Das „neue Europa“ seit 1989

Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit

Anmerkungen

Die Epoche seit den Revolutionen von 1989 ist bislang eine Domäne der Sozialwissenschaften. Doch die zahlreichen Veranstaltungen zum 20-jährigen Jubiläum von 1989 haben verdeutlicht, dass die Revolutionen und die Zeit der „Transformation“ zur Geschichte werden. Für die zeithistorische Forschung bedeutet das eine Herausforderung. Es gilt, in den kommenden Jahren die wichtigsten Charakteristika dieser Epoche zu bestimmen, sie zeitlich und räumlich einzugrenzen und daraus Fragen für die Forschung abzuleiten. Aus deutscher Sicht war 1989 durch den Fall der Berliner Mauer einerseits ein nationalhistorisches Ereignis. Andererseits waren die Revolutionen und die anschließende Transformation transnationale Prozesse, die nur in einem europäischen, in manchen Aspekten auch globalen Rahmen zu verstehen sind. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zur sozialwissenschaftlichen Forschung. Die Zeitgeschichte sollte die Ergebnisse der so genannten Transformationsforschung nutzen. Aber schon schließt sich die Frage an, ob als Sekundärliteratur oder als im zeitlichen Kontext stehende Quelle. Ferner ist zu diskutieren, inwieweit die Zeitgeschichte die politischen und wissenschaftlichen Paradigmata der Transformationsforschung teilt.

Bei der Einordnung der Revolutionen von 1989 erscheint es zunächst als erhellend, diachron zu vergleichen. Die Revolutionen von 1789, 1848 und 1917 weisen manche Gemeinsamkeiten mit 1989 auf, darunter den sprichwörtlichen Funken, der von einem Land zum anderen übergriff. Es handelte sich jeweils um eine Kette von Revolutionen, die 1991 auch zum Zerfall der Sowjetunion führte. Ähnlich wie in früheren revolutionären Epochen lässt sich der Umbruch nicht auf ein bestimmtes Jahr oder Land reduzieren. Der Sturm der Bastille von 1789 fand seine Fortsetzung in verschiedenen europäischen Ländern, vor allem in Polen, wo die erste Verfassung Europas verabschiedet wurde. Allerdings setzten sich dort 1794 im Gegensatz zu Frankreich die intervenierenden Armeen der Ancien Régimes durch. Die Russische Revolution war 1919/20 mit einem versuchten Export nach Polen und lokalen Varianten in Deutschland und Ungarn verbunden.

„Lenin geht“. Fotomontage von Vera Lichtenberg, Mischtechnik, 1992 (© Stadtmuseum Berlin). Die Arbeit wird gezeigt im Rahmen der Ausstellung „FALLMAUERFALL 61 – 89 – 09. Grenzüberschreitungen und Grenzerfahrungen im Spiegel der Kunst“, Stadtmuseum Berlin/Ephraim-Palais, 6.11.2009 – 7.2.2010.

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Die Revolutionen von 1989 waren noch mehr als ihre Vorgängerinnen ein eng miteinander verknüpfter, transnationaler Prozess. Entsprechend der allgemein gehaltenen Definition von Charles Tilly handelt es sich bei Revolutionen um einen aus einer krisenhaften Situation hervorgehenden, raschen und gewaltsamen Herrschaftswandel, der häufig mit tiefgreifenden sozialen und ökonomischen Veränderungen einhergeht.1 Für die Zeit nach 1989 stellt sich allerdings die Frage, wann die Phase des beschleunigten nachrevolutionären Wandels endete. So lässt sich der aus historischer Perspektive unscharfe Begriff der Transformation definieren, denn bekanntlich befinden sich politische, ökonomische und soziale Systeme stets im Wandel. Man könnte mit Padraic Kenney 2004 als Zäsur ansehen,2 denn in diesem Jahr wurden fast alle Staaten, in denen es 1989 zu einem Systemwechsel gekommen war, in die EU aufgenommen. Außerdem kam es zu einem vorerst letzten Transfer der Revolution in die Ukraine. Gegen diese Zäsur spricht aber, dass sich in manchen Bereichen, darunter der Arbeitsmigration, nach 2004 mehr bewegte als zuvor. Auch die EU-Osterweiterung war erst mit der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens 2007 (zunächst) abgeschlossen. Blickt man auf den neoliberalen Geist der Transformationsepoche, in der Sozialstaatsabbau, Liberalisierung und Privatisierung der Wirtschaft und ein apolitischer Reformdiskurs bestimmend waren, dann eignet sich die Weltwirtschaftskrise von 2009 als Endpunkt. Diese Periodisierung würde es zugleich ermöglichen, die Epoche seit 1989 nicht nur als regionales, ostmitteleuropäisches Ereignis wahrzunehmen, wie es in der Transformationsforschung üblich ist.

Dies führt zur Frage der räumlichen Eingrenzung der Epoche von 1989 bis 2009. Die Revolutionen waren als unmittelbare Ereignisse auf Ostmitteleuropa, das Baltikum und den Kaukasus begrenzt. Wegen der noch gültigen Reisebeschränkungen und vor allem aufgrund mentaler Barrieren partizipierten die Bürger des westlichen Europas kaum an den Revolutionen. Auch in den Frontstaaten des Kalten Krieges wie der Bundesrepublik und Österreich erlebten die Bürger 1989 überwiegend als Medienereignis. Doch bereits 1990 verlagerte sich ein Teil der Agenda nach Westen. Die Vereinigung Deutschlands wurde von Bonn aus gesteuert, und bald darauf avancierte die EU-Kommission zu einem zentralen Akteur der Transformation. Die Brüsseler Bürokratie gab den so genannten Reformstaaten vor, in welche Richtung sie sich entwickeln sollten, und erlebte damit in Europa und auf globaler Ebene einen massiven Machtzuwachs. Nicht zu unterschätzen sind außerdem außereuropäische Akteure, allen voran die USA.

Der Vergleich mit früheren Revolutionen deckt neben Gemeinsamkeiten wichtige Unterschiede auf. 1989 war überwiegend eine gewaltfreie, eine friedliche Revolution. Die polnische Soziologin Jadwiga Staniszkis nahm dies intellektuell schon 1984 vorweg, als sie in einer Studie über die Solidarność von einer „self-limiting revolution“ sprach.3 Rumänien war in dieser Hinsicht eine Ausnahme, denn dort diente die Gewalt ähnlich wie 1991/92 im zerfallenden Jugoslawien dem Machterhalt der alten Eliten. Dies stellt die Bedeutung des Faktors Gewalt für die Definition des Revolutionsbegriffs geradezu auf den Kopf. Gewalt war 1989 kein Faktor der Revolution, sondern der Gegenrevolution – so auch in China, wo das Massaker vom Tiananmen-Platz den Freiheitsbestrebungen ein Ende setzte.

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Die fehlende Gewalt hat in der wissenschaftlichen und der gesellschaftlichen Rezeption die Frage aufgeworfen, ob es sich bei 1989 überhaupt um eine Revolution handelte. Oft spricht man von einer „Wende“, in verschiedenen slawischen Sprachen vom „Wechsel“ (z.B. polnisch „zmiany“). Doch der populäre Sprachgebrauch kann kein Maßstab für die wissenschaftliche Betrachtung sein. Entscheidend für die Anwendung des Revolutionsbegriffs sind neben der unstrittigen Mobilisierung der Gesellschaft und den massenhaften Protesten im Herbst 1989 die tiefgreifenden Auswirkungen auf die folgende Epoche der europäischen Zeitgeschichte.4

Man muss nur einen Blick auf die Landkarte Europas werfen, und schon offenbart sich der revolutionäre Charakter von 1989. Die Beseitigung der Teilung Deutschlands und Europas und damit der Nachkriegsordnung ist eine offensichtliche Folge. Um die bleibende Bedeutung von 1989 für die europäische Geschichte zu erfassen, muss man fast ein Jahrtausend zurückblicken. Erstmals seit dem Schisma von 1054 reicht ein politisch und auch in seinen Werten weitgehend vereintes Europa so weit nach Osten. In Rumänien spricht man von einem Europa vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer. So geographisch umfassend waren im Ereignis und seinen Auswirkungen weder die europäischen Revolutionen von 1789–1794, von 1848/49 noch die von 1917–1920. Außerdem reicht die ideelle Ausstrahlung der Revolution und des anschließenden Zugewinns an Freiheit und Wohlstand weit über die heutige EU hinaus. Die Ukraine wurde bereits erwähnt; die russische Regierung hatte lange Zeit große Sorge vor einem Übergreifen der Orangenen Revolution.

Die sozialen Auswirkungen von 1989 waren im Vergleich zu früheren Revolutionen weniger tiefgreifend, was in der Logik der Gewaltfreiheit liegt. Die alten Eliten wurden 1989 zwar politisch entmachtet, aber in der Wirtschaft gab es oft große personelle Kontinuität. Manche Kader der kommunistischen Parteien kehrten in den 1990er-Jahren auf die politische Bühne zurück. Dies hat dazu geführt, dass vor allem in Polen und Ungarn wiederholt versucht wurde, die Art und Weise des Machtwechsels von 1989 zu delegitimieren. Auch westliche Sozialwissenschaftler reagierten oft enttäuscht. Sie konstatierten eine konservative Revolution oder, wie Jacques Rupnik, sogar ein „Anti-1968“.5 Aber historisch betrachtet besteht kein Zweifel, dass in der Gewaltfreiheit die Innovation und das politische Vermächtnis des Jahres 1989 liegt. Es war – mit wenigen Ausnahmen wie in Rumänien – die erste verhandelte Revolution in der modernen Geschichte.

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Die Ausgangsbedingungen für die Transformation, die in der englischsprachigen Forschung mit anderen politischen Schwerpunkten auch als Transition bezeichnet wird, waren denkbar verschieden. Einige ehemalige Ostblockstaaten wie Polen und Ungarn waren 1989 hoch im Ausland verschuldet, andere wie die Tschechoslowakei nahezu schuldenfrei. Der wirtschaftliche Entwicklungsstand der staatssozialistischen Länder unterschied sich ebenfalls deutlich. In Polen zum Beispiel beschränkten sich die Autobahnen auf ein paar hundert noch unter Hitler gebaute Kilometer; dagegen war das Straßennetz in der DDR, der Tschechoslowakei und Ungarn relativ gut ausgebaut. Die polnischen Bürger aber verfügten aufgrund der 1956 abgebrochenen Kollektivierung und der Mitte der 1980er-Jahre begonnenen Reformen über mehr marktwirtschaftliche Erfahrungen.

Auch die Voraussetzungen zum Aufbau einer Demokratie waren sehr verschieden. Die Tschechoslowakei gehörte in der Zwischenkriegszeit zu den wenigen stabilen Demokratien in Europa; in allen anderen ostmitteleuropäischen Staaten herrschten ab Mitte der 1920er-Jahre Diktaturen. Allerdings gab es demgegenüber in Polen einen demokratischen Mythos und die demokratischen Basiserfahrungen durch die Solidarność. Den DDR-Bürgern bot sich die Möglichkeit, über westdeutsche Medien vermittelt, am Aufbau der Demokratie in der Bonner Republik teilzuhaben. Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass die ehemaligen Ostblockstaaten, die von außen häufig als einheitlich angesehen wurden, über denkbar unterschiedliches Wirtschafts- und Humankapital verfügten, als sie sich auf den steinigen Weg der Reformen begaben.

In der westlichen Transformationsforschung herrschte daher lange Zeit große Skepsis, ob die dreifache Transformation zur Demokratie, zu einer stabilisierten Staatlichkeit und zur Marktwirtschaft gelingen könne. Claus Offe beispielsweise zweifelte vor allem deshalb an einem Erfolg der Transformation, weil diese drei Aufgaben gleichzeitig bewältigt werden mussten.6 Als bleibendes Problem erwies sich dabei die wachsende Kluft zwischen verschiedenen Regionen der ehemaligen Ostblockstaaten, wobei sich die weiter westlich gelegenen Gebiete schneller entwickelten als die jeweilig östlichen Landeshälften. Auch die Frauen zahlten einen hohen Preis für die Transformation. Sie verloren weit häufiger als Männer ihre Arbeitsplätze; generell ging die Gleichberechtigung zurück. Die Sozialgeschichte der Transformation kommt mithin nicht ohne einen Gender-Aspekt aus. Schließlich variiert das Bild je nachdem, wie weit man den geographischen Rahmen steckt. In der Ukraine beispielsweise ist die Entwicklung zu einer Demokratie seit der Orangenen Revolution weit vorangeschritten. Doch in Bezug auf die Stabilität des Staates und der Wirtschaft ist nicht auszuschließen, dass sich das Land zu einem „failed state“ entwickelt. Das gilt für Belarus nicht, aber dort ist die Stabilität um den Preis einer harten Diktatur erkauft. Auch die Entwicklung in Russland weicht vom Muster der Transformation in Ostmitteleuropa deutlich ab, wäre aber Gegenstand eines eigenen Aufsatzes und wird daher hier beiseitegelassen.

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Wie Padraic Kenney in der bislang einzigen historischen Überblicksdarstellung über die Transformation in Ostmitteleuropa dargestellt hat, war der Reformprozess dort überwiegend erfolgreich.7 Darin liegt gemessen an den Prog-nosen der 1990er-Jahre die eigentliche Überraschung der Periode seit 1989.8 Die Spitzenreiter unter den neuen EU-Mitgliedsländern haben wirtschaftlich bereits Portugal und Griechenland überholt. Der Entwicklungsstand der Demokratie liegt heute gemäß dem „Freedom Index“ in Polen höher als in Italien, weil dort die Medienvielfalt eingeschränkt und die Gewaltenteilung gefährdet ist.9 Diese Errungenschaften der Transformation, die durch die EU-Osterweiterung von 2004 und 2007 in Brüssel amtlich besiegelt wurden, sollten aber nicht die gravierenden Unterschiede zwischen den so genannten Transformationsländern verdecken.

Die politischen Systeme variieren zwischen Kanzlerdemokratien nach deutschem Vorbild bis hin zu Präsidialdemokratien französischer Art, wobei die Tendenz in Polen und der Ukraine dahinging, die Macht des Präsidenten zu beschneiden und die des Parlaments und des Regierungschefs zu erweitern. Auch die Gesellschaften der ehemaligen Ostblockländer unterscheiden sich erheblich. In Polen, den baltischen Staaten und Rumänien sind sie von relativ großer sozialer Ungleichheit geprägt, wenn auch deutlich unter dem Niveau der USA. Andere Länder wie Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien haben einen „GINI-Koeffizienten“ (der die Ungleichheit der Einkommensverteilung bzw. die Unterschiede zwischen Arm und Reich misst) wie in Skandinavien.10 Die neoliberale Reformrhetorik in Ostmitteleuropa hat diese teilweise weiterbestehende Tendenz zu sozialer Gleichheit ebenso vernebelt wie die westliche Medienberichterstattung über neureiche Oligarchen, verarmte Rentner und andere Transformationsverlierer wie zum Beispiel die Sinti und Roma. Für die Sozialgeschichte der Transformationszeit sind beide spannungsreichen Tendenzen von Interesse: die Bildung einer wachsenden Mittelschicht und die Entstehung neuer Ungleichheit.

Dabei ist zwischen einer vertikalen, auf soziale Schichten und Gruppen bezogenen sowie einer horizontalen, räumlich definierten Ungleichheit zu unterscheiden. Seit 1989 haben vor allem die Entwicklungsunterschiede zwischen Stadt und Land zugenommen. Das Gefälle zwischen Warschau und nicht einmal 50 Kilometer entfernten Kleinstädten in Masowien ist heute weitaus größer als der Abstand zwischen der deutschen und der polnischen Hauptstadt oder Orten entlang der deutsch-polnischen Grenze. Die in der sozialwissenschaftlichen Forschung übliche Datenaggregation auf gesamtstaatlicher Ebene und nationalstaatliche Vergleiche ermöglichen es kaum, diese Entwicklungen zu erfassen. Während Polen in der Weltwirtschaftskrise von 2009 als einziger EU-Staat ein kleines Wachstum erzielen konnte, ist das lettische und litauische Bruttosozialprodukt dramatisch eingebrochen. Diese wiederum spannungsreiche Tendenz zur Konvergenz bei gleichzeitiger Zunahme internationaler und innerstaatlicher Divergenzen stellt die in der Transformationsforschung übliche Zusammenfassung der postkommunistischen Länder erneut in Frage. Kategorien wie „der Osten“ oder „Osteuropa“ verlieren ihren Sinn als aktuelle Untersuchungseinheiten.

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Entscheidend für den Verlauf der Reformen war aus historischer Perspektive ein Mix aus noch vorhandenen wirtschaftlichen und staatlichen Ressourcen und sozialem Kapital.11 In der Tschechischen Republik und in den fünf neuen Ländern der Bundesrepublik erleichterten die relativ guten Ausgangsbedingungen den Umbau der Wirtschaft, wobei es noch eine offene Frage ist, warum die ehemalige DDR angesichts der umfangreichen Transferzahlungen aus dem Westen nicht weit vor allen anderen ehemaligen „Bruderländern“ liegt. Das deutlich ärmere Polen konnte die wirtschaftlich schlechteren Startbedingungen dadurch kompensieren, dass dort zahlreiche Bürger bereits vor 1989 Erfahrungen mit privatwirtschaftlichen Praktiken gemacht hatten, häufig auch in Kontakt mit dem westlichen Ausland. Generell war die wirtschaftliche und politische Transformation in jenen Ländern besonders erfolgreich, wo die Revolution von 1989 auf einer breiten gesellschaftlichen Mobilisierung beruhte. Dagegen fehlte es zum Beispiel in Rumänien und Bulgarien an wirtschaftlichem und sozialem Kapital; entsprechend gelten dort die 1990er-Jahre oft als verlorenes Jahrzehnt. Die Entwicklung in der Transformation verweist damit auf Kontinuitäten aus der Zeit vor 1989, was erneut für eine historisch-komparative Herangehensweise spricht.

Allerdings wäre es misslich, diese Vergleiche wie in der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung und „Transitology“ auf die so genannten Reformstaaten zu beschränken. Dies würde bedeuten, die Mental Map des Kalten Krieges über die Zeitenwende von 1989 hinweg fortzuschreiben. Die Epoche nach den Revolutionen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sich die Nachkriegsordnung mit ihrer starren Unterteilung in Ost- und Westeuropa auflöste. Außerdem würde damit eine implizit politische Agenda der Transformationsforschung übernommen. Die abgesehen von wenigen globalen Vergleichsstudien regionale Beschränkung dieser Forschungsrichtung beruht letztlich auf der Prämisse, dass es in den westlichen Demokratien und Marktwirtschaften keinen Reformbedarf gebe.12 Transformation bedeutete eine rasche Anpassung an westliche Normen und Systeme in der Erwartung, dass dann auch im Osten entsprechender Wohlstand einziehen würde. Hierin zeigt sich der Einfluss von Neo-Konservativen wie Francis Fukuyama, der in seinem oft zitierten und ebenso oft missverstandenen Aufsatz vom „Ende der Geschichte“13 vor allem darauf hinauswollte, dass nach dem Scheitern des Sozialismus nur noch der Entwicklungsweg zu einer liberal-kapitalistischen Demokratie offen sei.

Es bedarf noch der näheren Erklärung, warum die Transformationsforschung durch ihre räumliche Rahmensetzung und häufig in der Darstellung ihrer Ergebnisse die politische Vorgabe übernahm, wonach sich im Osten fast alles, aber im Westen fast nichts verändern müsse. Diese Containment-Strategie prägte bereits den Beitritt der fünf neuen Länder zur Bundesrepublik und den anschließenden „Aufbau Ost“. Unter ähnlichen Prämissen wurde die EU-Erweiterung von 2004/07 vollzogen, aus deren Anlass sich zwar die Beitrittsländer massiv an bestehende Normen anpassen mussten, die Union der 15 sich aber keiner strukturellen Reform unterzog. Die institutionelle Krise der EU seit 2005 ist eine der Folgen dieser Containment-Strategie.

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Im vereinigten Deutschland traten die damit verbundenen Probleme bereits zum Ende der Ära von Bundeskanzler Kohl zu Tage. Die Medien kritisierten immer häufiger den Stillstand und attestierten einen „Reformstau“, der wesentlich zum Wahlsieg des späteren „Reformkanzlers“ Gerhard Schröder beitrug. Man kann mithin sagen, dass sich der Reformdiskurs vom Osten auf den Westen übertrug. In manchen Bereichen wurde dadurch eine nachholende Entwicklung ausgelöst, so etwa in der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durch die Agenda 2010. Dies alles geschah nicht nur aufgrund interner Faktoren und der mangelnden Finanzierbarkeit des Sozialstaats, sondern auch aufgrund von externem Konkurrenzdruck. Die Öffnung der Grenzen innerhalb Europas wirkte in mancher Hinsicht wie eine Globalisierung in kleinerem Format. Die Revolutionen von 1989 und die nachfolgende Transformation lösten auch in den alten EU-Staaten Veränderungen aus, die hier nur stichpunktartig erwähnt werden können. Dazu zählt die massive Verschiebung der politischen Koordinaten zu Ungunsten der Sozialdemokratie bzw. der gemäßigten Linken.14 Darüber hinaus ist das politische Links-Rechts-Schema seit 1989 in Auflösung begriffen, zugunsten einer Differenzierung anhand von Themen wie der Rolle des Sozialstaats, der inneren Sicherheit und der Öffnung oder Schließung von Grenzen für Waren, Dienstleistungen und Migranten. Der Populismus, ob er sich nun als rechts wie in Italien und den Niederlanden oder als links wie in den meisten postkommunistischen Ländern präsentiert, zu denen seit 1990 in gewisser Hinsicht auch die Bundesrepublik gehört, ist deshalb erfolgreich, weil er den Menschen Schutz vor Risiken in all diesen Bereichen verspricht.

Man kann mithin festhalten, dass die Transformation im Osten von einer Co-Transformation im Westen begleitet war, die sich unter Berücksichtigung des sozialwissenschaftlichen Forschungsstandes vergleichend und transfergeschichtlich untersuchen lässt. Man könnte damit an die ebenfalls komparative zeithistorische Forschung zur Krise des Sozialstaats seit den 1970er-Jahren anschließen.15 Aber man sollte sich nicht auf Europa beschränken. Die Reformrhetorik und -politik des Zeitalters nach 1989 mit ihren Leitwerten der Entstaatlichung, Privatisierung und Flexibilisierung prägten Indien oder Chile ebenso wie Ostmitteleuropa und anschließend Westeuropa.

Für eine Europa überschreitende Perspektive spricht nicht zuletzt die Position des sich neu konstituierenden politischen Europas. Trotz all der internen Krisen hat die EG bzw. die EU durch die Ereignisse von 1989 erheblich an Macht gewonnen und sich zu einem entscheidenden Akteur der Transformation entwickelt. Der Einfluss Brüssels reicht heute von der Asylgesetzgebung in der Ukraine über Bildungsreformen in Russland bis hin zur Energiepolitik in Nordafrika. In dem viel diskutierten Buch „Europe as Empire“ analysiert der Oxforder Politikwissenschaftler Jan Zielonka nicht nur die äußere Position der EU, sondern vor allem die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen im erweiterten Europa. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die föderale Ordnung Europas mit seinen zahlreichen Mittel- und Kleinstaaten und einer schwach ausgeprägten, nicht durch Wahlen legitimierten Zentralgewalt einem „neo-mittelalterlichen Reich“ entspreche.16 Aber diese Ordnung und die geöffneten Grenzen haben Zielonka zufolge ihren Preis: steigende soziale Ungleichheit und ein Demokratiedefizit. Auch diese Befunde belegen eine unbeabsichtigte Co-Transformation des „alten“ Europas und somit den Bedarf nach einer zeithistorischen Transformationsforschung, die nicht einfach an den ehemaligen Blockgrenzen Halt macht.

Anmerkungen: 

1 Vgl. zum Revolutionsbegriff Charles Tilly, European Revolutions 1492–1992, Oxford 1992, S. 8. Tilly betont vor allem mit Blick auf die „revolutionary outcomes“, dass es sich 1989 um eine Kette von Revolutionen gehandelt habe. Vgl. ebd., S. 235.

2 Vgl. Padraic Kenney, The Burdens of Freedom. Eastern Europe since 1989, London 2006.

3 Jadwiga Staniszkis, Poland’s Self-Limiting Revolution, Princeton 1984.

4 Vgl. dazu die Überlegungen von Zygmunt Bauman, A Revolution in the Theory of Revolution, in: International Political Science Review 15 (1994), S. 15-24.

5 Bezeichnenderweise äußerte er dieses Verdikt in einem affirmativen Artikel über 1968: Jacques Rupnik, Zweierlei Frühling: Paris und Prag 1968, in: Transit 35 (2008), S. 129-138.

6 Claus Offe, Varieties of Transition. The East European and East German Experience, Cambridge 1997.

7 Vgl. Kenney, Burdens of Freedom (Anm. 2).

8 Vgl. zum Wandel der politischen Systeme Wolfgang Merkel, Gegen alle Theorie? Die Konsolidierung der Demokratie in Ostmitteleuropa, in: Politische Vierteljahresschrift 48 (2007), S. 413-433.

9 Vgl. dazu den Index „Freedom in the World“ von 2009 der amerikanischen Organisation Freedom House (<http://www.freedomhouse.org>). Allerdings bewertet der „Democracy Index“ des „Economist“ Polen kritischer. Vgl. zu diesen Indizes Thomas Müller/Susanne Pickel, Wie lässt sich Demokratie am besten messen? Zur Konzeptualität von Demokratie-Indizes, in: Politische Vierteljahresschrift 48 (2007), S. 511-539.

10 Vgl. zu den „GINI-Koeffizienten“ den „Human Development Report“ des United Nations Development Programme von 2007/08, online unter URL: <http://hdr.undp.org/en/content/human-development-report-20078>, S. 281.

11 Wolfgang Merkel erklärt die rasche und vor allem überraschende Konsolidierung der Demokratie in Ostmitteleuropa mit dem Bildungsstand der Bevölkerung, der relativ egalitären Einkommensverteilung, den in der Regel noch funktionierenden Staatsverwaltungen sowie externen Faktoren wie dem Beitrittsprozess zur EU. Vgl. Merkel, Gegen alle Theorie? (Anm. 8). Auf weitere Literaturhinweise zu den Resultaten der Transformation wird an dieser Stelle aus Platzgründen verzichtet.

12 Vgl. dazu u.a. die Publikationen von Juan Linz, so z.B. Juan Linz/Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore 1996.

13 Siehe den Beitrag von Stefan Jordan in diesem Heft.

14 Vgl. Geoff Eley, Forging Democracy. The History of the Left in Europe 1850–2000, Oxford 2000.

15 Vgl. dazu vor allem Christoph Boyer, Zwischen Pfadabhängigkeit und Zäsur. Ost- und westeuropäische Sozialstaaten seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 103-119.

16 Jan Zielonka, Europe as Empire. The Nature of the Enlarged European Union, Oxford 2006, S. 164-189.

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