Stéphane Hessels Streitschrift „Empört Euch!“ und die französische Geschichtspolitik

Anmerkungen

 

Lichtinstallation in Berlin, zum Erscheinen der deutschen Ausgabe von Stéphane Hessels Schrift
(Foto: Ullstein Buchverlage)

1. Gegen Indifferenz und Selbstzufriedenheit
 

„Empört Euch!“ war Mitte Februar 2011 für die Dauer von wenigen Minuten in Lichtbuchstaben an verschiedenen Gebäuden Berlins zu lesen, vom Kurfürstendamm bis an den Potsdamer Platz. Die Aufforderung war mehr als ein Werbegag des Ullstein-Verlags für seinen gleichnamigen Bestseller, der wohl auch in Deutschland ohne diese Publikumsaktion per „fahrender Lichtinstallation“ ausgekommen wäre.1 Es handelt sich bei der kleinen Schrift aus der Feder des 93-jährigen Stéphane Hessel um einen Import aus Frankreich, dem Land, dem hierzulande eine große, wenn nicht die Empörungstradition zugeschrieben wird – kaum ein deutscher Feuilletonartikel oder Radiokommentar, der zum Verständnis des Erfolgs von Hessels Bändchen in Frankreich denn nicht auch auf diese Empörungsgeschichte verweist; gelegentlich wird sogar bis zur Fronde im 17. Jahrhundert zurückgegangen.

Hessels Manifest gehört zweifelsohne in die Geschichte intellektueller Interventionen, deren Raum in Frankreich historisch gewachsen ist.2 Aber der Erfolg der Schrift mit ihrer emotional-antikapitalistischen Stoßrichtung, die inzwischen in 22 Sprachen übersetzt wurde, ist international. Zur Erklärung mag der Kontext wachsender zivilgesellschaftlicher Protestbewegungen angeführt werden. Inzwischen ist auch von einer Manifest-Welle im Zeitalter rasanter Globalisierung und in Reaktion auf eine grundlegende gesellschaftliche Umbruchstimmung die Rede. In jedem Fall aber ist das Vermögen der Schrift, im internationalen Raum Ohnmachtsgefühle angesichts der Globalisierung zu kanalisieren, der einleuchtend-aufrüttelnden und kontextunabhängigen Anwendungsformel „Empört Euch!“ geschuldet.

Empörung, Widerstand, ein „Aufstand der Friedfertigen“ – aber wogegen? Hessel nennt vor allem: die ungezügelte Macht der Finanzmärkte und die Schere zwischen Arm und Reich, die ökologische Katastrophe, die Lage der Menschenrechte, die demütigende Situation der Palästinenser (bzw. die Politik Israels). Offen und biblisch ist seine Formulierung: „Suchet, und ihr werdet finden!“ Empörungsmotive gebe es überall. Aufgefordert von „Le Monde“, die den Appell aufnahm, fanden die Pariser Intellektuellen Anfang 2011 denn auch viele und sehr unterschiedliche Motive: Angefangen vom patriarchalen Autismus der aktuellen französischen Regierung, die den Regisseur Cédric Klapisch empört, bis hin zur bleibenden Ungerechtigkeit gegenüber Frauen, die die Anthropologin Françoise Héritier, Honorarprofessorin am Collège de France, kritisiert.3

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Mehr noch als um die einzelnen Motive geht es Hessel um das Grundsätzliche, die Wiederbelebung eines kritischen Engagements, eines rebellischen Geistes, der die postmodern-defätistische Selbstzufriedenheit im Zentrum der Zivilgesellschaften ablösen solle: „Ich wünsche allen, jedem Einzelnen von euch, ein eigenes Empörungsmotiv“, ruft Hessel seinen Lesern zu. „Das ist kostbar. Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Naziwahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert.“ (S. 10) Der Aufruf des zornigen alten Mannes mag naiv anmuten – und dennoch lässt sich das Phänomen Hessel nicht mit der Formel vom „Gutmenschentum“ erledigen. Mit seiner im März 2011 erschienenen Kampfschrift „Engagiert Euch!“ hat Hessel nun zudem die Diskussion verlängert, seine Forderungen inhaltlich präzisiert und den Übergang von der Kritik zur Tat gefordert.4

Hessels Botschaft ist biographisch und persönlich verbürgt. Stéphane Hessel ist eine beeindruckende Persönlichkeit, ein veritabler homme de lettres. Er zitiert aus dem Stegreif Verlaine- oder Hölderlin-Verse und ist durchdrungen vom Glauben an den Menschen;5 kein Pariser Medienintellektueller, sondern ein Humanist durch und durch. Sein charismatischer Optimismus ist ansteckend, und aus dem Mund eines Widerstandskämpfers erhält die Aufforderung zum Widerstand zusätzlich Autorität.

 

Stéphane Hessel
(© Bruno Kehrein, Grupello-Verlag)

Hessel wurde 1917 in Berlin als Sohn des Übersetzers Franz Hessel und der Journalistin Helen Grund geboren.6 Ab 1924 lebte die Mutter mit ihren Söhnen und dem französischen Künstler Henri-Pierre Roché in Paris. Die Familienverhältnisse hat François Truffaut in seinem Film „Jules et Jim“ (1962) verewigt. Hessel wurde 1939 französischer Staatsbürger, trat in die Résistance ein und war mit de Gaulle in London. Bei seiner Rückkehr nach Frankreich wurde er gefangengenommen, gefoltert und nach Buchenwald deportiert. Der Sohn seines damaligen Kameraden Eugen Kogon, dem Hessel durch die Organisation eines Nummerntauschs sein Überleben im KZ verdankt, ist heute der deutsche Übersetzer der kleinen Streitschrift.

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Auch das Einklagen universeller Menschenrechte ist bei Hessel keine bloße Rhetorik. Nach 1945 war Hessel, der Anhänger von Mendès-France und später von Mitterrand, als Kabinettssekretär des UN-Vizegeneralsekretärs Henri Laugier 1948 Mitunterzeichner der Charta der Menschenrechte. Anschließend bereiste er im Auftrag der UNO und des französischen Außenministeriums als Diplomat die Welt; im Jahr 1981 verlieh ihm François Mitterrand den Ehren-titel „Ambassadeur de France“. Immer wieder ist Hessel persönlich für die Rechte anderer eingetreten, Obdachloser oder Sans-Papiers, und hat sich engagiert. Im Jahr 2002 gründete er gemeinsam mit Michel Rocard das Collegium Internationale, in dem ehemalige Staatschefs und Intellektuelle zusammenkommen, und bei den Regionalwahlen 2010 ließ er sich als „symbolischer Kandidat“ für die Liste Europe Écologie aufstellen.

Regelmäßig diskutiert Hessel seine Botschaft von Menschlichkeit und Empörung mit Schülern. Sein vehementes Eintreten für die Palästinenser bis hin zum kürzlich geäußerten Boykottaufruf israelischer Produkte aus den besetzten Gebieten hatte ihm bereits vorher viel Kritik eingebracht und zeitigt nun – in der Rezeption des Büchleins – in Frankreich skandalträchtige Folgen, angefangen von den Antisemitismus-Vorwürfen des CNRS-Forschers Pierre André Taguieff bis hin zur Absage einer Veranstaltung im Februar 2011 durch die École Normale Supérieure.

2. Die Résistance als Gründungsmythos eines neuen Frankreich
 

Die kleine Schrift „Empört Euch!“ fasst viel Bekanntes zusammen. Neu ist die rigorose Grundsätzlichkeit des Aufrufs zu einem „friedlichen Aufstand“, überraschend vor allem seine historische Einbettung in den Kontext der Résistance. Auf den ersten Blick mag der Bezug, der sich wie ein roter Faden durch den Text zieht, nostalgisch anmuten. Hessel setzt mit einem autoritativen Argument ein: „93 Jahre. Das ist schon wie die allerletzte Etappe“, um daran anschließend das Programm des Nationalen Widerstandsrats als Grundlage seines Engagements anzuführen. Mehr noch: Er macht das Programm, das die Basis des französischen Sozialstaats nach 1945 war, nun zum Fundament seiner Aufforderung zum zivilen Widerstand. Es seien die Grundsätze und Werte des am 15. März 1944 vom Nationalen Widerstandsrat – als einer Art Untergrundparlament – verabschiedeten Texts, zu denen die aktuelle Politik zurückkehren müsse; Grundsätze wie Solidarität, Gemeinwohl – und nicht zuletzt die soziale Sicherung des würdevollen Lebens aller (S. 7ff.).

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In der Tat kann von einer sozialen Grundsicherung eines würdigen Lebens, staatlichem Besitz an Energie, Strom und Gas, einer unabhängigen Presse oder dem Kampf um das Ideal der republikanischen Schule in Frankreich nicht (mehr) die Rede sein. Dennoch überrascht der Bezug. Warum zitiert Hessel für seine Aufforderung zu zivilem Widerstand die Résistance herbei? Die Begründung erschöpft sich nicht im Biographischen. Denn – und das haben die Feuilletons übersehen – diese Streitschrift ist auch Teil einer öffentlichen Debatte um Sarkozys Frankreich und um den Anspruch auf die Résistance-Erinnerung, die bereits mehrere Etappen hinter sich hat.7

Der Bezug auf die Résistance ist Teil der präsidialen Selbstdarstellung Nicolas Sarkozys, und Hessel reagiert mit seiner Schrift in vieler Hinsicht auch auf diese symbolische Vereinnahmung. In der Präsidentschaftskampagne hatte der Kandidat zuerst einen, wenn nicht den zentralen Erinnerungsort der Résistance besucht: die Hochebene von Glières in der Haute Savoie. Die Haute Savoie war ein Zentrum des Maquis gewesen, die Hochebene ein wichtiger strategischer Punkt für den Abwurf von Waffen und Material sowie dann auch eine Art Rückzugslager.8 Am 4. Mai 2007 gedachte Sarkozy der Maquisards, die am 26. März 1944 von der 157. deutschen Gebirgsdivision getötet wurden, als diese Glières einnahm. Nicht zuletzt aufgrund der BBC-Übertragung war der Ort bald ein Symbol der Résistance geworden: „In der Hochebene von Glieres“, hatte Maurice Schuman in seiner Sendung am 8. April 1944 verkündet, „haben 12.000 (Sie hören richtig: 12.000) Deutsche nach 14 Tagen (Sie hören richtig: nach 14 Tagen) über 500 Franzosen gesiegt, die sich, da sie sich nicht absetzen konnten, festgebissen haben, anstatt sich zu ergeben.“9

An diesen Ort kehrte Sarkozy nach der Präsidentschaftskampagne, wie angekündigt, auch in den Jahren 2008, 2009 und 2010 zurück, um dem französischen Widerstandsgeist als Instrument im Kampf gegen „Fatalität und Ohnmacht“ zu huldigen.10 Und er hat seine Politik in einer viel diskutierten Rede in Versailles vom 22. Juni 2009 direkt in die Nachfolge des Programms des Nationalen Widerstandsrats gestellt. Sarkozy tut dies im Rahmen einer Wiederbelebungsstrategie des nationalen Selbstbewusstseins, in der bewussten Abkehr von Schulddiskussionen und Reue-Rhetorik. Er betont, dass der Nationale Widerstandsrat, in dem seit 1943 die verschiedenen Résistance-Bewegungen und Gruppen vereint waren, alle politischen Kräfte des Landes in dessen dunkelster Stunde in einem „sozialen Pakt“ zusammengeschweißt habe, um die „Wiedergeburt Frankreichs“ zu ermöglichen. Ihm gehe es um die Versöhnung der ökonomischen Logik mit den republikanischen Ansprüchen: „Und dieser Traum“, so der Präsident, „kommt, warum sollte man dies nicht deutlich sagen, vom Nationalen Widerstandsrat.“11

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Hessels Schrift ist der Protest des engagierten Zeitzeugen gegen die Vereinnahmung durch eine Politik, die wichtige Grundlagen dieses Pakts zerstört hat. Und sie ist Teil einer größeren Bewegung. Bereits am 8. März 2004 hatten die Veteranen der Résistance und der Kampfverbände des Freien Frankreich aus Anlass des 60. Jahrestags der Verkündung des Programms die Umsetzung seiner wichtigsten Positionen gefordert. Der „Aufruf der Widerstandskämpfer“ enthält in Kurzform bereits alle Punkte von Hessels späterer Schrift.12 Unter Schirmherrschaft von Stéphane Hessel, Raymond Aubrac und dem Schriftsteller John Berger ist dann aus Zusammenkünften auf der Hochebene von Glières 2007 und 2008 der Verein „Citoyens résistants d’hier et d’aujourd’hui“ entstanden, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, ausgehend von den Grundwerten des Nationalen Widerstandsrats ein Gesellschaftsprojekt für das 21. Jahrhundert zu erarbeiten.

Inzwischen ist aus dem Verein ein Netzwerk hervorgegangen. Seit November 2010 bilden sich in Frankreich lokale Gruppen, die sich weiterhin einmal im Jahr auf der Hochebene zur Jahrestagung „Paroles de Résistance“ versammeln. Ein Teil des Buchs „Empört Euch!“ ist der Text einer improvisierten Rede, die Hessel auf dem Plateau des Glières während des Jahrestreffens im Mai 2009 gehalten hat. Auf Initiative des Verlags Indigène in Montpellier wurde aus der Rede das Buch. Ergänzt durch mehrere Interviews mit Hessel und eine abschließende Buchredaktion entstand die kleine, kaum 30 Seiten umfassende Streitschrift, der man das Moment der Rede deutlich anmerkt.13

Die Auseinandersetzung um das Programm mit dem bezeichnenden Titel „Les jours heureux“ hat diesem zu neuer Aktualität verholfen. In einem Buch hat der Verein unter Leitung des Journalisten Jean-Luc Porquet („Le Canard Enchaîné“) den Text im letzten Jahr neu abgedruckt und wichtige Aufsätze zu einzelnen Aspekten des Programms und der Zukunftsfähigkeit des Gesamtentwurfs versammelt.14 Dass die Utopie der „glücklichen Tage“ vom Frühling 1944 in das 21. Jahrhundert weitergetragen werden kann, mag bezweifelt werden. Die Debatte um den Text aber ist ein Symptom der sozialen Krise Frankreichs und macht aus dem Programm ein Manifest für die Geburt eines neuen Frankreich aus dem Geist der Résistance.

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3. Geschichte à la carte
 

So einleuchtend das Engagement der Widerstandskämpfer und ihr Hinweis auf die Ideen und Utopien der Résistance ist, so schwer verständlich erscheint das Interesse Sarkozys an einem Text, dessen kommunistische Einflüsse doch unverkennbar sind. Der zunächst erstaunliche, weil politisch konträre Bezug passt allerdings zu den privilegierten Beziehungen, die dieser französische Präsident zur Geschichte unterhält. Insgesamt zeichnen sich Sarkozys Rekurse durch ein großes synthetisches Vermögen aus, hinter dem eine politische Absicht steht. Mit der Kombination widersprüchlicher Gedenkreferenzen – Bezüge auf linke Positionen sind nicht selten – und dem Angebot unterschiedlicher Historiographien will Sarkozy die traditionellen Frontstellungen in Bezug auf die französische Geschichte durchbrechen, nationale Einheit und Identität suggerieren. Das Ergebnis ist jedoch absolute Beliebigkeit. Es entsteht eine „Geschichte Frankreichs à la carte“.15

Von Beginn an hat Sarkozy der Geschichte einen besonderen Platz in seiner Präsidentschaft zugewiesen. Die zahlreichen Bezüge auf die großen Stunden der französischen Geschichte haben schon während der Kampagne eine herausragende Rolle gespielt, wie die Reise nach Glières zeigt. Sichtbar wurde auch bald Sarkozys Sinn für die Inszenierung emotionaler Bilder. Der Kommemorations-Gang des zukünftigen Präsidenten allein über die schneeverwehte Hochebene zeugt davon. Ebenso war die Verlesung des Abschiedsbriefs von Guy Môquet mehr eine pathetische Inszenierung denn eine pädagogische Maßnahme: Als frisch gewählter Präsident hatte Sarkozy im Mai 2007 darum gebeten, den Abschiedsbrief des kommunistischen jugendlichen Widerstandskämpfers Môquet am 22. Oktober, dem Tag von dessen Ermordung, in den Oberschulen Frankreichs vorzulesen. Darüber hinaus verlegte der Präsident die Feiern zum Jahrestag der Befreiung (8. Mai und 11. November) von Paris in die Provinz, und last but not least kündigte er 2009 die Gründung eines Museums zur Geschichte Frankreichs an, dessen wissenschaftliche Vorbereitungskommission unter großen Diskussionen im Januar 2011 ihre Arbeit aufgenommen hat.

Die Frage nach der Vereinnahmung der Geschichte hat angesichts dieses Debattenklimas eine grundsätzliche Pointe. Als Argument gehörte Geschichte einerseits schon immer zu Herrschaftsdarstellungen und war Bestandteil staatlicher Legitimationsstrategien. Auch in Demokratien sind erinnerungspolitische Interventionen ein wichtiges Element öffentlicher Selbstverständigung. Andererseits sind staatlich verordnete Geschichtsoptiken und instrumentalisierende Darstellungen von einzelnen Akteuren oder Gruppen grundsätzlich problematisch geworden. Insbesondere die Erinnerungsgesetze in Frankreich haben seit den 1990er-Jahren ein Klima des Misstrauens und der erhöhten Sensibilität geschaffen und schließlich den Widerstand der Historiker hervorgerufen, der sich im Kontext des Kolonialismus-Gesetzes vom 23. Februar 2005 mit der Gründung des „Comité de vigilance face aux usages publics de l’histoire“ (Gérard Noiriel, Michèle Riot-Sarcey, Nicolas Offenstadt) und des internationalen Vereins „Liberté pour l’histoire“ (Pierre Nora, Mona Ozouf) unter Leitung von René Rémond formierte.16

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Frankreich mag mit seinen Erinnerungsgesetzen und der starken Reaktion der Historiker ein Extrembeispiel sein; die Zunahme politischer Interventionen und gesetzlicher Regelungen zur Sicherung einer bestimmten Erinnerung ist aber durchaus ein europäisches Phänomen.17 Und die Auseinandersetzung mit der symbolischen Vereinnahmung der Geschichte ist ein Signum des Zeitalters des Präsentismus (François Hartog), in dem wir seit der Gedächtniswelle der 1980er-Jahre leben und in deren Folge die Erinnerung zu einer ethischen Grundlage der europäischen Gesellschaften geworden ist. Wenn die Gegenwart festlegt, was die Vergangenheit (gewesen) ist oder sein soll und die Geschichte zum Instrument des Gedenkens wird, müssen sich die Historiker auf den Plan gerufen fühlen. Ihre Aufgabe besteht in der Klärung der spannungsreichen Beziehungen zwischen Gedächtnis und Geschichte, am Ende des „Zeitalters des Gedenkens“ (Pierre Nora). Gründe zur Empörung oder gar für ein Engagement finden sich für die Geschichtswissenschaft nicht allein in der Vergangenheit, sondern auch und insbesondere in der Gegenwart.18 Insofern hat Hessels Manifest neben seiner politischen zugleich eine fachspezifische Relevanz.

Anmerkungen: 

1 Stéphane Hessel, Empört Euch! Übersetzt von Michael Kogon, Berlin 2011; frz. Originalausg.: Indignez-vous!, Montpellier 2010. Beide Ausgaben sind inzwischen in etlichen Auflagen erschienen.

2 Vgl. etwa Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen, 1898–2001. Geburt – Begriff – Grabmal, Berlin 2010 .

3 Vgl. Le Monde, 1./2./3.1.2011.

4 Stéphane Hessel, Engagez-vous. Entretiens avec Gilles Vanderpooten, La Tour d’Aigues 2011.

5 Vgl. ders., Ô ma mémoire. Gedichte, die mir unentbehrlich sind, Düsseldorf 2010.

6 Vgl. auch ders., Tanz mit dem Jahrhundert. Erinnerungen, Zürich 1998, 3. Aufl. 2011.

7 Siehe neuerdings etwa die Bilanz von Henry Rousso, Frankreich und die „dunklen Jahre“. Das Regime von Vichy in Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2010.

8 Henri Noguères, Histoire de la résistance en France. De 1940 à 1945, Bd. 4, Paris 1976, S. 422-436; François-Georges Dreyfus, Histoire de la résistance, 1940–1945, Paris 1996, S. 445ff.

9 Henri Amouroux, Un printemps de mort et d’espoir, novembre 1943 – 6 juin 1944, Paris 1985, S. 290, Anm. 1 (meine Übersetzung, A.K.).

10 Vgl. zum Besuch im April 2009: <http://www.lefigaro.fr/politique/2009/04/30/01002-20090430ARTFIG00476-aux-glieres-sarkozy-loue-l-esprit-de-resistance-.php>.

11 Der Text der Rede findet sich unter <http://rakotoarison.over-blog.com/article-32984247.html>.

12 Unterzeichnet ist der Aufruf von Frankreichs bekanntesten Widerstandskämpfern: Lucie Aubrac, Raymond Aubrac, Henri Bartoli, Daniel Cordier, Philippe Dechartre, Georges Guingouin, Stéphane Hessel, Maurice Kriegel-Valrimont, Lise London, Georges Séguy, Germaine Tillion, Jean-Pierre Vernant und Maurice Voutey. Siehe <http://www.citoyens-resistants.fr/IMG/pdf/apppel_des_resistants_2004.pdf>.

13 Vgl. die Informationen der Verleger: <http://www.france24.com/fr/20101125-indignez-vous-stephane-hessel-100-000-exemplaires-vendus-indigene-editions>.

14 Citoyens résistants d’hier et d’aujourd’hui, Les jours heureux. Le programme du conseil national de la résistance de mars 1944. Comment il a été écrit et mis en œuvre, et comment Sarkozy accélère sa démolition, Paris 2010.

15 So das Resümee des französischen Zeithistorikers Patrick Garcia, Nos présidents face à l’histoire. Entretien avec Thomas Wieder, in: Le Monde, 21.3.2009.

16 Für einen Überblick zu den Gesetzen und den Historiker-Diskussionen vgl. La Documentation française 325 (November 2006): L’État et les mémoires.

17 Vgl. etwa Winfried Schulze, Erinnerung per Gesetz oder „Freiheit für die Geschichte“?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59 (2008), S. 364-381.

18 Ein neueres Beispiel aus dem deutschen Kontext wäre die Initiative der Bundesregierung, einen „Gedenktag für die Opfer von Vertreibung“ zu schaffen und sich dabei auf die „Charta der Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950 zu beziehen – was im Februar 2011 breiten Widerspruch von Historikerinnen und Historikern ausgelöst hat. Siehe <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=1468&pn=texte>.

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