Eine frühe Dokumentation des Holocaust in Ungarn

Die »Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen« (1945)

  1. Entstehung, Aufgaben und Tätigkeit der Kommission
  2. Forschungsperspektiven

Anmerkungen

Am 12. April 1945, acht Tage nachdem die letzten deutschen Truppen ungarisches Staatsgebiet verlassen hatten, erschien Frau S. in den Räumlichkeiten der kurz zuvor gegründeten »Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen« (Náci és nyilas rémtettek kivizsgálására alakult bizottság, im Folgenden: »Verbrechens-Kommission«). Sie gab ein Gewaltverbrechen zu Protokoll, welches sich drei Monate vorher im jüdischen Krankenhaus in der Budapester Maros-Straße ereignet hatte: »Am 12. Januar 1945 erschienen Pfeilkreuzler im Krankenhaus, verstellten die Ausgänge und sammelten die Kranken, die Ärzte und das Personal in der Eingangshalle im Erdgeschoss zusammen. Zuerst haben sie uns alle Wertgegenstände abgenommen, danach mussten sich die Frauen und Männer bis auf die Unterwäsche ausziehen. Wer zu sprechen wagte, wurde mit einem Gummiknüppel geschlagen. Eine alte Frau um die 90 hörte schlecht und verstand die Befehle der Pfeilkreuzler nicht. Sie wurde an den Haaren hergeschleift. Danach mussten wir uns hinknien, unsere Arme hinter dem Kopf verschränken. […] Anschließend wurden wir paarweise in den Hof geführt […]. Dann begannen die Hinrichtungen paarweise. […] Die Hinrichtungen fanden gegenüber der Küche, neben der Senkgrube, vor dem Schuppen statt.«[1] Dass Frau S. überleben konnte, verdankte sie einer Täuschung: Es gelang ihr, die Pfeilkreuzler davon zu überzeugen, dass sie keine Jüdin sei. Auch der Umstand, dass sie einen drei Monate alten Säugling bei sich hatte, dürfte ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass die Täter sie verschonten, während der Großteil der restlichen Patientinnen und Patienten sowie Angehörige des Krankenhauspersonals (insgesamt mehr als 90 Personen) umgebracht wurden.

Über diese Mordaktion, eines der größeren Massaker, die kurz vor Kriegsende in der ungarischen Hauptstadt von Pfeilkreuzlern aus dem Parteilokal im 12. Bezirk verübt wurden, sammelte die »Verbrechens-Kommission« seit Anfang April 1945 Aussagen.[2] Sie war bestrebt, nicht nur den Ablauf der Ereignisse genau zu rekonstruieren, sondern auch jenen Ort zu identifizieren, an dem die Opfer des Gewaltverbrechens verscharrt worden waren. Die Hinweise von Frau S. und anderen Zeugen bzw. Überlebenden des Massakers waren schließlich ausschlaggebend dafür, dass die Exhumierungen im Garten des Krankenhauses im Beisein des Vizebürgermeisters von Budapest, von Angehörigen, Ärzten, Vertretern ungarischer und sowjetischer Behörden, darunter Mitgliedern der »Verbrechens-Kommission«, und in Anwesenheit eines Teiles jener Pfeilkreuzler, die für die Morde verantwortlich gemacht wurden, am 23. April 1945 beginnen konnten: »Aus dem Massengrab kamen 84 Leichen zum Vorschein, und zwar 40 Männer und 44 Frauen. Im Rahmen der Identifizierung wurde der Großteil von seinen Angehörigen erkannt«, berichtete am 26. April 1945 einer der Mitarbeiter der Kommission.[3]

Exhumierungsarbeiten im Hof des jüdischen Krankenhauses in der Budapester Maros-Straße,
23. April 1945
(Ungarisches Jüdisches Museum und Archiv Budapest, Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár Budapest [MZSML] F99.61 [722], Foto: Sándor Ék)
Angehörige, Ärzte, Arbeiter und behördliche Vertreter bei den Exhumierungen im kriegsbeschädigten Hof des jüdischen Krankenhauses in der Budapester Maros-Straße,
23. April 1945
(MZSML F99.69 [732], Foto: Sándor Ék)
Mitarbeiter der Wochenschau zeichnen die Exhumierungsarbeiten auf, 23. April 1945
(MZSML F99.103 [771], Foto: Sándor Ék)

Der Fotograf Sándor Ék, der kurz zuvor als Angehöriger der Roten Armee aus der sowjetischen Emigration nach Ungarn zurückgekehrt war, dokumentierte die Exhumierungsarbeiten mit einem kleinen Team von Bildreportern und fertigte nicht nur zahlreiche Fotos, sondern auch Filmaufnahmen an.[4] Eine Auswahl dieser Quellen findet sich heute in Ungarn in nahezu allen themenbezogenen Ausstellungen, in Schulbüchern und einschlägigen Monographien. Die Bilder wurden damit zu Ikonen der späten Phase der Verbrechen an den ungarischen Jüdinnen und Juden sowie der Gewaltherrschaft der Pfeilkreuzler.

Die Täter werden mit ihrer Tat konfrontiert, 23. April 1945
(MZSML F99.118 [786], Foto: Sándor Ék)
Mitglieder des Pfeilkreuzler-Parteilokals im 12. Bezirk und die Krankenschwester Frau Jankovics bei den Exhumierungsarbeiten in der Maros-Straße, 23. April 1945
(MZSML F99.97 [764], Foto: Sándor Ék)

Während sich die ernsten Gesichter der bei der Exhumierung anwesenden Täter, die undifferenzierbare Masse der freigelegten Körper und die karge Umgebung des Krankenhaushofes ins öffentliche Bildgedächtnis eingeprägt haben, geriet jene Institution, durch deren Mitarbeit die Exhumierungen teilweise erst möglich wurden, bald in Vergessenheit.[5] So warten auch jene Unterlagen, die die Arbeit der »Verbrechens-Kommission« dokumentieren und im Hauptstadtarchiv Budapest in fünf Archivschachteln verwahrt werden, auf eine systematische Auswertung.[6] Das Findbuch zu den Beständen lässt nur grob erahnen, was sich hinter den Signaturen verbirgt: Neben schriftlichen Zeugenaussagen enthalten die Schachteln den Briefverkehr der Kommission mit diversen Behörden, Tätigkeitsberichte, schriftlich übermittelte Anzeigen von Gewaltverbrechen, Fotos von Exhumierungsarbeiten und Obduktionsberichte.[7] Teilweise finden sich in den Aktenbündeln auch Protokolle, die von anderen Behörden angefertigt wurden – vor allem von polizeilichen Organen oder vom Staatlichen Bund der ungarischen Deportierten (Magyar Deportáltak Országos Szövetsége). Die überwiegende Mehrheit der Schriftstücke umfasst jedoch ausgefüllte Fragebögen und mehrseitige Berichte, die Auskunft über eine Vielzahl von Gewaltverbrechen geben, welche gegen ungarische Juden oder politisch Andersdenkende seit der deutschen Besatzung Ungarns im März 1944 verübt wurden. Schließlich war die Rekonstruktion der Ereignisse im Krankenhaus in der Maros-Straße und die Exhumierung der Opfer dieses Verbrechens lediglich eine der vielen Aufgaben der »Verbrechens-Kommission« seit ihrer Gründung im Februar 1945. In den wenigen Monaten ihres Bestehens gelang es ihr nicht nur, weitere Orte von Massenmorden auszumachen und die Opfer zu exhumieren.[8] Bereits in den ersten Wochen nach der Befreiung der Hauptstadt führte die Kommission eine Haus-zu-Haus-Befragung durch und sammelte Angaben über eine Vielzahl von (vor allem antijüdischen) Raub- und Gewaltdelikten. Auch wenn nur Bruchstücke dieser Dokumentationstätigkeit erhalten geblieben sind, liegt damit ein Konvolut an Erinnerungsberichten vor, das besonders die Verfolgung der Budapester Jüdinnen und Juden nach der deutschen Besatzung im März 1944 bzw. nach der Machtübernahme der Pfeilkreuzler im Oktober 1944 eindringlich belegt.

Damit fügt sich dieser Bestand in die Reihe jener Anstrengungen ein, die in den ersten Nachkriegsjahren unternommen wurden, um Verfolgung und Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden aufzuklären. Gegenüber den umfangreichen Dokumentationsbemühungen jüdischer Organisationen, auf die Historikerinnen und Historiker in den vergangenen Jahren bereits hingewiesen haben,[9] ist die hier vorgestellte Kommission im internationalen Vergleich jedoch eine Besonderheit. Während historische Kommissionen und Dokumentationszentren wie das Centre de Documentation Juive Contemporaine in Frankreich, die Centralna Żydowska Komisja Historyczna in Polen oder das Zentrum für jüdische historische Dokumentation in Linz von jüdischer Seite initiiert und vorangetrieben wurden, unterstand die »Verbrechens-Kommission« staatlichen Organen. Zwar waren unter den Beschäftigten der Kommission auch Personen jüdischer Abstammung,[10] aber die Initiative war nicht von ehemaligen Verfolgten ausgegangen. Die Geschichte der Kommission stellt damit die in der Historiographie nach wie vor dominierende Annahme in Frage, die Nachkriegsregierungen hätten 1945 einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen.

1. Entstehung, Aufgaben und Tätigkeit der Kommission

Als die Rote Armee am 13. Februar 1945 Budapest befreite, befanden sich etwa 130.000 Jüdinnen und Juden in der Stadt.[11] Sie hatten im »Großen Ghetto« in Budapest, in durch die neutralen Botschaften »geschützten Häusern« außerhalb des Ghettos oder in einem Versteck überlebt, während mehrere Tausend Jüdinnen und Juden von ungarischen faschistischen Pfeilkreuzlertrupps ab Oktober 1944 ermordet worden waren.[12] Seit ihrer Machtübernahme hatten die Pfeilkreuzler blutige Überfälle auf die zwei Budapester Ghettos verübt[13] und Juden umgebracht, die sich außerhalb der Ghettos aufhielten. Tausende Budapester Juden waren im Winter 1944/45 am Ufer der Donau erschossen worden.[14]

Am 1. Februar 1945, als in einigen Bezirken der Hauptstadt nach wie vor ein brutaler Häuserkampf tobte, ordnete die Polizei des befreiten 7. Budapester Bezirks die Bestattung jener Leichen an, die sich auf dem Gelände des ehemaligen »Großen Ghettos« befanden, welches im Dezember 1944 eingerichtet worden war. Dazu sollten aus den umliegenden Häusern 40 bis 50 Männer ausgewählt werden, »die sich morgen, also am 2. Februar, 8 Uhr morgens in der Begleitung von Polizisten beim Judenrat in der Síp-Straße 12 melden«. Der Polizeiarzt bemerkte, dass die anwesenden Personen auch Schaufeln und Spitzhacken mitbringen sollten.[15] Im Hof der Synagoge in der Dohány-Straße begannen die Männer am nächsten Tag damit, mehrere Massengräber auszuheben, wo sie bis zum 17. Februar 1945 insgesamt 2.281 Frauen und Männer bestatteten.[16]

Es waren diese Bestattungsarbeiten, in deren Zusammenhang bald die Idee aufkam, eine Kommission einzurichten, deren Hauptaufgabe die Aufklärung und Bekanntmachung von Verbrechen sein sollte, die in den letzten Kriegsmonaten von Pfeilkreuzlern und Nationalsozialisten verübt worden waren. Sie sollte Zeugen vernehmen und mutmaßliche Täter verhören, um weitere Orte zu identifizieren, wo sich Massengräber befinden könnten. Neben der Untersuchungskommission sollte auch eine ärztliche Kommission ins Leben gerufen werden, die die Opfer exhumieren, die Todesursache klären sowie die Ermordeten nach Möglichkeit identifizieren sollte.

Ärzte bei den Exhumierungsarbeiten,
Krankenhaus in der Maros-Straße, 23. April 1945
(MZSML F99.120 [788], Foto: Sándor Ék)

Den Beschluss, die »Verbrechens-Kommission« zu schaffen, fällte das Budapester Nationale Komitee, welches die exekutiven und legislativen Aufgaben in der befreiten Hauptstadt übernommen und anstelle der zerrütteten Verwaltung zunächst das öffentliche Leben gelenkt sowie als örtliches Organ der Ungarischen Provisorischen Regierung fungiert hatte, bereits am 7. Februar 1945.[17] Das Nationale Komitee war auf Initiative kommunistischer Aktivisten am 21. Januar 1945 gegründet worden und versammelte vor allem Personen, die in der Ungarischen Front tätig gewesen waren – ein Zusammenschluss von Untergrund-Oppositionsgruppen gegen die deutsche Besatzung.[18]

Zur offiziellen Einrichtung der »Verbrechens-Kommission« kam es am 26. Februar 1945[19] – zu einer Zeit, als ein Teil Ungarns noch von den Pfeilkreuzlern kontrolliert wurde.[20] Mit der Leitung der Kommission betraute das Nationale Komitee Béla Varga, Mitbegründer der Partei der Unabhängigen Kleinen Landwirte – eine der stärksten mitregierenden Parteien während der kurzen Koalitionsära im Nachkriegsungarn. Der Kommission unterstellt wurden auch der Abgeordnete der Provisorischen Regierung und Mitglied der Bauernpartei, Ferenc Farkas, der führende Politiker der Kommunistischen Partei und spätere Ministerpräsident Gyula Kállai, die Mediziner Antal Babics und Lajos Bakay, Delegierte der israelitischen Gemeinde sowie der katholischen, reformierten und evangelischen Kirche.[21] Finanziert wurde die Arbeit aus den Mitteln des Budapester Nationalen Komitees.[22] Inwiefern die Alliierte Kontrollkommission unter dem Vorsitz der Sowjetunion auf die Einrichtung und spätere Tätigkeit der Kommission Einfluss nahm, geht aus den verfügbaren Quellen nicht hervor.[23]

Über die Einrichtung der Kommission informierte die Zeitung »Szabadság« (»Freiheit«). Sie rief die Bevölkerung zweimal dazu auf, über beobachtete Verbrechen Anzeigen zu erstatten. Dieser Appell blieb jedoch zunächst ohne Ergebnis, wie Varga noch im Februar bemängelte.[24] Daher ging die Kommission bald dazu über, Angaben von Haus zu Haus zu ermitteln. Nach der Neu-Etablierung der städtischen Administration in Budapest wurde am 9. März 1945 ein weiterer Aufruf an die Budapester Bevölkerung gerichtet und dieser in zahlreichen Wohnhäusern öffentlich angeschlagen. Dort war zu lesen, dass alle Personen, die »zwischen dem Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 und dem Zeitpunkt der Befreiung« Zeugen von Verbrechen geworden waren, die »von Deutschen, Pfeilkreuzlern oder von behördlichen/militärischen Formationen oder Personen generell« verübt worden waren, verpflichtet seien, diese der Kommission zu melden.[25] Für die Informationssammlung wurde ein vierseitiger Fragebogen zur Verfügung gestellt, in dem um Auskünfte über Ort und Zeitpunkt von Gewalttaten, über Name und Aufenthaltsort der Unrecht verübenden Person, der durch das Verbrechen geschädigten Person sowie über mögliche Zeugen gebeten wurde. Gefragt wurde, ob es Widerstand gegen die Straftat gegeben habe und welcher Art dieser gewesen sei, welches Organ die strafbare Handlung durchgeführt und wie man selbst von dem Delikt erfahren habe. Schließlich bat die Kommission darum, die Tat ausführlich zu schildern.[26]

In den folgenden Wochen gelang es der Kommission nach eigenen Angaben, mehr als 12.000 Erhebungsblätter auf der Pester Seite zu sammeln. Diese Informationen sollten auch als Grundlage für weitere polizeiliche Ermittlungen dienen.[27] Entsprechend leitete beispielsweise das Volksgericht mehrere Verfahren gegen jene Gruppe von Pfeilkreuzlern ein, die für das Massaker in der Maros-Straße verantwortlich gewesen war; bis 1948 verurteilte es 23 Personen zum Tode und 26 zu Gefängnisstrafen.[28]

Doch war die strafrechtliche Verfolgung von Gewaltverbrechen nicht das einzige Ziel der »Verbrechens-Kommission«. Die institutionsgeschichtlichen Unterlagen der Kommission lassen Rückschlüsse auf die weiteren Absichten zu, die hinter der Entscheidung standen, in der chaotischen Phase unmittelbar nach der Befreiung der Hauptstadt eine solch aufwendige Dokumentationstätigkeit in Angriff zu nehmen. Bereits im Aufruf vom 9. März wurde einleitend betont: »Die politischen Verbrechen müssen wir unverblümt an die Öffentlichkeit bringen und damit beweisen, dass die auf Mord und Gewalt gründende Schreckensherrschaft unserem Volk tatsächlich fremd war.«[29] Damit machte die »Verbrechens-Kommission« eine bestimmte Stoßrichtung ihrer Arbeit deutlich: Die gezielte Thematisierung ausgewählter Aspekte der Geschichte sollte dazu beitragen, den Großteil der Bevölkerung zu entlasten, das autoritär-konservative Horthy-, aber vor allem das faschistische Szálasi-Regime zu delegitimieren und die Verbrechen zu externalisieren.

Entsprechend erklärte auch Varga am 24. Februar 1945 in einem Schreiben an das Budapester Nationale Komitee: »Ich möchte ankündigen, dass ich für die Kommission neben den hier aufgelisteten, überwiegend administrativen und technischen Aufgaben auch eine kulturmissionarische und nationale Aufgabe vorgesehen habe. Mittels sowohl der heimischen als auch der sich unserer Nation gegenüber zur Zeit abgeneigt zeigenden ausländischen Presse möchte ich die Öffentlichkeit über die Ergebnisse der Untersuchungen, über die Umstände der Verbrechen und über die Personen, die diese Verbrechen verübt haben – die eine vom Ungartum fremde Gemütsart besitzen und meist fremdrassig waren – aufrichtig informieren, sodass auf diese Weise das hier weiter lebende Ungartum die gerechte Freisprechung von den es belastenden schweren Anklagen erlangen kann. Abschließende Bestimmung der Kommission ist es – neben der Information der Öffentlichkeit –, die Grundlage für eine ehrliche Geschichtsschreibung zu legen, deren ernüchternde Lehren die Menschheit vor der Etablierung und dem Bedienen einer ähnlich niederträchtigen Schreckensherrschaft voraussichtlich bewahren.«[30]

Mit dieser politischen Absichtserklärung stand die »Verbrechens-Kommission« im Einklang mit dem vorherrschenden Diskurs der ersten Nachkriegsmonate. Seit ihrer Etablierung im Dezember 1944 war die provisorische Regierung selbst darum bemüht, eine eindeutige Trennlinie zwischen den rechten Diktaturen und der »Nation« – und damit indirekt der neuen demokratischen Regierung als deren offizieller Vertretung – zu ziehen, um die Gesellschaft als Ganzes vom Vorwurf der Kollaboration und Mitverantwortung zu befreien. Die als »fremdrassig« charakterisierten »Landesverräter« und »Söldner« wurden dabei einem »Wir« gegenübergestellt, mit dem – entsprechend dem damaligen Sprachduktus – die »Nation« gemeint war. Indem die Faschisten aus der Gesellschaft ausgegliedert wurden, versuchte man die Mehrheitsbevölkerung zu entlasten. Bereitwillig akzentuiert wurde dabei die armenische Herkunft von Ferenc Szálasi oder die deutsche Abstammung zentraler politischer Akteure des Horthy-Regimes, wie der beiden ehemaligen Ministerpräsidenten Gyula Gömbös oder Béla Imrédy.[31] Die Verantwortung für Verbrechen wurde deutlich formuliert, aber in erster Linie den »in den deutschen Sold getretenen Führern«, den »landesverräterischen Pfeilkreuzlern« sowie der nationalsozialistischen Besatzungsmacht zugeschoben.[32]

Gemäß diesem offiziellen Narrativ schloss auch Varga nicht nur jene Personen aus der ungarischen Gesellschaft aus, die Kriegsverbrechen begangen hatten. Indem er die Verbrechen generell Personen nichtungarischer Herkunft anlastete, sprach er den Großteil der eigenen Bevölkerung von Verantwortung frei. Durch die Benennung einzelner Täter, die in ihrem Verhalten von der Durchschnittsbevölkerung abgewichen seien, sollte das Kollektiv rehabilitiert werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die gewählte Bezeichnung der Kommission als »Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen«. Eindeutig zeigt sich hier die Übertragung der Hauptschuld für politisch und rassistisch motivierte Verbrechen auf Szálasi und seine Anhänger sowie auf die deutsche Besatzungsmacht. Obwohl die »Verbrechens-Kommission« auch Informationen über Taten sammelte, die unter dem Horthy-Regime begangen wurden, offenbart sich damit ihr tagespolitisches Ziel: In einer Zeit, als Ungarn teilweise noch von den Pfeilkreuzlern kontrolliert war, sollte dem Kollaborationsregime unter Szálasi, das einen Kriegsaustritt verhindert hatte, als die bevorstehende Kriegsniederlage bereits sehr deutlich war, jegliche Legitimität abgesprochen werden. Auf diese Weise wollte man Widerstandsgruppen in den noch nicht befreiten Landesteilen stärken, den Rückhalt der Bevölkerung gewinnen und die Rechtmäßigkeit der provisorischen Regierung unterstreichen.

Dabei war die vergleichsweise große Bereitschaft der hinter der Kommission stehenden politischen Akteure zur Thematisierung der unter der NS-Besatzung begangenen Verbrechen auch mit der Intention verbunden, den Bruch mit der autoritären bzw. faschistischen Staatsform zum Ausdruck zu bringen. Schließlich hatte die provisorische Regierung die Jahre 1920 bis 1945 zum »negativen Kontrastpunkt« des jungen ungarischen Staates erklärt. Indem sie den Terror, der seit der deutschen Besatzung geherrscht hatte, aufzeigte und verurteilte, versuchte sie sich nicht nur selbst zu legitimieren, sondern auch eine Demokratisierung in Gang zu setzen. Durch die Information der Öffentlichkeit über die Taten der vergangenen Regime sollte vor ähnlichen Verbrechen für die Zukunft gewarnt werden.

Wichtig sind schließlich die diplomatischen Überlegungen, die hinter der Tätigkeit der Kommission standen. Angesichts der bevorstehenden Friedensverhandlungen wollte die ungarische Regierung potentiellen Strafauflagen durch die Alliierten zuvorkommen. Denn ein Land, das mit der Vergangenheit abgerechnet und sich neu orientiert habe, dürfe nicht für die Taten eines früheren Regimes und für die Verbrechen Einzelner bestraft werden – so die Überlegung.[33]

Die hochgesteckten Ziele, die sich die Kommission selbst gesetzt hatte, wurden letztlich nicht erreicht. Während sie in den ersten Monaten des Jahres 1945, als Teile Ungarns noch unter der Kontrolle der Pfeilkreuzler und der Wehrmacht standen, eine rege Dokumentationstätigkeit entfaltete, verlor die Kommission rasch an Bedeutung, nachdem die letzten deutschen Truppen ungarisches Gebiet verlassen hatten. Für November 1945 wurden landesweite Wahlen angesetzt, und bald stand das Ziel an oberster Stelle der politischen Agenda, neue Wählerschichten für sich zu gewinnen, politische Mehrheitsverhältnisse zu etablieren und die nationale Einheit wiederherzustellen. Die provisorische Regierung definierte den Wiederaufbau als zentrale politische und wirtschaftliche Aufgabe, der geschichtspolitische Initiativen untergeordnet wurden.

Im Sommer 1945 reichte Varga seinen Rücktritt als Kommissionsvorsitzender ein und begründete diese Entscheidung damit, dass seine Arbeit lediglich von der Partei der Kleinen Landwirte unterstützt worden sei[34] und ihm keine Mitarbeiter zur Verfügung gestellt worden seien. Zudem habe die von der Ministerpräsidentenkanzlei angebotene monatliche Summe von 20.000 Pengő (bei einem damaligen Durchschnittseinkommen von 3.000 bis 4.000 Pengő) für eine landesweite Tätigkeit nicht ausgereicht.[35] Die Arbeit der Kommission wurde trotzdem nicht beendet, sondern sie wurde der Ministerpräsidentenkanzlei unterstellt.

Noch im September 1945 legte die Kommission, die zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei Mitarbeiter in Vollzeit beschäftigen konnte, einen ambitionierten Plan vor und bemühte sich um zusätzliche Kompetenzen. Vor allem ging es ihr dabei um die Erweiterung der Dokumentationstätigkeit auf Gebiete außerhalb der Hauptstadt. Als zentrale Ziele definierte sie zudem den Abschluss der Exhumierungs- und Obduktionsarbeiten sowie der allgemeinen Datensammlung in Budapest, die Sammlung von schriftlichen Beweismitteln und Fotos sowie die Zusammenstellung einer dokumentarischen Publikation. Im Kommissionsbericht hieß es: »Statt individuellen Berichten und Leidensbekundungen bzw. Zeitungsberichten, die ohnehin dem Vergessen anheimfallen, soll eine zusammenfassende, übergreifende, alles umfassende Buchpublikation (ähnlich den Weißbüchern) erscheinen. Dies wäre ein historisches Dokument und könnte auch bei der Vorbereitung der Friedensverhandlungen eine nützliche Unterlage darstellen.«[36]

Um ihre Arbeit voranzubringen, bat die Kommission erneut um mehr Geld und mehr Mitarbeiter.[37] Sie argumentierte: »Die Kommission ist notwendig, weil wir eine Institution brauchen, die die Arbeit der Polizei, der politischen Behörden und ziviler Organisationen (Joint, Rotes Kreuz) zusammenfasst, im Interesse des gemeinsamen Zieles an einer Stelle zusammenführt und die Ergebnisse nicht nur im Quantum der Volksgerichtsurteile registriert, sondern darüber hinaus herauszufinden versucht, was passiert ist.«[38] Doch die Kommission scheiterte sowohl mit dem Vorhaben, die von zahlreichen Einzelinstitutionen getragene Dokumentationstätigkeit zusammenzufassen und zu koordinieren, als auch mit dem Vorschlag, die Publikation von Erinnerungsberichten oder wissenschaftlichen Untersuchungen über Verfolgung und Ermordung nur nach Durchsicht seitens der Kommission zu erlauben.[39] In den folgenden Monaten schlief die Arbeit aufgrund fehlender finanzieller und politischer Mittel gänzlich ein.

2. Forschungsperspektiven

Warum die gesammelten Materialien der »Verbrechens-Kommission« nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung bald in Vergessenheit gerieten, sondern auch durch die Geschichtswissenschaft wenig Beachtung erfuhren, kann nur gemutmaßt werden. Die bis heute geringe Bekanntheit der Dokumente liegt möglicherweise nicht zuletzt an ihrer Beschaffenheit. Während die Protokolle des etwa zur gleichen Zeit von der Pester Israelitischen Gemeinde eingerichteten Landesfürsorgekomitees der Deportierten (Deportáltakat Gondozó Országos Bizottság, DEGOB), die in der Historiographie stark genutzt worden sind,[40] wie lebensgeschichtliche Erzählungen wirken, handelt es sich bei den Dokumenten der »Verbrechens-Kommission« in erster Linie um ausgefüllte Fragebögen oder um Anzeigen, die auf konkrete Verbrechen Bezug nehmen. Die klare Intention der strafrechtlichen Verfolgung, mit der die Angaben überwiegend gemacht wurden, erschwert die Behandlung dieser Ego-Dokumente als »parteilose« historische Quellen. Andererseits eignen sie sich kaum als lebensgeschichtliche Quellen, da biographische Details zu den in den Protokollen aufscheinenden Hauptakteuren fehlen und das Material teils statistikähnliche Züge trägt.

Gleichwohl würden die Aktenbestände eine einmalige Dokumentation von Endphase-Verbrechen in Budapest erlauben. Diese letzten chaotischen Wochen vor der Befreiung der Hauptstadt gelten nach wie vor als schlecht erforscht, genauso wie das Pfeilkreuzler-Regime selbst. So fehlen – abgesehen von einigen wenigen Monographien[41] – bis heute systematische Forschungen, die die »unkontrollierte Verselbstständigung der Pfeilkreuzlerbasis« (Margit Szöllösi-Janze) nach der Machtübernahme vom Oktober 1944 tiefgehender analysieren würden.

Die Protokolle der »Verbrechens-Kommission« würden nicht nur eine gute Grundlage bieten, um das Funktionieren des Pfeilkreuzler-Regimes in den letzten Kriegsmonaten besser zu verstehen. Sie belegen auch den Wissensstand der nichtjüdischen Bevölkerung über die öffentliche Gewalt, denen die Budapester Juden in den letzten Kriegsmonaten ausgesetzt waren, erlauben Rückschlüsse auf das jüdisch-nichtjüdische Zusammenleben in der besetzten Hauptstadt und dokumentieren Fälle von Denunziation, Raub jüdischen Vermögens und Rettungsversuchen. Sie geben Auskunft über Verbrechen gegen die ghettoisierte jüdische Bevölkerung und über Massaker außerhalb der Ghettos.

Besonders die Rolle der Hausmeister, die in den jüdischen Häusern in vielen Fällen die Einhaltung der antijüdischen Bestimmungen überwachten,[42] bzw. das Handeln der nichtjüdischen Nachbarn wird in den Berichten kritisch reflektiert – etwa in einem Protokoll, mit dem die Bewohner des Hauses in der Vilmos-Császár-Straße 10 über fünf Gewalttaten informieren. Darin wird auch das Schicksal eines unbekannten älteren Mannes skizziert, der im Haus Unterschlupf gesucht hatte. Einer der Hausbewohner begleitete ihn in die gemeinsame Küche: »Bis ich ihm was zum Essen bringen konnte, haben die Pfeilkreuzler ihn bereits durchsucht. Sie haben es mir nicht erlaubt, ihm Essen zu geben, seine Lebensmittelkarten haben sie verbrannt. Sie haben ihn zu einer sogenannten anthropologischen Untersuchung gebracht, dann haben sie Wachen bestellt, die ihn ins Ghetto bringen sollten. Während seiner Verschleppung erklärte die Hausbewohnerin, die Witwe Frau S.H.: ›Ich habe doch gesagt, wo sie nachschauen sollen, nicht wahr. Es ist ein Glück, dass sie [d.h. die Juden] ein Erkennungsmerkmal haben.‹ Am Abend habe ich vom Gestapo-Mann S.V. gehört, dass der Betreffende am Erzsébet-Platz erschossen wurde.«[43]

Augenfällig ist die Vielzahl jener Berichte, die über die Verschleppung jüdischer Hausbewohner informieren, die aufgrund diverser Regelungen von den antijüdischen Gesetzen eigentlich ausgenommen waren. Häufig wird in den Berichten angenommen, dass die gezielte Auswahl Personen jüdischer Abstammung durch Pfeilkreuzlertrupps auf Denunziation hin erfolgte. So sagten auch jene Personen, die im Rahmen der Untersuchung der Ereignisse im Krankenhaus in der Maros-Straße von der »Verbrechens-Kommission« vernommen wurden, vielfach aus, dass die Pfeilkreuzler-Razzia auf Initiative einer im Spital tätigen Krankenschwester, Frau Jankovics, hin erfolgt sei: »Sie war auch diejenige«, äußerte eine Zeugin, »die am Tag nach dem Massaker den Pfeilkreuzlern unter den noch Verbliebenen zeigte, wer Jude sei.«[44] Frau Jankovics wurde schließlich im Zuge der Exhumierungsarbeiten in der Maros-Straße verhaftet, wo sie von Angehörigen der Opfer erkannt wurde.

Frau Jankovics (Mitte) bei den Exhumierungen in der Maros-Straße, 23. April 1945
(MZSML F99.73 [736], Foto: Sándor Ék)

Zahlreiche, vor allem in Briefform eingegangene bzw. in den Räumlichkeiten der Kommission zu Protokoll genommene Erklärungen beziehen sich zudem auf Gewalttaten gegen Juden und Nichtjuden außerhalb der Hauptstadt (einschließlich der im Zuge der beiden Wiener Schiedssprüche 1938 und 1940[45] bzw. durch Kriegshandlungen annektierten Gebiete) sowie in den NS-Konzentrationslagern,[46] wie beispielsweise der Bericht eines Mannes vom 7. April 1945, der aus Nagykanizsa nach Auschwitz-Birkenau deportiert und im Lager Monowitz zur Arbeit eingesetzt worden war. Ausführlich schilderte er der Kommission die Aufnahmeprozedur im Lager, die Unterbringung in Monowitz, die Arbeitsbedingungen, die Ernährungslage sowie die Struktur der Häftlingsgesellschaft und die wiederkehrenden Selektionen.[47]

Die teils handschriftlichen, teils maschinengeschriebenen Fragebögen und die beigelegten schriftlichen Ausführungen bieten Ansatzpunkte für qualitative, aber auch für quantitative Methoden. So könnte eine statistische Erfassung der Personen, die die in den Protokollen beschriebenen Verbrechen ausübten, dabei helfen, Fragen zur deutschen bzw. ungarischen Täterschaft zu beantworten. Neben dem historisch-dokumentarischen Wert für die Verfolgungsgeschichte erlaubt das Material auch wertvolle Einblicke in Praktiken und Akteure der frühen Vergangenheitspolitik: So geben einerseits die Unterlagen, die die institutionsgeschichtlichen Hintergründe der Kommission dokumentieren, Aufschluss über Handlungsspielräume, Intentionen und Zielgruppen. Eine systematische Auswertung der Unterlagen der Kommission könnte andererseits dabei helfen, die Frage zu beantworten, ob die angestrebte Rehabilitierung der Bevölkerung und die Externalisierung der Verantwortung durch die Arbeit der Kommission letztlich gelangen. Da eine große Zahl der Protokolle auf Denunziationsfälle Bezug nehmen, darf dies vorerst bezweifelt werden.

Für vergangenheitspolitische Fragen sind auch jene Protokolle von Interesse, die die strafrechtliche Verfolgung oder Nicht-Verfolgung von Verbrechen thematisieren. So beklagte ein Mann, der über die Erschießung von 44 Männern in Pestszentimre berichtete, dass der Fall im Februar der Polizei übergeben worden sei, doch diese habe bislang nichts getan: »Am Sonntag, 8. April waren sie [d.h. die Polizisten] zu zweit draußen in Pestszentimre und haben mit Bedauern festgestellt, dass eines der Massengräber so offen ist, dass eine der Leichen von Hunden zerfleischt wurde. Der Leiter der Polizei von Pestszentimre hat erklärt, dass er die Leichen erst dann exhumieren lässt, wenn zumindest einer der Täter gefasst wurde. Er wird sie [d.h. die Exhumierung] von ihm durchführen lassen.« Der Zeuge fügte hinzu: »Außerdem bitte ich die Kommission, die Politische Polizei in der Eötvös-Straße 7, UG 3 darauf aufmerksam zu machen, in diesem wichtigen Fall Ermittlungen einzuleiten, da sich im Dorf die Pfeilkreuzler bis heute frei bewegen können. Einer arbeitet sogar auf der Polizei und hat auch eine Waffe.«[48] Inwieweit dieser Fall, aber auch andere Verbrechen, die der Kommission zur Kenntnis gebracht wurden, schließlich strafrechtlich verfolgt wurden, ist noch unklar. Eine Gegenüberstellung der Protokolle mit Volksgerichtsakten könnte solche Beispiele klären.

Schließlich enthalten die Fragebögen auch Angaben über die Personen, die sich dazu entschieden, die von ihnen beobachteten oder auch erlittenen Verbrechen zu Protokoll zu geben. Wer waren sie? Was hat sie dazu motiviert, sich bei der Kommission zu melden? Eine erste Sichtung der Dokumente zeigt, dass es überwiegend die jüdischen Bewohner der Häuser bzw. Angehörige von Opfern jüdischer Abstammung waren, die jene Wege nutzten, die ihnen die Kommission bot, um Verbrechen zur Anzeige zu bringen und Täter zu benennen. Viele baten zudem explizit darum, bei Exhumierungen anwesend sein zu dürfen, um Gewissheit über das Schicksal von Angehörigen oder Freunden zu erlangen. Eine Frau skizzierte sogar die Kleidung eines Freundes, mit dem sie zusammen verhaftet worden war, und versuchte auf diese Weise eine Identifizierung zu erleichtern: »Bei seinem Tod trug er eine graue Hose und ein blaugraues Hemd«, gab sie am 10. April 1945 zu Protokoll.[49]

Angehörige der Ermordeten und andere Interessierte beobachten die Exhumierungsarbeiten in der Maros-Straße, 23. April 1945
(MZSML F99.140 [811], Foto: Sándor Ék)

Insgesamt mahnt die staatlich initiierte »Verbrechens-Kommission« dazu, die Annahme genauer zu überprüfen, die europäischen Nachkriegsstaaten hätten die Beteiligung der eigenen Gesellschaften an den nationalsozialistischen Massenverbrechen rasch überdeckt. Dabei korrigieren oder differenzieren jene Fragebögen, die von den jüdischen Bewohnern der Häuser oft kollektiv ausgefüllt wurden, auch die Vorstellung, nach dem Krieg habe unter den Überlebenden Schweigen über die Verfolgungserfahrung geherrscht. Tatsächlich zeigen viele Dokumente, dass das Erlittene miteinander diskutiert wurde.[50] Doch schon wenige Wochen nach Kriegsende schwand das Interesse der Mehrheitsbevölkerung für jene Verbrechen, die vor ihren Augen begangen worden waren, und sie wandte sich den kleinen und großen Herausforderungen des Nachkriegsalltags zu. So endete das Gespräch, bevor es wirklich begonnen hatte.

Anmerkungen:

[1] Aussage vor der »Verbrechens-Kommission« am 12.4.1945, Budapest Fővárosi Levéltár (BFL, Hauptstadtarchiv Budapest), XVII.2., 19. Schachtel, Bund 37/A. Alle Übersetzungen aus dem Ungarischen in diesem Beitrag stammen von mir, R.F.

[2] Vgl. dazu den Aufruf in der Tageszeitung der Kommunistischen Partei: Szabad Nép [Freies Volk], 7.4.1945, S. 2.

[3] BFL, XVII.2., 19. Schachtel, Bund 37/A, Bl. 68-71.

[4] <http://filmhiradokonline.hu/watch.php?id=5956>. Die Exhumierungen in der Maros-Straße waren eines der Themen der ersten ausgestrahlten MAFIRT-Wochenschau nach dem Krieg am 2.6.1945. Vgl. A Kinoriporttól a reklámfilmekig. Ötvenöt éve vetítették a második világháború utáni első híradót, a MAFIRT Krónikát a fővárosi mozikban [Vom Kinoreport bis zu den Werbefilmen. Vor fünfundfünfzig Jahren wurde die erste Wochenschau nach dem Zweiten Weltkrieg, die MAFIRT-Chronik, in den Kinos der Hauptstadt ausgestrahlt], in: Népszabadság [Volksfreiheit], 2.6.2000, S. 36. Vgl. zu den Fotos auch Katalin Jalsovszky, Fényképek a felszabadulás első hónapjaiból [Fotografien aus den ersten Monaten der Befreiung], in: Honismeret [Heimatkunde] 13 (1985) H. 1, S. 14-16.

[5] Vgl. dazu Regina Fritz, Gewalterfahrung verarbeiten: Kontextbezogene Berichte von Budapester Juden über Pfeilkreuzlermassaker, in: Siegfried Mattl u.a. (Hg.), Krieg, Erinnerung, Geschichtswissenschaft, Wien 2009, S. 323-341.

[6] Die Unterlagen befinden sich in: BFL, XVII.2., 15. sowie 18.–21. Schachtel. Schriftstücke bzw. Fotos, die die Arbeit der Kommission dokumentieren, finden sich vereinzelt auch im Archiv der Staatssicherheitsdienste (Állambiztonsági Szolgálatok Történeti Levéltára, ÁSZTL), im Ungarischen Jüdischen Museum und Archiv (Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, MZSML), im Archiv des Instituts für Politische Geschichte (Politikatörténeti és Szakszervezeti Levéltár, PIL) sowie im Historischen Bildarchiv des Ungarischen Nationalmuseums (Magyar Nemzeti Múzeum Történeti Fényképtár, MNMTF).

[7] Vgl. BFL, XVII.2., 18. Schachtel, Bund 35. Diese Berichte machen genaue Angaben zur Identität der Opfer (samt Namen, Alter und Berufsbezeichnung), Informationen über die körperliche Verfassung der Ermordeten sowie über die Todesursache.

[8] So konnte die Kommission mit Hilfe von Zeugenaussagen bis September 1945 schließlich fünf Orte außerhalb des ehemaligen Ghettogeländes identifizieren, wo Opfer von Massakern begraben worden waren: im Városmajor-Park, in der Városmajor-Straße, in der Németvölgyi-Straße, in der Alma-Straße und in der Maros-Straße.

[9] Vgl. dazu u.a. Regina Fritz/Béla Rásky/Éva Kovács (Hg.), Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmords an Jüdinnen und Juden, Wien 2016; Frank Beer/Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944–1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, Berlin 2014; Hasia R. Diner, We Remember with Reverence and Love. American Jews and the Myth of Silence after the Holocaust, 1945–1962, New York 2009; David Cesarani/Eric J. Sundquist, After the Holocaust. Challenging the Myth of Silence, London 2012; Laura Jockusch, Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe, Oxford 2012.

[10] Beispielsweise zwei Ärzte: Dr. Emil Weil und Dr. Lajos Ádám. Während Weil als Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei bereits 1936 festgenommen und neun Jahre inhaftiert wurde, wurde Ádám nach der deutschen Besatzung durch die Gestapo verhaftet, aber später wieder freigelassen.

[11] Vgl. Randolph L. Braham, Rettungsaktionen: Mythos und Realität, in: Brigitte Mihok (Hg.), Ungarn und der Holocaust. Kollaboration, Rettung und Trauma, Berlin 2005, S. 15-40, hier S. 20. Der ungarische Historiker Tamás Stark schätzt die Zahl der in Budapest Befreiten auf 120.000–140.000. Vgl. Tamás Stark, Zsidóság a vészkorszakban és a felszabadulás után 1939–1955 [Das Judentum während des Holocaust und nach der Befreiung 1939–1955], Budapest 1995, S. 46. Aly und Gerlach sprechen von 119.000 überlebenden Juden in Budapest. Vgl. Christian Gerlach/Götz Aly, Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944–1945, Frankfurt a.M. 2004, S. 374.

[12] Die systematische Deportation der ungarischen Juden begann nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Ungarn im März 1944. Bis zum Juli 1944 wurden mit Hilfe der ungarischen Gendarmerie, Polizei und Verwaltung über 437.000 Menschen deportiert, von denen der Großteil kurz darauf in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Aufgrund massiven ausländischen Drucks verfügte Reichsverweser Miklós Horthy am 9. Juli 1944 den Stopp der Deportationen. Zu diesem Zeitpunkt war Ungarn jedoch bis auf die Budapester Juden und etwa 80.000 jüdische Männer, die in der ungarischen Armee Arbeitsdienst leisten mussten, bereits »judenrein«. Nach dem gescheiterten Versuch Horthys, das Bündnis mit dem Deutschen Reich zu lösen und aus dem Krieg auszutreten, wurde im Oktober 1944 die Regierung an Ferenc Szálasi übergeben, den Führer der ungarischen faschistischen Pfeilkreuzler. Die Deportation der ungarischen Juden begann nun erneut. Ab November 1944 wurden die Budapester Juden und Arbeitsdienstler zu Fuß in Richtung »Ostmark« getrieben. Die in Budapest verbliebenen Juden wurden ab Mitte November in zwei Ghettos umgesiedelt. Der Politikwissenschaftler Braham schätzt die Gesamtzahl der Opfer unter der jüdischen Bevölkerung Ungarns auf 565.000. Siehe ausführlich u.a. Randolph L. Braham, The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, 2 Bde., New York 1981, sowie Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel (Anm. 11).

[13] Neben dem »Großen Ghetto« bestand ein »Internationales Ghetto«, wo etwa 15.000 Personen untergebracht waren, die über einen Schutzbrief eines neutralen Landes verfügten.

[14] Vgl. Gerlach/Aly, Das letzte Kapitel (Anm. 11), S. 369. Der ungarische Historiker Ungváry spricht von 2.600 bis 3.600 Personen, die am Donauufer erschossen wurden. Vgl. Krisztián Ungváry, Budapest ostroma [Die Belagerung von Budapest], 5., erw. Aufl. Budapest 2005, S. 246. Siehe auch Gábor Tabajdi, Duna-parti gyilkosságok 1944–1945 [Die Morde am Donauufer 1944–1945], in: Rubicon 11 (2004), S. 32-39.

[15] Schreiben des Polizeiarztes vom 1.2.1945, BFL, XVII.2., 18. Schachtel, Bund 36.

[16] Aufstellung vom 18.2.1945, BFL, XVII.2., 18. Schachtel.

[17] Brief von Varga an das Budapester Nationale Komitee vom 24.2.1945, BFL, XVII.2., 15. Schachtel, Bund 9.

[18] Da der Sitz der Provisorischen Regierung bis April 1945 in Debrecen verblieb, übte das Budapester Nationale Komitee bis Frühjahr 1945 viele staatspolitische Funktionen aus. Es richtete etwa die Institution der Volksgerichte ein und berief einen neuen Bürgermeister in der Hauptstadt.

[19] Vgl. Bericht der »Verbrechens-Kommission« über die bisherige Arbeit und über zukünftige Ziele an Gyula Kállai vom 17.9.1945, BFL, XVII.2., 18. Schachtel, Bund 33.

[20] In den von den Pfeilkreuzlern kontrollierten Gebieten wurde der bewaffnete Kampf bis April 1945 auf Seiten des Deutschen Reiches fortgeführt. Ferenc Szálasi und seine Anhänger flüchteten am 29. März 1945 aus Ungarn. Am 4. April 1945 verließen die letzten deutschen Truppen ungarisches Gebiet.

[21] Vgl. Beschluss des Budapester Nationalen Komitees am 7.2.1945, Abdruck in: Ferenc Gáspár/László Halasi (Hg.), A Budapesti Nemzeti Bizottság jegyzőkönyvei 1945–1946 [Protokolle des Budapester Nationalen Komitees 1945–1946], Budapest 1975, S. 27. Laut einem Bericht der Zeitung »Szabadság« vom 10.2.1945 waren Dr. Kajos Ádám, Dr. Ernő Balogh, Dr. Károly Balogh, Péter Bechtler, Dr. Ferenc Czeyda-Pommersheim, Dr. József Frigyessy, Dr. Endre Kubányi, Zsigmond Mihalovics, Dr. Nándor Rátkóczy, Dr. Emil Weil und Dr. Ödön Zalka weitere Mitarbeiter der Kommission.

[22] Vgl. Bericht der »Verbrechens-Kommission« (Anm. 19).

[23] Fest steht, dass die Exhumierungsarbeiten zu Propagandazwecken von den russischen Behörden filmisch festgehalten wurden.

[24] Brief von Varga an das Budapester Nationale Komitee vom 24.2.1945 (Anm. 17). Vgl. auch den Brief des Leiters der »Verbrechens-Kommission« an die Leitung der Kommunistischen Partei vom 22.3.1945, PIL, 274/15, 19, Bl. 22.

[25] Aufruf des Budapester Nationalen Komitees an die ungarische Öffentlichkeit vom 9.3.1945, BFL, XVII.2., 20. Schachtel, Bund 38/2.

[26] Die Hausmeister wurden angehalten, den Aufruf den Hausbewohnern öffentlich vorzulesen und die ausgefüllten Fragebögen eine Woche nach Zustellung der Bezirksvertretung zu übermitteln.

[27] Sitzung des Budapester Nationalen Komitees am 2.3.1945, Abdruck in: Gáspár/Halasi, A Budapesti Nemzeti Bizottság (Anm. 21), S. 46f. Im Aktenmaterial über Volksgerichtsverfahren finden sich immer wieder Protokolle der »Verbrechens-Kommission«.

[28] Vgl. ÁSZTL, 3.1.5. O–14761, Bl. 187-191.

[29] Aufruf des Budapester Nationalen Komitees (Anm. 25).

[30] Brief von Varga an das Budapester Nationale Komitee vom 24.2.1945 (Anm. 17).

[31] Vgl. z.B. Rede von Zoltán Lévay am 27.8.1946, in: Az 1945. évi november hó 29.-ére összehívott Nemzetgyűlés Naplója [Protokollsammlung der am 29. November 1945 einberufenen Nationalversammlung], Bd. 3, 51.–66. Sitzungen, Budapest 1951.

[32] Vgl. dazu eingehend Regina Fritz, Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944, Göttingen 2012.

[33] Vgl. ebenfalls ausführlich ebd.

[34] Vgl. Sitzung des Budapester Nationalen Komitees am 13.8.1945, Abdruck in: Gáspár/Halasi, A Budapesti Nemzeti Bizottság (Anm. 21), S. 208.

[35] Das Budapester Nationale Komitee hatte der Kommission insgesamt 51.000 Pengő zur Verfügung gestellt. Vgl. Bericht der »Verbrechens-Kommission« (Anm. 19).

[36] Ebd.

[37] Noch am 2. März 1945 hatte das Budapester Nationale Komitee der »Verbrechens-Kommission« zugesichert, das Budget für die Beschäftigung von bis zu 20 Personen bereitzustellen. Vgl. Sitzung des Budapester Nationalen Komitees (Anm. 27), S. 46.

[38] Bericht der »Verbrechens-Kommission« (Anm. 19).

[39] Ebd.

[40] Zur Geschichte der DEGOB siehe Fritz, Nach Krieg und Judenmord (Anm. 32), S. 92-95, sowie Ferenc Laczó, »I could hardly wait to get out of this camp even though I knew it would only get worse until liberation came.« On Hungarian Jewish Accounts of the Buchenwald Concentration Camp 1945–46, in: Hungarian Historical Review 2 (2013), S. 605-638. Die Protokolle des DEGOB befinden sich im Ungarischen Jüdischen Archiv in Budapest. Ein Großteil von ihnen ist auf der Website <http://www.degob.hu> zugänglich.

[41] Vgl. v.a. Margit Szöllösi-Janze, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn. Historischer Kontext, Entwicklung und Herrschaft, München 1989; Rudolf Paksa, Szálasi Ferenc és a hungarizmus [Ferenc Szálasi und der Hungarismus], Budapest 2013; László Karsai, Szálasi Ferenc. Politikai életrajz [Ferenc Szálasi. Politische Biographie], Budapest 2016.

[42] Vgl. dazu ausführlich István Pál Ádám, Budapest Building Managers and the Holocaust in Hungary, Cham 2016.

[43] Protokoll vom 16.4.1945, BFL, XVII.2., 19. Schachtel, Bund 38/1, Bl. 215.

[44] Protokoll vom 12.4.1945, BFL, XVII.2., 19. Schachtel, Bund 37/A, Bl. 36.

[45] Im Ersten Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938 erhielt Ungarn Teile der Slowakei und der Karpato-Ukraine. 1939 besetzte Ungarn die gesamte Karpato-Ukraine. Mit dem Zweiten Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 wurde Ungarn auch Nordsiebenbürgen zugesprochen. Die Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien führte schließlich zur Besetzung der Batschka und anderer jugoslawischer Gebiete durch ungarische Truppen.

[46] Aufruf des Budapester Nationalen Komitees (Anm. 25). Vor allem bezogen auf den ungarischen Arbeitsdienst konnten Informationen gesammelt werden.

[47] Protokoll vom 7.4.1945, BFL, XVII.2., 19. Schachtel, Bund 37, Bl. 353-358.

[48] Brief an die Kommission vom 11.4.1945, BFL, XVII.2., 19. Schachtel, Bund 37.

[49] Protokoll vom 10.4.1945, BFL, XVII.2., 19. Schachtel, Bund 37/B, Bl. 135.

[50] Vgl. dazu auch Diner, We Remember, sowie Cesarani/Sundquist, After the Holocaust (beide Anm. 9).

 

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