Am 8. Mai 2015 jährte sich die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und damit das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum 70. Mal. Dieser Termin ist zugleich der 30. Jahrestag eines gedächtnispolitischen Schlüsselereignisses in der bundesrepublikanischen Geschichte, nämlich der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (1920–2015) zum 40. Jahrestag des Kriegsendes vor dem Deutschen Bundestag in Bonn.[1] In Nachdrucken, Ton- und Filmaufnahmen bald millionenfach verbreitet und zumal an Schulen intensiv thematisiert, wurde sie anlässlich Weizsäckers Tod zu Beginn dieses Jahres noch einmal nachhaltig im öffentlichen Bewusstsein verankert: Von der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« bis zum »neuen deutschland«, von der LINKEN bis zur CSU – kaum ein Nachruf verzichtete auf eine Würdigung der Rede, als deren normativer Kern seit jeher die Erklärung des im bundesrepublikanischen Gedächtnisdiskurs traditionell umstrittenen 8. Mai 1945 zum ›Tag der Befreiung‹, ein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit einer anhaltenden Auseinandersetzung mit dem NS-Regime sowie des Gedenkens an dessen Opfer gelten.
Bereits vor 30 Jahren wurde Weizsäckers Ansprache über alle gedächtnis- und tagespolitischen Fronten hinweg nahezu einhellig gelobt und fand auch international positive Resonanz; schon zeitgenössisch war außerdem ihr Aufstieg zum »Musterstück einer neuen ›offiziellen‹ Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit«[2] zu beobachten. In den jüngsten Rückblicken wurde sie schließlich in bemerkenswert stereotyper Wortwahl zu einem kathartischen Wendepunkt stilisiert: Weizsäcker habe hier nicht nur von ›Befreiung‹ gesprochen, sondern im Zuge dessen auch selbst befreiend gewirkt; regelmäßig wurde der Rede dabei eine ›wegweisende‹ oder ›bahnbrechende‹ Wirkung auf die politische Kultur der Bundesrepublik im Allgemeinen und den öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit im Besonderen attestiert.
So ist man sich unter heutigen Deutungseliten offensichtlich einig, dass die Relevanz der Rede weit über das Jahr 1985 hinausweist. Worin diese den damaligen historischen Moment transzendierende Bedeutung besteht, wird jedoch kaum einmal ausbuchstabiert. Vielmehr dominiert hier Metaphorisches und Metaphysisches, wie nicht zuletzt in den Ansprachen beim Staatsakt zu Weizsäckers Tod auffiel: Bundespräsident Joachim Gauck erklärte seinen Vorgänger zum »Pater Patriae«, der sich »mit dieser Rede um das Vaterland verdient gemacht« habe: »Etwas Heilendes war mit ihm in das politische Leben gekommen.«[3] Finanzminister Wolfgang Schäuble hob hervor, Weizsäcker habe »unserem Land geholfen [...], seinen Weg zu finden, ohne dabei missverstanden werden zu können«. Dadurch habe er dazu beigetragen, »uns Deutsche mit uns und die Welt mit Deutschland zu versöhnen«.[4]
Außenminister Frank-Walter Steinmeier würdigte Weizsäckers Rede aus der autobiographischen Perspektive »meiner Generation« und des damaligen »linken Studenten«: »Wir haben uns auf- und ernst genommen gefühlt darin.«[5] Antje Vollmer wiederum konstatierte, die Rede »erlaubte uns, den damals Jüngeren, ganz vorsichtig wieder einzuwandern in das eigene Land, in dem wir gelebt hatten wie Fremde«[6] – und dieses Bild gewinnt noch an Eindrücklichkeit, wenn man bedenkt, dass Vollmer am 8. Mai 1985 nicht an der Veranstaltung im Bundestag teilgenommen hatte, sondern mit weiteren Mitgliedern der Grünen-Fraktion und Überlebenden nach Auschwitz gereist war: »Wir wollten bei diesen verharmlosenden Debatten in der Bundesrepublik nicht mehr dabei sein. Wir wollten einfach weg«,[7] bekannte sie damals vor Ort.
Heilung, Versöhnung, Aufgenommenwerden, Wiedereinwandern ins Vaterland – Bedeutung und Wirkung der Weizsäcker-Rede werden hier in Bilder und Begriffe gefasst, die auf esoterische und therapeutische Sinnwelten verweisen, auf die Erfüllung romantischer Sehnsüchte nach Heimat, Geborgenheit und Ganzheit. Dieser emphatische Resonanzraum kann allerdings nicht darauf zurückgeführt werden, dass die knapp 45-minütige Ansprache von 1985 im Einzelnen besonders innovativ gewesen wäre: »Es waren nicht eigentlich neue Einsichten, die ich vorzutragen hatte«, urteilte Weizsäcker rückblickend selbst.[8] Das bestätigen auch detailreiche Forschungen zur präsidialen Geschichtsrhetorik seit 1949[9] und zur konfliktreichen bundesrepublikanischen Rezeptionsgeschichte des ›8. Mai‹.[10] Zahlreiche Formulierungen und Argumentationsfiguren sind sinngemäß, mitunter wortgleich aus vorhergehenden Politikerreden zum gleichen Anlass und zur Verortung der NS-Vergangenheit in der deutschen Geschichte entnommen. Insofern liest sich die Rede als ein von Weizsäcker arrangiertes ›Best-of‹ historischer Deutungsversuche von Theodor Heuss, Gustav Heinemann, Willy Brandt, Walter Scheel, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Weizsäcker selbst.
Der zu Beginn der Rede über mehrere Absätze entfaltete Topos vom 8. Mai 1945 als einem zutiefst ambivalenten ›deutschen Datum‹, das es zwar nicht zu feiern, retrospektiv jedoch als ›Tag der Befreiung‹ zu werten gelte (vgl. S. 1f.);[11] die Ursächlichkeit des 30. Januar 1933 für den 8. Mai 1945 und darauffolgendes deutsches Leid (vgl. S. 2); ein bei Weizsäcker relativ ausdifferenzierter,[12] aber dennoch nivellierender Opfer- und Leidensbegriff (vgl. S. 2f., 7ff.);[13] ein hitlerzentriertes, in seiner Engführung auf ›wenige‹ Deutsche weit hinter dem damaligen historischen Kenntnisstand und wohl auch hinter dem Wissen des Zeitzeugen zurückbleibendes Täterkonzept (vgl. S. 4-7); das Bild einer gutwillig zum Bösen verführten Bevölkerung bei gleichzeitigem Eingeständnis breiter Mitwisserschaft (vgl. ebd.); die Zurückweisung von ›Kollektivschuld‹ und ›Büßerhemd‹ (vgl. S. 5) bei gleichzeitiger Forderung nach einer ›wahrhaftigen‹ öffentlichen Auseinandersetzung (vgl. S. 1f., S. 13f.) und einer individuellen Gewissensprüfung ›im Stillen‹ (vgl. S. 5); die Chance zur Demokratie, die in der Bundesrepublik erfolgreich genutzt worden sei (vgl. S. 1, S. 8, S. 10f.); schließlich allerlei normative Aufträge, die den Deutschen aus ihrer Vergangenheit erwüchsen (vgl. S. 11, S. 13f.) – keines dieser historischen Argumentationsmuster stammt originär von Weizsäcker.
Gedächtnisdiskurse sind pfadabhängig: Jeweiligen Akteuren und Akteurinnen steht in einem bestimmten historischen Moment ein bestimmtes Repertoire an Material zur Verfügung, mit dem sie mehr oder weniger eigensinnig verfahren können.[14] Dessen war sich Weizsäcker offenbar nicht nur bewusst, er ging überdies sehr bedacht damit um. Auch wenn er selbst behauptet, sich beim Verfassen der Rede an »den konkreten Erfahrungen meiner eigenen Generation« orientiert zu haben,[15] und ein ehemaliger Mitarbeiter beteuert, Weizsäcker habe darin seine »ureigenste[n] Gedanken und Erfahrungen« zum Ausdruck gebracht,[16] sollte der Redetext jenseits solcher Authentifizierungsstrategien als Ergebnis eines planvollen Arbeitsprozesses gelesen werden. Die Ansprache zum 8. Mai 1985 wurde von Weizsäcker und seinem Stab monatelang vorbereitet, wobei auch das Gespräch mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen gesucht und die gedächtnispolitische Debatte analysiert wurde.[17]
Letztere hatte sich seit Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls bekanntlich stark polarisiert. Kohls Diagnose einer »geistig-moralischen Krise« als »Resultat einer seit über einem Jahrzehnt betriebenen Verunsicherung [...] im Verhältnis zu unserer Geschichte« und »unserem nationalen Selbstverständnis«[18] war im linken und linksliberalen Lager von Anfang an auf vehemente Kritik gestoßen: Man fürchtete einen ›Schlussstrich‹ unter die mühsam erkämpfte öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die ja in diesen Jahren vor allem von Graswurzelinitiativen mit dezidiert gesellschafts- und gegenwartskritischem Impetus vorangetrieben wurde. Die Wochen vor dem 8. Mai 1985 waren zudem von der Kontroverse um eine von Kohl initiierte Versöhnungszeremonie mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan beherrscht. Diese sollte auf einem Bitburger Soldatenfriedhof stattfinden, auf dem – wie zwischenzeitlich bekannt geworden war – auch SS-Angehörige lagen. Dass Kohl sein Vorhaben trotz aller Einwände aus dem In- und Ausland am 5. Mai in die Tat umsetzte, skandalisierten Kritikerinnen und Kritiker wie Jürgen Habermas als ultimativen Beweis für eine staatsoffizielle »Entsorgung der Vergangenheit«.[19]
Bis heute wird die Weizsäcker-Rede häufig als korrigierende Reaktion auf die ›Bitburg-Affäre‹ gedeutet. Weizsäcker selbst erkannte darin zwar einen wirkmächtigen Rezeptionshintergrund, wollte seine Ansprache jedoch keineswegs im tagespolitischen Kontext verstanden wissen.[20] Tatsächlich ging es ihm um sehr viel mehr. Schon in seiner Antrittsrede hatte er sich als Präsident des »ganzen deutschen Volk[es]« präsentiert und damit Stellung in aktuellen Diskussionen um eine ›Bi-Nationalisierung‹ bezogen. Daraufhin hatte er »unsere besonderen Schwierigkeiten mit unserem Nationalgefühl« problematisiert. Anders als Kohl führte er diese jedoch nicht auf die ›68er‹ und die sozialliberale Periode zurück, sondern auf »unsere eigene Geschichte mit ihrem Licht und ihrem Schatten«. In einer für Weizsäckers Redestil typischen Mischung aus Strenge und Konzilianz stellte er sodann eine programmatische Forderung auf, die er zugleich als Erlaubnis formulierte: »Wir müssen und wir dürfen uns in der Bundesrepublik zu unserem nationalen Empfinden bekennen, zu unserer Geschichte, zur offenen deutschen Frage [...].«[21]
Ein ›Bekenntnis‹ zu einem gesamtdeutschen, auf eine dereinstige Wiedervereinigung orientierten ›Nationalgefühl‹ und einer als ambivalent charakterisierten deutschen Geschichte war damals alles andere als selbstverständlich. Stets war in der Bundesrepublik über die ›richtige‹ Einordnung der NS-Vergangenheit in die deutsche Geschichte, daraus resultierende gesellschaftspolitische ›Lehren‹ und Selbstverständnisse diskutiert worden; und seit den 1960er-Jahren wurde auch die ›deutsche Frage‹ vermehrt in diesem Kontext thematisiert. Dabei hatte sich eine Konfliktkonstellation herauskristallisiert, deren antagonistische Pole Edgar Wolfrum idealtypisch als ›Normale-Nation-Identität‹ und (etwas verkürzt) ›Holocaust-Identität‹ bezeichnet hat:[22] Wollten die einen über die NS-Vergangenheit hinweg an ›gute‹ Nationalgeschichte anknüpfen, sahen die anderen darin den unhintergehbaren Endpunkt nationaler Unheilsgeschichte. Zugrunde lagen konträre Modi historischer Sinnbildung[23] mit Blick auf die NS-Zeit als »extrem negativ bewertetes Bezugsereignis«.[24] Akzentuierte ein ›kritisches Erzählen‹ diese Vergangenheit als irreversiblen Bruch, über den eben nicht hinweggegangen werden dürfe, um deutsche Geschichte und Identität zu ›normalisieren‹, geißelte ein ›traditionales Erzählen‹ dies als neurotische Negativfixierung und wollte besagten Bruch narrativ einebnen. Hielt man im Zeichen des ›traditionalen Erzählens‹ am Telos der Restauration des Nationalstaates fest, erschien diese Zukunftsvision im Blickwinkel der ›kritischen Erzählung‹ suspekt.
Es war dieser tiefgreifende Antagonismus des bundesrepublikanischen Gedächtnis- und Identitätsdiskurses, in den Weizsäcker am 8. Mai 1985 intervenierte. Ihm sei es, so bilanzierte er rückblickend, um ein »klares Bild über unsere Vergangenheit« gegangen.[25] Bereits im Vorfeld hatte er darauf beharrt, dem Gedenktag einen dezidiert nationalen Rahmen zu verleihen,[26] und diesen steckte er auch zu Beginn seiner Rede explizit ab: »Wir Deutsche begehen diesen Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden.« Von hier aus erklärte er den 8. Mai zu einem »Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte« (S. 1).[27] Ziel dieser ›notwendigen‹ nationalen Zusammenkunft war also eine verbindliche Ordnung und Harmonisierung des kollektiven Selbst- und Geschichtsbildes. In erster Linie ist die Rede daher als eine wohldurchdachte Operation historischer Sinnbildung und nationaler Vergemeinschaftung zu lesen, und hier ist auch nach ihrer ›bahnbrechenden‹ Bedeutung und den Ursachen für ihre überparteilich-emphatische Resonanz zu suchen.
Den 8. Mai 1945 bezeichnete Weizsäcker zunächst analog der ›kritischen Erzählung‹ als Bruch, nämlich als »Ende eines Irrweges deutscher Geschichte« (S. 2). Zugleich habe sich die »Chance zu einem Neubeginn« eröffnet (S. 10). Weizsäcker ließ keinen Zweifel daran, dass diese erfolgreich ergriffen worden sei. Fast ebenso ausführlich wie die nationalsozialistische Verbrechensbilanz kamen bundesrepublikanische Errungenschaften zur Sprache: »An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt. [...] Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit geachteter Staat geworden.« (ebd.) Narratologisch gesprochen betrieb Weizsäcker hier eine ›Enttraumatisierung durch Teleologisierung‹:[28] Unter einem ›Trauma‹ ist dabei ein negatives Ereignis zu verstehen, das sich nicht ohne weiteres in einen bestimmten historischen Sinnhorizont integrieren lässt, hier in denjenigen einer klassischen nationalen Meistererzählung. Die narrative Strategie besteht nun darin, das ›traumatische‹ Ereignis als Negativfolie zu einer als normativ ›richtig‹ gezeichneten Gegenwart zu erzählen, die zugleich als Resultat eines kollektiven ›Lernens aus der Geschichte‹ dargestellt wird.[29] Mit einer solchen Läuterungserzählung kann historische Kontinuität wiederhergestellt, der ›Lernprozess‹ als positives Identifikationsangebot etabliert werden. ›Negatives Gedächtnis‹ wirkt dann nicht mehr störend, sondern gegenwartsaffirmativ; zudem als Mahnung davor, vom beschrittenen ›richtigen‹ Weg abzukommen: »Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren« (S. 5), wie Weizsäcker diesen Zusammenhang formulierte.
»Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.« (S. 5) Mit diesem chassidischen Spruch[30] appellierte der Bundespräsident an die Deutschen, »ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Innern« zu errichten (S. 6). Stellte er dies zunächst in den Dienst einer »Versöhnung« mit dem »jüdischen Volk«, so klingen in seiner Exegese der »jüdische[n] Weisheit« allerlei Implikationen durch, die eher auf den zeitgenössischen Zustand des ›deutschen Volkes‹ bezogen zu sein scheinen: »Die Erinnerung [...] ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung.« (S. 5f.) Die deutsche Teilung wird in Weizsäckers Rede prominent thematisiert, und zwar als metaphysische Kondition: »Das trostlose Ergebnis der Sünde ist immer die Trennung.«[31] (S. 7) Die nationale Erinnerung soll hier nicht nur der Selbstvergewisserung über einen kollektiven Läuterungsprozess dienen, sondern auch einer gesamtdeutschen Identität und dereinstigen Wiederherstellung des verlorenen Nationalstaates: »Die Deutschen sind ein Volk und eine Nation. Wir fühlen uns zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt haben. Auch den 8. Mai haben wir als gemeinsames Schicksal unseres Volkes erlebt, das uns eint. [...] Wir haben die Zuversicht, dass der 8. Mai nicht das letzte Datum unserer Geschichte bleibt, das für alle Deutschen verbindlich ist.« (S. 12)
Nach dieser kühnen Umwandlung einer jüdischen Sentenz in einen postnationalsozialistisch-deutschen Erinnerungsimperativ warf Weizsäcker abschließend »noch einmal einen Blick ins Alte Testament«, um die Exodus-Geschichte[32] herbeizuzitieren und jüdische Metaphysik mit deutscher Gegenwart zu verschmelzen: »Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug ins verheißene Land begann. Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.« Ebenfalls mit Verweis auf das Alte Testament betonte Weizsäcker erneut die »Gefahren des Vergessens«, um schließlich noch einmal zusammenzufassen: »So bedeuten vierzig Jahre stets einen großen Einschnitt.« (S. 13) Die 40-Jahre-Symbolik wird den Zuhörern und Zuhörerinnen in dieser Passage geradezu eingehämmert. Gleich siebenmal hintereinander nennt Weizsäcker die ›vierzig Jahre‹ (vgl. S. 12f.),[33] um den 8. Mai 1985 und seine eigene Ansprache als profunde Zäsur erscheinen zu lassen: Wenn das adressierte – ›auserwählte‹? – ›deutsche Volk‹ diese Zäsur mitvollzieht und Weizsäckers eindringliche Mahnung zur ›Erinnerung‹ beherzigt, dann darf es auf eine ›erlöste‹ Zukunft im ›verheißenen Land‹ hoffen.
»Und so sind alle irgendwie zufrieden, die Vatermörder nicht minder wie die Sucher von Vaterfiguren«,[34] charakterisierte Klaus Naumann Weizsäckers präsidialen Politikstil einmal treffend. Diese eigentümliche, angesichts der damaligen gesellschafts- und gedächtnispolitischen Konfliktkonstellationen überraschende Zufriedenheit spiegelt sich auch in der breiten Zustimmung, die seine Ansprache zum 40. Jahrestag des Kriegsendes fand. Das ›Bahnbrechende‹ und ›Wegweisende‹ war jedoch nicht etwa die darin zwar angekündigte, aber keineswegs eingelöste ›Schonungslosigkeit‹ im Umgang mit historischer ›Wahrheit‹ (vgl. S. 1), sondern die durch Weizsäcker postulierte neue bundesrepublikanische Basiserzählung: positive Identität und Bekenntnis zur Nation nicht trotz, sondern durch Erinnerung an die NS-Verbrechen.
Weizsäcker war nicht der erste bundesrepublikanische Politiker, der seinem Publikum ein solches Narrativ anbot. Aber er war der erste, der es derart konsequent durchdeklinierte und metaphysisch auflud. Unterstützt wurde Letzteres durch einen litaneihaften Redestil,[35] eine eindringliche Kontrast-Metaphorik (Hell/Dunkel, Zerstörung/Heilung, Exil/Rückkehr etc.) und den intensiven Gebrauch bestimmter Semantiken (Verinnerlichung, Befreiung[36]). Die suggestive Kraft dieser Stilmittel offenbart sich darin, dass sie bis in die heutige Rezeption der Rede nachwirken und auch in aktuellen Politikerreden durchklingen: »Und doch konnten wir nach den dunklen Nächten der Diktatur, nach Schuld und Scham und Reue ein taghelles Credo formulieren«, [37] verkündete etwa Joachim Gauck in seiner diesjährigen Rede zum 27. Januar.
Richard von Weizsäcker kann als Begründer des heutigen Erinnerungskonsenses an die NS-Vergangenheit gelten, der sich freilich erst im Zuge weiterer gedächtnispolitischer Debatten und des deutschen nation buildings seit 1990 nachhaltig etablieren und in einer staatlich geförderten ›Gedenkstättenlandschaft‹ materialisieren konnte.[38] Bei näherer Betrachtung erscheint dieser Konsens jedoch durchaus ambivalent, wurde er doch offenbar erst dadurch möglich, dass das radikale Beunruhigungspotential der NS-Vergangenheit in einer teleologischen Meistererzählung aufgehoben wurde, welche in eine national ›erlöste‹ Gegenwart mündet, die sich im Gedenken hauptsächlich ihrer selbst versichert.
[1] <http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2015/02/150202-RvW-Rede-8-Mai-1985.pdf>. Die Zitate im folgenden Text beziehen sich auf diese Fassung.
[2] Jürgen Belgrad u.a., Von unschuldigen Deutschen und ihren Opfern. Über die Wirkungsformen einer ›großen Rede‹: Richard von Weizsäcker und der 8. Mai 1945, in: Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Metamorphosen der Aufklärung. Vernunftkritik heute, Tübingen 1988, S. 174-188, hier S. 174.
[3] Der Bundespräsident: Staatsakt zum Tode von Richard von Weizsäcker, Berlin, 11.2.2015, URL: <http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/02/150211-Staatsakt-RvW.html>.
[4] Abschied von Bundespräsident a. D. Richard von Weizsäcker, Staatsakt im Berliner Dom, Ansprache des Bundesministers der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, Berlin, 11.2.2015, URL: <http://www.protokoll-inland.de/PI/DE/Staatsakte/Staatsbegraebnisse/BisherigeTrauerstaatsakte/Staatsakt_Richard-von-Weizsaecker/staatsakt-weizsaecker.html>.
[5] Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim Staatsakt zum Gedenken an den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Berlin, 11.2.2015, URL: <http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2015/150211-BM_Trauerfeier_Weizsaecker.html>.
[6] Antje Vollmer, Trauerrede für Richard von Weizsäcker, Berlin, 11.2.2015, URL: <http://www.antje-vollmer.de/trauerrede%20r.v.%20wei>.
[7] Die Grünen im Bundestag, Was wir verdrängen, kommt wieder, Bonn 1985, S. 2.
[8] Richard von Weizsäcker, Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 323.
[9] Vgl. Matthias Rensing, Geschichte und Politik in den Reden der deutschen Bundespräsidenten 1949–1984, Münster 1996; Dirk Schmaler, Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit – zwischen Aufklärung und Verdrängung, Frankfurt a.M. 2013.
[10] Vgl. Jan-Holger Kirsch, »Wir haben aus der Geschichte gelernt«. Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln 1999; Jeffrey K. Olick, Genre Memories and Memory Genres: A Dialogical Analysis of May 8, 1945 Commemorations in the Federal Republic of Germany, in: American Sociological Review 64 (1999), S. 381-402; Peter Hurrelbrink, Der 8. Mai 1945 – Befreiung durch Erinnerung. Ein Gedenktag und seine Bedeutung für das politisch-kulturelle Selbstverständnis in Deutschland, Berlin 2005.
[11] Analog hatten zum 30. Jahrestag bereits Scheel und Schmidt argumentiert, allerdings war das öffentliche Interesse am ›8. Mai‹ und dessen offizieller Bewertung damals noch deutlich weniger ausgeprägt. Kurz vor Weizsäckers Rede hatte auch der amtierende Kanzler Kohl anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung des KZ Bergen-Belsen bekräftigt: »Der Zusammenbruch der NS-Diktatur am 8. Mai 1945 wurde für uns Deutsche ein Tag der Befreiung.« Helmut Kohl, Ansprache in Bergen-Belsen zum 40. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen aus den Konzentrationslagern, 21.4.1985, URL: <http://helmut-kohl.kas.de/index.php?menu_sel=17&menu_sel2=&menu_sel3=&menu_sel4=&msg=1344>.
[12] Zu Recht wird oft hervorgehoben, dass Weizsäcker ein breites Spektrum an NS-Opfern würdigte, darunter Sinti und Roma, Homosexuelle, Eugenik- und ›Euthanasie‹-Opfer sowie kommunistische Widerstandskämpfer und -kämpferinnen. Hier intervenierte Weizsäcker in aktuelle Debatten um die Entschädigung ›vergessener Opfer‹ und eine gesellschaftliche Würdigung auch des kommunistischen Widerstandes.
[13] In Weizsäckers Opfer- und Leidenskollektiv kamen auch die »eigenen Landsleute« nicht zu kurz, »die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind« (S. 3). Zu guter Letzt konnte in diesem Rahmen sogar um den deutschen »Verlust all dessen, woran man irrend geglaubt und wofür man gearbeitet hatte« (ebd.), getrauert werden.
[14] Zur ›Pfadabhängigkeit‹ vgl. Olick, Genre Memories (Anm. 10), S. 383. Was einem Redner droht, der sich allzu weit von etablierten Pfaden entfernt, kann am Beispiel der Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der Pogromnacht 1988 studiert werden. Vgl. u.a. Jeffrey Herf, Philipp Jenninger and the Dangers of Speaking Clearly, in: Partisan Review 56 (1989), S. 225-236.
[15] Weizsäcker, Vier Zeiten (Anm. 8), S. 322.
[16] Friedbert Pflüger, Richard von Weizsäcker. Ein Porträt aus der Nähe, Stuttgart 1990, S. 38.
[17] Vgl. ebd., S. 38, S. 105ff.; Weizsäcker, Vier Zeiten (Anm. 8), S. 322.
[18] So Kohl in einer Bundestagsdebatte zur ›Lage der Nation‹ kurz vor Antritt seiner Kanzlerschaft. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 111. Sitzung, 9.9.1982, Plenarprotokoll 9/111, S. 6770.
[19] Jürgen Habermas, Die Entsorgung der Vergangenheit, in: ZEIT, 17.5.1985.
[20] »Es gibt keinen Zusammenhang zwischen jenem Anlass und der Tonart meiner Ansprache.« Gespräch mit Richard von Weizsäcker. Wort und Wirkung der 8. Mai-Rede [Norbert Seitz, 2000], in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 48 (2001) H. 1-2, S. 60-65, hier S. 60.
[21] Antrittsrede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner Vereidigung im Deutschen Bundestag in Bonn, 1.7.1984, URL: <http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1984/07/19840701_Rede.html>, meine Hervorhebungen.
[22] Vgl. Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999, S. 340ff., S. 355.
[23] Vgl. Jörn Rüsen, Die vier Typen historischen Erzählens, in: ders., Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1990, S. 153-230.
[24] M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des »Großdeutschen Reiches« [1989], in: ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 229-248, hier S. 229.
[25] Gespräch mit Richard von Weizsäcker (Anm. 20), S. 60f.
[26] Vgl. ebd., S. 61; Weizsäcker, Vier Zeiten (Anm. 8), S. 317; Pflüger, Richard von Weizsäcker (Anm. 16), S. 106ff. Kanzler Kohl hatte dagegen ursprünglich geplant, den 8. Mai international zu gestalten.
[27] Die Hervorhebungen hier und im Folgenden stammen von mir.
[28] Vgl. dazu Jörn Rüsen, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln 2001, S. 152ff., v.a. S. 171ff.
[29] Vgl. ebd., S. 174.
[30] Vgl. dazu etwa Karl Erich Grözinger, Gedenken, Erinnern und Fest als Wege zur Erlösung des Menschen und zur Transzendenzerfahrung im Judentum, in: Bernhard Casper/Walter Sparn (Hg.), Alltag und Transzendenz. Studien zur religiösen Erfahrung in der gegenwärtigen Gesellschaft, Freiburg i.Br. 1992, S. 19-49.
[31] Hier zitierte Weizsäcker aus einer Predigt Kardinal Meisners in Ost-Berlin.
[32] Zur biblischen Exodus-Erzählung als »Erinnerungsfigur« und »Identitätsstiftungsakt« der jüdischen Religion und zum Deuteronomium als »Paradigma kultureller Mnemotechnik« vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 200ff., S. 212-228.
[33] Hier wäre einmal danach zu fragen, inwiefern die Weizsäcker-Rede die Assmann’sche Gedächtnistheorie mitgeprägt hat, in der die ›40 Jahre‹ bekanntlich den Übergang vom ›kommunikativen‹ zum ›kulturellen‹ Gedächtnis markieren, wobei die Rede gelegentlich als ›Beweis‹ herangezogen wird. Vgl. z.B. ebd., S. 50f.
[34] Klaus Naumann, So viel Mitte war nie. Richard von Weizsäcker, Konformist und Außenseiter, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 39 (1994) H. 5, S. 613-620, hier S. 614.
[35] Dazu und auch zur Lichtmetaphorik vgl. Belgrad u.a., Von unschuldigen Deutschen (Anm. 2).
[36] Der Text enthält 28 Begriffe, die auf innere Zustände und Prozesse der Verinnerlichung verweisen (inkl. Erinnerung/erinnern); 19-mal werden Wörter gebraucht, die das Partikel ›frei‹ enthalten.
[37] Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, Berlin, 27.1.2015, URL: <http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150127-Bundestag-Gedenken.html>, meine Hervorhebungen.
[38] Vgl. dazu ausführlicher Cornelia Siebeck, »… und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«. Postnationalsozialistische Identitäts- und Gedenkstättendiskurse in der Bundesrepublik vor und nach 1990, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 16 (2015): Gedenkstätten und Geschichtspolitik, S. 29-41.