 173-195, hier S. 179.
32 Breckenridge, Bureau of Proof (Anm. 30), S. 83. Ausführlich und anhand von konkreten Zahlen beschreibt Michael Savage die historische Genese der »Influx-Control«- und Passgesetze: Savage, The Imposition of Pass Laws (Anm. 1).
33 Breckenridge, Bureau of Proof (Anm. 30), S. 85.
34 Ebd., S. 105 (meine Übersetzung).
35 Zwar bezog sich Foucault in keiner Weise auf die Verhältnisse in Südafrika. Dennoch ist der vorliegende Aufsatz nicht der erste, der sich einem Zusammenhang von Kolonialgeschichte im weiteren Sinne und den Studien Foucaults zu Überwachungs- und Straftechniken widmet. Vgl. hierzu Taylor C. Sherman, Tensions of Colonial Punishment: Perspectives on Recent Developments in the Study of Coercive Networks in Asia, Africa and the Caribbean, in: History Compass 7 (2009), S. 659-677. Der vorliegende Beitrag unterscheidet sich insofern von den bei Sherman angeführten Studien, als nicht ein Gefängnis- oder Strafsystem in seiner Gänze, sondern eine einzelne Maßnahme, die Passbook-Pflicht, in ihrer disziplinierenden Funktion durch Foucaults Modell klarer konturiert werden soll.
36 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [1975], Frankfurt a.M. 1994, S. 187.
37 Ebd., S. 229.
38 Ebd.
39 Schechter, Polaroid Apartheid (Anm. 6), S. 48.
40 Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 36), S. 190.
41 Ebd., S. 178, S. 285.
42 Vgl. ebd., S. 228f.
43 Vgl. ebd., S. 234f.
44 Marx, Zwangsumsiedlungen (Anm. 31), S. 173. Zur Vorgeschichte der Apartheid-Politik seit dem 19. Jahrhundert vgl. ders., Im Zeichen des Ochsenwagens. Der radikale Afrikaaner-Nationalismus in Südafrika und die Geschichte der Ossewabrandwag, Münster 1998, S. 123.
45 Marx, Zwangsumsiedlungen (Anm. 31), S. 173f. Sinngemäß formulierte dies bereits 1972 der Journalist Erik P. Eckholm im Kontext der Boykottaufrufe gegen die Polaroid Corporation. Vgl. Eckholm, Polaroid’s Experiment (Anm. 16), S. 39f.
46 Vgl. Breckenridge, Bureau of Proof (Anm. 30). Ähnliche Inkonsistenzen bestimmten große Teile des staatlichen Handelns im Südafrika der Apartheid; vgl. Marx, Zwangsumsiedlungen (Anm. 31), S. 193.
47 Marx, Zwangsumsiedlungen (Anm. 31), S. 179.
48 Vgl. Annette Vowinckel, Das relationale Zeitalter. Individualität, Normalität und Mittelmaß in der Kultur der Renaissance, München 2011, S. 40-44.
49 Hierfür stehen exemplarisch die territorialen Kontrollmechanismen des Mittelalters; vgl. Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter, München 2004.
50 Bertolt Brecht, Über eine nichtaristotelische Dramatik, in: ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 15: Schriften zum Theater 1, Frankfurt a.M. 1967, S. 227-336, hier S. 301. »Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn doch aber zugleich fremd erscheinen läßt.« Bertolt Brecht, Kleines Organon für das Theater, in: ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 16: Schriften zum Theater 2, Frankfurt a.M. 1967, S. 659-708, hier S. 680.
51 Vgl. hierzu Andresen/Siegfried, Apartheid (Anm. 2), sowie zuletzt auch die Hamburger Tagung »Perceptions of Apartheid in Western Europe 1960–1990« im September 2018; siehe dazu den Bericht von Christopher Seiberlich, in: H-Soz-Kult, 7.11.2018.