2. Leben und Sterben in Gajsin im Frühjahr 1919
3. Volynec - der Werdegang eines Atamanen
4. Die Praxis der Gewalt unter Volynec’ Führung
5. Fazit
Welchen Sinn haben physische Gewalthandlungen im Kontext staatsferner Räume? Welche Bedeutung erhält die Gewalt dort für Vergemeinschaftung, Organisation, Identität von Gruppen sowie für die Autorität ihrer Anführer? Wie verhalten sich Menschen unter Bedingungen, in denen übergreifende staatliche Herrschaftsstrukturen ausfallen und die überkommene Alltagskultur keine Antworten mehr auf überlebenswichtige Fragen zu geben vermag; wenn unter den Bedingungen von Staatsferne physische Gewalt konkrete Bedrohung, aber auch zentrale Handlungsressource wird?1 Diesen Fragen möchte ich im Folgenden anhand eines Beispiels aus dem Russischen Bürgerkrieg nachgehen.
Unter Staatsferne wird eine Situation in einem sozialen Raum verstanden, in der keine über ein Gewaltmonopol gebietende Staatsgewalt existiert. Damit ist nicht unbedingt das völlige Fehlen staatlicher Institutionen gemeint, sondern vor allem ihre Schwäche, aus der heraus Vertreter des Staates nur Konkurrenten um die Macht, aber keine Machthaber sind. Unabhängig davon, ob der Staat völlig ausfällt oder zu schwach ist, das Gewaltmonopol durchzusetzen - in jedem Fall fordert diese Situation von den in ihr lebenden Menschen, mit Gewalttaten rechnen zu müssen. Sie eröffnet andererseits aber auch die Chance, mit Gewalt eigene Interessen durchsetzen zu können.
Staatsferne kann verschiedene Formen annehmen. Wo sie den gewöhnlichen modus vivendi darstellt, ist Gewalt meist traditionell und lokal reguliert.2 Wo sich Staatsferne aber in kurzer Zeit erheblich vergrößert, können auch Tradition und lokale Regulierung keine Stabilisierung mehr bewirken. Wo sie durch den Zusammenbruch staatlicher Strukturen als neue Situation auftritt, kann zumeist nur die eigene Stärke die eigenen Interessen oder sogar das Überleben sichern. In beiden Fällen ist es wahrscheinlich, dass Gewalt ins Zentrum des Handelns, Deutens und Denkens ganzer Gesellschaften rückt. Hierfür ist der Russische Bürgerkrieg ein prominenter Fall.
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Als analytische Kategorie spielte Gewalt in der Geschichtswissenschaft lange Zeit - und erstaunlicherweise - nur eine untergeordnete Rolle. Das änderte sich mit der zunehmenden Durchsetzung kulturgeschichtlicher Fragestellungen und Interpretationsansätze.3 Auch in der neueren Soziologie sind Bestrebungen zu beobachten, nicht nur Gründe, Ursachen und Folgen von Gewalt in den Blick zu nehmen, sondern ebenso die Gewalt selbst - zum einen, weil Gewalt ein Teil jeder Kultur ist, zum anderen, weil Gewalt eine eigene Dynamik entfalten kann.4 Will man Gewalt in diesem Sinne verstehen und etwas aus ihr lernen, dann muss man sie möglichst „dicht“ beschreiben. Diese in Anlehnung an Clifford Geertz gewählte Formulierung5 sollte nicht als methodischer Ausweis, sondern eher als Metapher verstanden werden - es geht darum, Quellen heranzuziehen und eingehend zu interpretieren, die Gewalthandlungen und ihre Kontexte möglichst detailliert aufscheinen lassen. Anders als etwa die Stalinismus-Forschung, in der die Methoden einer „New Cultural History“ zunehmend zur Selbstverständlichkeit werden,6 verläuft die Erforschung des Russischen Bürgerkriegs nach wie vor in eher traditionellen Bahnen. Neuere Dokumentensammlungen,7 aber auch längst zugängliche Quellenbestände8 erlauben indes dichte Beschreibungen von Gewalt.
Aus heutiger Sicht scheinbar irrationale, vermeintlich unerklärliche und unfassbare Gewalt kann sehr wohl einen Sinn (gehabt) haben, der sich freilich erst dann erschließt, wenn man berücksichtigt, dass in manchen Situationen andere als die gewöhnlichen Handlungslogiken und Wertmaßstäbe gelten, und man versucht, die Perspektive der Täter zu verstehen (wobei „Verstehen“ hier als historisch-kritische Einordnung zeitgenössischer Sinnkonzepte gemeint ist - eine Einordnung, die das elementare Erschrecken über bestimmte Gewalttaten nicht eliminieren sollte und deshalb eine besondere Sensibilität der historiographischen Darstellung erfordert). Gewalt richtet sich nicht nur instrumentell gegen Feinde; als zentrales Element einer Handlungskultur kann sie sich auch sinnhaft auf die eigene Gemeinschaft beziehen.9 Um dies zeigen zu können, ist es notwendig, die komplexen Umstände zu untersuchen, in denen Menschen Gewalttaten begehen, die sich aus den sozialen Beziehungen dieser Menschen zu Gleichen, Ungleichen, Eigenen und Anderen ableiten.10
Oft ist die wichtigste Eigenschaft der Opfer von Gewalt ihre Markierbarkeit als Andere; Gewaltbereitschaft sucht sich Opfer. So sagt uns die Tatsache, wer Opfer von Gewalt wurde, unter Umständen nichts oder wenig über die Gründe dieser Gewalt. Will man diese verstehen und erklären, muss man sich mehr mit Tätern als mit Opfern beschäftigen.11 Die Täter wiederum handeln nicht nur in sozialen Kontexten, sondern in Gemeinschaften. Staatliche oder quasi-staatliche Strukturen können auch in staatsfernen Räumen bestehen - dies ist während des Bürgerkriegs in der Ukraine zweifellos der Fall gewesen, als Bolschewiki und „weiße“ Bewegung jeweils versuchten, Herrschaftsterritorien zu bilden. Aber selbst im Falle rot- oder weißgardistischer Truppen hat man es eher mit nichtstaatlichem Handeln zu tun, da die Einheiten oft auftraten wie marodierende Landsknechthaufen.12 Das gilt ebenso für die Truppen der ukrainischen Nationalisten und erst recht für die „grünen“ Bauernarmeen und Banden, die dem Russischen Bürgerkrieg sein eigentliches Gesicht verliehen.13 Diese Kleinarmeen waren einfach strukturiert und meistens nach dem Prinzip von Anführer und Gefolgschaft organisiert. Die Untersuchung folgt exemplarisch der Karriere und den Aktivitäten eines in vielerlei Hinsicht typischen „Atamanen“14 des Russischen Bürgerkriegs.
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1. Der Kontext:
Gewalt und Dauerpogrom im Russischen Bürgerkrieg
Der Russische Bürgerkrieg nimmt hinsichtlich Umfang, Opferzahlen und Intensität der Gewalt eine Spitzenstellung unter vergleichbaren Konflikten in der Geschichte ein. Bürgerkriege zeichnen sich generell durch ein vergleichsweise hohes Gewaltniveau aus. Als ursächlich dafür wird vor allem das „security dilemma“ angesehen, in dem sich die Kriegsparteien befinden: Es gibt keine übergreifenden Normen, die den Konflikt regulieren, wie es etwa bei zwischenstaatlichen Kriegen zumeist der Fall ist. Im Gegensatz zu letzteren sind die Kriegsziele in Bürgerkriegen auch nicht begrenzbar: Während Staaten um eine Insel oder eine Provinz einen Krieg führen können, so gehen Bürgerkriege meistens um alles, sie haben im wahrsten Sinne des Wortes totalen Charakter. Deshalb existieren - außer dem Exil - auch keine sicheren Rückzugsräume für die Geschlagenen nach einer möglichen Beendigung des Konflikts.15 Kriege zwischen Staaten gehorchen dagegen zumeist Regeln und zielen nicht auf die vollständige Vernichtung des Gegners ab.16
Im Falle des Russischen Bürgerkriegs kommen noch andere Faktoren hinzu: ethnische Vielfalt, kulturelle Differenz, Radikalität der Ideologien.17 Die Ukraine nahm dabei in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Die ethnische Vielfalt war dort besonders ausgeprägt. Neben Ukrainern und Russen bildeten Kosaken, Polen, Deutsche, Armenier, Griechen, Bulgaren starke Minderheiten - in den westlichen Gouvernements allen voran auch Juden.18 Ethnische Vielfalt muss als solche nicht konfliktträchtig sein. Hier aber kam hinzu, dass die ethnischen Gruppen oft geschlossen siedelten und ihnen auch bestimmte ökonomische Sphären und Verfügungsgewalten über ökonomische Ressourcen zugeschrieben werden konnten19 - materielle Ungleichheit konnte somit leicht auf ethnische oder auch religiöse Grenzen übertragen werden.
Eine weitere Besonderheit ergab sich aus den geographischen Bedingungen. Die Anhänger der Konterrevolution hatten sich an die Peripherie des Reichs zurückgezogen. Vor allem das Gebiet der Donkosaken war zu Beginn des Bürgerkriegs eine Basis der konterrevolutionären Kräfte.20 Über die Schwarzmeerhäfen wurde nicht nur die alliierte Intervention maßgeblich in Szene gesetzt; von dort konnten auch die weißgardistischen Armeen unterstützt werden. Die deutsche Besatzung der Ukraine wiederum hatte nicht nur die Bolschewiki aus dem Lande getrieben, sondern auch alle anderen Machtzentren stark geschwächt - als die deutsche Armee im Winter 1918 abzog, hinterließ sie ein Machtvakuum, das von einer Vielzahl oft nur lokaler Machthaber und bewaffneter Gruppen zwar schnell, aber nicht nachhaltig und stabil gefüllt wurde. Faktisch entstand ein großer staatsferner und gewaltoffener Raum, in dem sich die Herrschaftsverhältnisse täglich ändern konnten.21 Zugleich wurde die Ukraine oder Südrussland zum Hauptkriegsschauplatz zwischen „Roten“ und „Weißen“. Eine eigentliche Front existierte nicht - meist waren die Kämpfe eher punktuell. Neben den beiden Hauptprotagonisten kämpfte auch eine Vielzahl anderer Parteien um Macht oder einfach auch nur um ihr Überleben.22 Zu nennen sind zum einen unabhängige Atamane wie Nestor Machno23 oder Grigor’ev,24 vor allem aber die Truppen des Groß-Atamanen und Führers der ukrainischen Nationalisten Simon Vasilevič Petljura (1879-1926). Als Vorsitzender des so genannten Direktoriums, das nach Abzug der Deutschen aus der Ukraine und dem Fall der Hetman-Regierung Pavlo Skoropadskijs erfolglos die Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates anstrebte, sammelte er andere Atamane um sich, die - wenn auch oft nur vorgeblich - dasselbe Ziel verfolgten. Es gelang Petljura aber zu keiner Zeit, eine schlagkräftige Bewegung zu begründen.
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Die Entstehung von „Gewaltkulturen“, nach denen sich die Armeen, Gruppen, Banden des Bürgerkrieges strukturierten und organisierten, stellte einen Reflex auf die Umstände dar. Von einem eingehegten Element der dörflichen Alltagskultur wurde Gewalt zum Zentrum einer Lebensform. Opfer von Gewalt wurden im Russischen Bürgerkrieg weniger Kombattanten als Nicht-Kombattanten. Dabei überragte das Schicksal der jüdischen Gemeinden dasjenige anderer Gruppen und Minderheiten. Schätzungen der Opfer antijüdischer Pogrome gehen von bis zu einer Viertelmillion Menschen aus, die zwischen 1917 und 1921 ermordet wurden.25 Die zuvor latente Pogromgewalt erreichte neue, bis dahin präzedenzlose Dimensionen, und es lässt sich von einer neuen Qualität gegenüber den Pogromen der 1880er-Jahre sowie während der Revolution von 1905 sprechen. Ein regelrechter Bruch in der Pogromtradition des Russländischen Reichs besteht im Ausfallen des Staats - die „triadische Konstellation“, die vor 1917 neben Tätern und Opfern immer die zarische Obrigkeit einbezog, hatte nun keine Grundlage mehr.26 Der kommunikative Adressat des Pogroms, der „Dritte“ im Sinne eines sozialen Handelns,27 verschwand nicht, nahm aber eine neue Form an: Zum einen war es im weitesten Sinne die Umwelt im staatsfernen Raum - die Bevölkerung ebenso wie andere militärische Gruppierungen. Vor allem aber war es die eigene Gemeinschaft. Gerade dieser Umstand trug zu einer Entgrenzung der Pogromgewalt bei.
In der Forschungsliteratur zur Pogromgewalt im Bürgerkrieg ist man sich weitgehend einig, die Gründe dafür in der Kombination einer Radikalisierung des Antisemitismus und der Kriegssituation zu sehen. Peter Kenez hebt vor allem die Rolle des Antisemitismus in der Ideologie der „Weißen Armeen“ hervor. Der im zarischen Offizierskorps immer schon starke Antisemitismus sei durch die revolutionären Ereignisse ins Pathologische übersteigert worden; die Juden seien mit allem Bösen identifiziert worden, vor allem aber mit dem Bolschewismus und dem Untergang des Zarenreichs. Der Antisemitismus wurde gewissermaßen zum Inhalt der „weißen“ Ideologie und der Judenpogrom zu ihrer praktischen Umsetzung.28 Oleg Budnickij betont den militärischen Charakter der Pogrome im Bürgerkrieg - gerade darin sei der entscheidende Unterschied zu früheren Zeiten zu sehen: Es waren nicht mehr bestimmte Bevölkerungsteile, sondern Armee-Einheiten, die Pogrome begannen und durch-führten. Auch für Budnickij steht indes der Antisemitismus im Zentrum der Erklärung. Aufsetzend auf traditionellen Stereotypen habe das Bild des „verräterischen“, „schlechthin bösen“ Juden schon in den Kriegsjahren bis zur Schürung eines exterminatorischen Hasses aufgebaut werden können. Bereits während des Krieges hatten militärische Einheiten während der Deportationen jüdischer Gemeinden aus den Westgouvernements massive Pogromgewalt ausgeübt - die Revolutionswirren und die Propaganda taten das Ihre.29
Vor allem für die christlichen Völker des Russischen Kaiserreichs konnten die Juden die Funktion der „idealen Anderen“ erfüllen.30 Was man hier noch als bewusste, rationale Ausnutzung bestehender Stereotypen durch Behörden und Militärführung bezeichnen konnte, spielte auf eine andere, elementarere und bis zu einem gewissen Grade unbewusste Weise auch für die Atamanen und das Bandenwesen im Bürgerkrieg eine zentrale Rolle. Im Folgenden soll es detaillierter darum gehen, die Bedeutung kollektiver Gewalt gegen Andere für Kohäsion und Identität der Kollektive unter den Bedingungen der Staatsferne herauszuarbeiten.
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2. Leben und Sterben in Gajsin im Frühjahr 1919
Die Kleinstadt Gajsin liegt südsüdwestlich von Kiev zwischen Uman und Vinnica
(Karte: Mittelbach’s Verlag, Leipzig 1920).
Im Jahr 1927 schrieb der ehemalige Stabshauptmann der kaiserlich-russischen Armee Govoruchin im bulgarischen Exil seine Erinnerungen über den Russischen Bürgerkrieg nieder - und hat damit für die heutige Forschung eine sehr aufschlussreiche Quelle geschaffen. Er berichtet darin von Ereignissen, die sich 1919 im westukrainischen Gajsin abspielten, einem kleinen Städtchen im Gouvernement Podol’sk. Neunzehnmal, so Govoruchin, wechselte in wenigen Monaten in Gajsin die Herrschaft. Ein Viertel der Stadtbevölkerung - etwa 4.000 Menschen - fiel den Verbrechen der „Wahnsinnigen und Abenteurer des Russischen Bürgerkriegs“ zum Opfer.31 Gemeint war damit allen voran der Ataman Ananij Gavrilovič Volynec (sprich: „Wolín-jetz“). Beinahe jeder Eroberung durch Volynec folgte ein Pogrom an der jüdischen Bevölkerung - „wie früher“, so der Autor, hätten die „Volyncy“ (Volynec’ Männer) die jüdischen Geschäfte geplündert und deren Besitzer verprügelt.32 Damit wird der beinahe rituelle Wiederholungscharakter der Pogromhandlungen unterstrichen, die im Bürgerkrieg geradezu ein notwendiges Attribut der Einnahme einer Stadt durch Einheiten der Freiwilligenarmee oder auch der Anhänger Petljuras waren.
Aber auch unter bolschewistischer Besetzung hatten die Juden von Gajsin zu leiden. Mit der Disziplin der Rotarmisten stand es nicht zum Besten, wie Govoruchin berichtet. Sie plünderten die Alkoholgeschäfte (die sich vorwiegend in jüdischer Hand befanden) und veranstalteten kollektive Besäufnisse. Im Gegensatz zu den Truppen von Volynec sollen die Rotarmisten eher im Verborgenen gemordet haben - auch Juden fielen ihnen zum Opfer. Ein anderes Mal, als eine Einheit der Roten Armee in Gajsin eingezogen war, handelte es sich bei den Soldaten nach den Worten Govoruchins um „grässlichsten Abschaum“ (užasnejšaja rvan'). Das sei kein Regiment, sondern eine Bande gewesen, die noch undisziplinierter gewesen sei als die Aufständischen. Sie prügelten und beraubten nicht nur die Juden, sondern ebenso alle anderen Bewohner der Stadt. Beispiele wie diese waren keine Seltenheit im Russischen Bürgerkrieg; sie illustrieren, in welcher Weise der staatsferne Raum auch das Handeln vermeintlich regulärer Kontingente prägte.
Der Kommandeur, der laut Govoruchin selbst Jude war, ließ die Exzesse zu.33 Dies muss nicht verwundern. Die meisten jüdischstämmigen Bolschewiki verstanden sich nicht in erster Linie als Juden, sondern als Bolschewiki, und hatten faktisch auch keine andere Wahl. Von den jüdischen Gemeinden trennten sie nicht nur diametral entgegengesetzte ökonomische Vorstellungen, sondern auch der revolutionäre Internationalismus und das Gleichheitsdogma. In der Notsituation der russischen Juden im Bürgerkrieg bedeutete die Gleichbehandlung oft einfach nur, dass sie keinen besonderen und letztlich gar keinen Schutz erhielten. Außerdem galt auch für die Einheiten der Roten Armee das Prinzip der Selbstversorgung - mit anderen Worten: Die Ausplünderung der Zivilbevölkerung war erlaubt und wegen der mangelnden Nachschuborganisation meist auch unausweichlich. Schließlich waren die Truppen oft in einem so erbärmlichen Zustand, dass Kommandanten Plünderungen nicht wirkungsvoll entgegentreten konnten, ohne sich gegen das Interesse ihrer gesamten Truppe zu stellen und dabei ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Vielsagend ist in diesem Zusammenhang eine Beobachtung Govoruchins: Weil die Bolschewiki das unverteidigte Gajsin irrtümlich mit Artillerie beschossen, hatten die Bürger an mehreren Stellen Bettlaken und Tischdecken als weiße Fahnen gehisst, um die Offenheit der Stadt anzuzeigen. Als die Rotarmisten einrückten, rissen sie als erstes die Wäsche von den Stangen, teilten sie in Stücke und machten sich daraus Fußlappen oder nähten primitive Hemden.34 Da die Juden überproportional stark im Handel vertreten waren, wurden sie von dieser Art der Kriegsführung immer besonders stark betroffen - unabhängig von der politischen Couleur der ungebetenen Besucher.
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Generell waren die „roten“ Phasen weniger durch Pogrome als durch massenhafte Erschießungen aller als konterrevolutionär oder der Sympathie für Volynec verdächtigen Personen gekennzeichnet.35 In der Ermordung vermeintlicher oder tatsächlicher Feinde stand Volynec zwar auch nicht nach, doch geschah dies weit weniger systematisch. Für die Stadtbevölkerung bedeutete indes jede Besetzung Raub, Mord und Terror. Da es unter den damaligen Bedingungen extremer Staatsferne keine „eigene“ Bevölkerung gab und die jeweiligen Machthaber alle Bewohner schon aus Vorsicht als potentielle Feinde sahen, handelten sie entsprechend. Dabei kam es zu bemerkenswerten Parallelen. Egal, wer gerade in der Stadt herrschte - jeder residierte im Gajsiner Postgebäude. Auch die Erschießungen nahmen beide Parteien am selben Ort vor: Im Hof des ehemaligen Regimentskommandanten wurde in den Gruben eine Schicht Leichen nach der anderen gelegt und mehr schlecht als recht verscharrt. Des Öfteren gruben Hunde dort Leichenteile aus und fraßen sie.36 Der Tod hatte einen festen Ort in der Stadt und war dauerhaft zu Gast.
In Phasen, in denen weder Volynec noch die Bolschewiki in der Stadt waren, erschienen wiederum „irgendwelche“ Banditen, um zu morden und zu rauben.37 Es gab also keine dauerhafte Macht in Gajsin, dafür aber stets Kriegsparteien, die das jeweilige Machtvakuum ausnutzten. Es war ein Alptraum der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins, den die Bevölkerung durchlebte. Weder mit den Bolschewiki noch mit Volynec und seinen Kämpfern wagten die Stadtbewohner ihr Schicksal zu verbinden. Und obwohl viele christliche Bewohner die einheimischen Juden hassten, wie Govoruchin berichtet, gaben manche ihnen angesichts des Ausmaßes der Pogrome doch Unterschlupf.38
Zwischenzeitlich gründeten die Einwohner sogar eine kleine Selbstwehr. Wegen Waffenmangels hatte sich anfänglich niemand aktiv daran beteiligen wollen, aber dann fanden sich doch noch einige Jagdgewehre, so dass am Ende sieben Mann mit doppelläufigen Flinten, einer mit einer Duellpistole und der Rest mit Knüppeln durch die Straßen patrouillierten und wenigstens kleineren Räuberbanden entgegentraten.39 Auch wenn somit eine gewisse Solidarität und Selbstorganisation der Stadtbevölkerung festzustellen ist, herrschten überwiegend nackte Angst und Lähmung: „Die Bewohner saßen in Furcht zuhause und warteten mit Ungeduld, wann all diese Unordnung enden und eine starke Macht kommen würde.“40
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Es regierte das Recht des (zeitweilig) Stärkeren. Die Bereitschaft zur Anwendung physischer Gewalt war nicht nur Voraussetzung für den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen, sondern auch für das Überleben selbst. Ebenso notwendig war eine elementare soziale Organisation. Sie stellte sich in der Form von kleineren Gruppen, Banden oder „Meuten“ dar.41 Diese Organisationsform war einfach und entsprach den Anforderungen der Umstände. Ferner erforderte sie Führer- und Gefolgschaft. Das eröffnete Personen, die sich zum Anführer eigneten, erhebliche Chancen. Charisma war zweifellos ein bedeutsames Merkmal solcher Personen.42 Zu fragen ist jedoch, was dieses Charisma ausmachte, also die teils mitgebrachten, teil erworbenen oder zugeschriebenen außeralltäglichen Eigenschaften einer Person. Gewaltbereitschaft und Entschlossenheit waren den Umständen entsprechend von hoher Bedeutung, aber sie waren etwas, das auch jedes Mitglied der Gefolgschaft besaß. Neben Persönlichkeit und Willensstärke spielte daher Wissen eine besondere Rolle. Wer sich in der revolutionären, keineswegs leicht überschaubaren Situation orientieren, in der Sprache der Unterschichten Feinde klar benennen und destruktiven Energien damit eine Richtung geben konnte, qualifizierte sich zum Anführer. Eine solche Person war Volynec.
3. Volynec - der Werdegang eines Atamanen
Volynec wurde 1894 im Dorf Karbivca als dritter Sohn wohlhabender Bauern geboren, die ihn in Gajsin auf die Schule schicken konnten. 1908 beendete er die Schule, musste danach jedoch für seine Brüder in der Landwirtschaft arbeiten. Erst 1911 bekam er eine Stelle in der Försterei von Gajsin und konnte einen eigenen Haushalt gründen. 1913 setzte er seine Ausbildung am landwirtschaftlichen Institut in Ekaterinoslav fort. Dort engagierte er sich in ukrainisch-nationalistischen Kreisen, unter anderem durch Mitarbeit an der illegalen Zeitung Naše žittja („Unser Leben“) und in Zirkeln der sozialrevolutionären Partei.43 1917 wurde er Mitglied des revolutionären Komitees (revkom), das sich nach dem Zusammenbruch der zarischen Regierung in Gajsin gegründet hatte, und bald danach auch Leiter der revolutionären Miliz.44 Dass ihm diese zentrale Funktion übertragen wurde, spricht sowohl für ein gewisses militärisches und organisatorisches Talent als auch für die Durchsetzungsfähigkeit und Persönlichkeit des gerade einmal 23-jährigen Volynec.
Ananij Gavrilovič Volynec in den 1930er-Jahren im Exil
(Foto aus: Koval’/Zaval’njuk, Trahedija [Anm. 44], S. 281)
Die Herrschaft der Anhänger der ukrainischen Rada-Regierung dauerte nicht lange.45 Die Bolschewiki gewannen die Oberhand und zwangen sowohl Volynec wie auch andere ukrainische Nationalisten zu fliehen und bei Bauern in der Region unterzutauchen.46 Doch die Bolschewiki konnten sich ebenfalls nicht lange halten. Im Frühjahr 1918 rückte die deutsche Armee in die Ukraine ein und installierte das Hetman-Regime unter Pavlo Skoropadskij. Volynec’ Wissen erwies sich nun von großer Bedeutung. Seine Fähigkeiten stellte er unter Beweis, als er den Bauern allen Gewalttaten der deutschen Besatzer zum Trotz empfahl, sich eines Aufstandes gegen die Deutschen zu enthalten: „Bleibt ruhig! Die große russische Armee, die gut ausgerüstet und bewaffnet ist, wurde mit den Deutschen nicht fertig: Hundert Gouvernements kämpften und konnten nichts erreichen! Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ihr die Deutschen mit euren mickrigen Kräften vertreiben könnt? Eure Kräfte müssen geschont werden - sie werden noch gebraucht.“47
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Volynec’ Ratschlag bewahrte die Bauern vor dem Schicksal benachbarter Regionen, in denen es Aufstände gegen die deutsche Besatzung gegeben hatte - wie Govoruchin beschreibt, konnten die Bauern am Horizont den Feuerschein brennender Dörfer sehen, die sich den Deutschen widersetzt hatten. Volynec hatte sie gut beraten. Die Bauern aus der Gegend um Gajsin blieben von Strafexpeditionen der deutsch-österreichischen Besatzer sowie der Hetman-Truppen weitgehend verschont. Im Falle von Volynec begründete anfangs gerade der Verzicht auf Gewalt seine besondere Autorität unter den Bauern.48 Eben diese Autorität diente ihm in der Folge aber als Grundlage, die Bauern zur Gewalt aufzurufen.
Erst nach dem Abzug der Deutschen im Dezember 1918 und dem Sturz Skoropadskijs konnte Volynec wieder offen auftreten und nach der Kontrolle über Stadt und Region Gajsin streben. Volynec’ Entschlossenheit und Gewaltbereitschaft geht aus den Worten hervor, die er an die Mitglieder seiner erneut versammelten Kampfgruppe gerichtet haben soll: „Unser Weg wird dornenvoll und blutig sein: Wer sich nicht mutig genug fühlt, wer keinen Glauben an unsere Kraft hat, nicht glaubt, bis ans Ende durchhalten zu können, der soll sofort aus dem Glied treten und doch zu Pflug und Ochsen gehen!“49 Das Töten und Blutvergießen forderte volle Hingabe und damit einen Bruch mit dem bäuerlichen Leben. So entstand eine Gemeinschaft, die mangels anderer Versorgungsquellen grundsätzlich auf Raub und Gewalt angewiesen war. Es handelt sich hierbei um eine allgemeine Erscheinung des Russischen Bürgerkriegs, die einen wichtigen Faktor für die Entgrenzung der Gewalt darstellte.50
Nach dem Abzug der deutschen Truppen Ende 1918 versuchten auch die Bolschewiki, deren Platz einzunehmen. Während die Bauern Volynec unterstützten, fiel es ihm in Gajsin selbst sehr schwer, Fuß zu fassen. Dort gründete sich eine „Rote Garde“ und alsbald auch ein „jüdisches Bataillon“, wie Govoruchin schreibt.51 Dabei handelte es sich offenbar um eine jüdische Selbstwehr, wie sie sich in Zeiten der Bedrohung an vielen Orten mit starken jüdischen Gemeinden gründete.52 Bald musste Volynec den mit den Bolschewiki sympathisierenden Kräften weichen.
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4. Die Praxis der Gewalt unter Volynec’ Führung
Volynec’ Truppe war nicht groß: Sie umfasste im Kern vermutlich nie mehr als hundert Mann. Es waren laut Govoruchin viele persönliche Freunde und Bekannte des Anführers darunter.53 Um Gajsin erobern und die Bolschewiki auf Distanz halten zu können, benötigte er die Hilfe der Bauern in den umliegenden Dörfern. Die Bauern hegten zwar Sympathien für Volynec, doch gelang es ihm zu keiner Zeit, eine regelrechte Bauernbewegung in Gang zu setzen. Dies lag vermutlich daran, dass seine politischen Ziele über den Horizont des Dorfes hinausgingen. Anders als etwa Nestor Machno, der den Bauern immer vermitteln konnte, dass es um ihre Freiheit gehe, verfehlte das vage nationalistische Programm von Volynec trotz wiederholter Mobilisierungserfolge letztlich die unmittelbareren Interessen der Bauern.54
Volynec musste die Bauern gegen die Bolschewiki mobilisieren. Dazu kombinierte er drei Elemente, die jedes für sich unzulänglich gewesen wären, die zusammengenommen aber eine explosive Wirkung entfalteten. Das erste Element war die grundsätzliche, teils feindselige Abneigung der Bauern gegenüber den Gesandten aus Moskau. Die Bolschewiki stammten aus urbanen Kontexten, sprachen nicht nach Bauernart, verhöhnten die Religion und trugen Ansprüche und Ideen an die Bauern heran, die diesen fremd blieben. Solange sich die Bolschewiki aber nicht in dörfliche Angelegenheiten einmischten und den Interessen der Bauern nicht entgegentraten, bestand für die Dörfer auch kein Anlass zu gewaltsamer Reaktion. Man muss dabei bedenken, dass Anfang 1919 die bolschewistische Partei nur eine unter vielen war und sich ihre Gefährlichkeit, geschweige denn ihre Dauerhaftigkeit für die Bauern noch kaum erwiesen hatte.
Das zweite Element war der volkstümliche Antijudaismus, der auf den ukrainischen Dörfern weit verbreitet und tief verwurzelt war. Er speiste sich aus Tradition und Religion sowie aus fast unvermeidlichen Alltagskonflikten, die zwischen Bauern und den überwiegend jüdischen Händlern stattfanden. Auch der volkstümliche Antijudaismus allein war aber keine ausreichende Triebkraft. Weder der Mythos der Christusmörder noch die Idee, das Eigentum der Juden sei nichts anderes als Diebesgut, welches sich das einfache Volk mit Recht zurückholen dürfe, führten dazu, dass die Bauern von sich aus jüdische Gemeinden in größerem Stil angriffen.
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Die traditionelle Judenfeindlichkeit trieb viele Juden jedoch aus Angst in die Arme der Bolschewiki, und dies konnte wiederum hervorragend für die Mobilisierung der politisch oft indifferenten Bevölkerung im Sinne des Petljura-Nationalismus genutzt werden. Die Gleichsetzung von Bolschewiki und Juden mochte sachlich falsch sein - in der Praxis entbehrte sie nicht eines wahren Kerns, der durch selektive Erfahrungen bestätigt werden konnte. Volynec wusste sich diese Möglichkeit zunutze zu machen.
Das dritte Element schließlich war die Aussicht auf straflose Plünderung, aber auch auf Vergewaltigung und Mord, die Volynec seinen Anhängern vor Augen führte. Die Bauern sollten ihr Unwesen in der Stadt nicht nur straflos treiben, sondern sich dabei auch im Recht fühlen dürfen. Diese Legitimation der Gewalt hatte eine ähnliche Funktion wie die Gerüchte über eine angebliche Erlaubnis des Zaren zum „Judenschlagen“, die in allen Pogromen seit 1881 eine bedeutende Rolle gespielt hatten.55 Die Legitimierung durch eine höhere Autorität war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Bauern sich zu kollektiven Handlungen bereit fanden, die über den unmittelbaren Horizont ihres Dorfes und seiner Umgebung hinausgingen. Mochten die Bauern sich nach dem Zusammenbruch der zarischen Macht erst zögerlich und dann immer entschlossener das Gutsland aneignen - in die Städte mussten sie geführt werden.56
Die Kombination der drei genannten Elemente erwies sich als hochwirksam. Volynec war ein hochbegabter Redner, jemand, der sich Govoruchin zufolge den Bauern verständlich machen und eine ruhige Menge aufheizen konnte.57 Nachdem er sich vor den Bolschewiki in ein nahegelegenes Dorf zurückgezogen hatte, begann er dort gegen die „Juden-Bolschewiken“ zu agitieren - nach Govoruchins Worten „kochte“ der Bezirk bald vor Hass. Volynec gelang es, fast 10.000 Bauern hinter sich zu versammeln. Im März 1919 konnte er Gajsin kampflos einnehmen, da das „jüdische Bataillon und die Sowjetmacht“ angesichts der gegnerischen Überlegenheit aus der Stadt geflohen waren.58 Die Eroberung mündete unmittelbar in einen Pogrom. Govoruchin schreibt: „Volynec rechnete grausam mit den Juden ab: die Bauern veranstalteten einen Pogrom. Alle Geschäfte und Läden wurden verwüstet. Ungefähr 1.000 Juden wurden am ersten Tag der Herrschaft von Volynec ermordet. Es litten vor allem die Frauen, die Alten und die Kinder, weil alle jungen waffenfähigen Juden in das jüdische Bataillon gegangen waren. Ich habe selbst auf der Straße eine Jüdin mit einem ungeheuren Pfahl im Unterleib gesehen. Die Misshandlungen ließen keinen Juden aus. Das bäuerliche Wesen wirkte sich auf die Söhne der Ukraine aus und brachte aus ihnen all ihre Erniedrigung heraus. Am anderen Tag gingen die Bauern in ihre Dörfer zurück, nachdem sie die Stadt ausgeraubt hatten - nur 2.000 Bauern blieben in Gajsin. Der Pogrom hörte auf. Man muss hinzufügen, dass einzelne Personen zu den Häusern der Juden gingen, sie ausraubten und manchmal auch umbrachten [...].“59
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An dieser Schilderung sind mehrere Punkte von Bedeutung. Zunächst einmal beginnt und endet der kurze Bericht über den Pogrom mit der Verwüstung und Plünderung von Geschäften. Erst danach wird die Ermordung von 1.000 Menschen genannt - diese Gewalt wird wiederum entschuldigend mit dem „bäuerlichen Wesen“ (krest'janskaja stichija) und der „Erniedrigung“ (obida) erklärt. Der Autor Govoruchin zeigt bei aller Grausamkeit des Geschehens doch ein gewisses grundsätzliches Verständnis für die Pogrome.60 Hier wirkte zweifellos auch die unter den höheren Schichten der Gesellschaft traditionell gehegte Vorstellung von den Bauern als halbinfantilen, unzivilisierten und daher ihren Trieben ausgelieferten Menschen. Andererseits wird die Komplexität der Motive deutlich: Bereicherung und Lust an der Gewalt sind kaum zu trennen. Letzteres ist an der (vermutlich) vaginalen Pfählung einer jüdischen Frau abzulesen. Für Volynec wiederum hatte der Pogrom vor allem mobilisierende Funktion. Er nutzte die Judenfeindlichkeit dazu, die mit den Juden gleichgesetzten Bolschewiki zu vertreiben und seine persönlichen Interessen zu verfolgen. Dies alles diente der Vergemeinschaftung und Machtbildung: Volynec stellte den Bauern einen staatsfernen Gewaltraum vor Augen, in dem sie straflos machen konnten, was sie wollten. Nicht für alle, aber für viele wirkte diese Aussicht verlockend, wenn nicht gar unwiderstehlich.61 Außerdem versorgte Volynec die Täter mit einer Legitimation ihres Handelns. Dass diese in einer den Bauern verständlichen Sprache vermittelt werden konnte - nicht zuletzt darin bestand Volynec’ „intellektuelle“ Leistung.
Versammlung von Soldaten einer Atamanenarmee - in diesem Fall der Machno-Armee
(Zentrales Staatsarchiv für Phono-, Foto-, Kinodokumente der Ukraine, CDAFFK)
Der Pogrom brachte eine große Menge gewaltbereiter Menschen zusammen, die sich unmittelbar nach dessen Ende fast vollständig auflöste: Vier Fünftel kehrten befriedigt und mit Beute beladen in ihre Dörfer zurück. Was in Gajsin geschah, erinnert stark an die von Canetti beschriebenen kurzlebigen „Hetzmassen“.62 Um die Macht über größere Gruppen aufrechtzuerhalten, waren immer neue Gewalttaten notwendig. Ein Anlass dazu bot sich kurz nach dem Pogrom, als Volynec den Rest seiner Gefolgschaft, etwa 2.000 Mann, versammelte und ihnen eine Rede hielt. Govoruchin berichtet, dass in diesem Moment ein einzelner Jude (ein „Juden-Mechaniker“) aus Rache mit einem Maschinengewehr das Feuer auf die Menge eröffnet habe. Daraufhin sei der Pogrom erneut aufgebrandet und habe noch einmal 400 Juden das Leben gekostet.63 Ob es diesen „jüdischen Mechaniker“ wirklich gab oder es sich dabei nur um einen typischen Vorwand handelte, den Furor erneut zu entfachen, ist nicht zu entscheiden. Aber die Gestalt des „hinterhältigen Juden“ respektive „jüdischen Heckenschützen“ war in der zarischen Armee weit verbreitet und hatte schon während der „ethnischen Säuberungen“ des Fronthinterlands 1916 eine große Rolle für die Rechtfertigung von Pogromen gespielt.64 Wahrscheinlich ist, dass einige, womöglich betrunkene Pogrom-Täter aus Übermut die Schüsse abgaben, die dann zum Anlass des erneuten Mordens genommen wurden.
Solche kollektiven Gewaltakte hielten nicht nur eine grundsätzlich instabile Bauernmasse für kurze Zeit zusammen, sondern verstetigten auch eine Gemeinschaft von Kriegern, die auf Gewaltbereitschaft und Zusammenhalt angewiesen war, wollte sie unter den damaligen Umständen nicht selbst zum Opfer mächtigerer Gegner werden. Dass sich die Gewalt gegen eine stigmatisierte und wehrlose Gruppe richtete, muss nicht überraschen - im Gegenteil. Der Mord an den Gajsiner Juden hatte seinen Grund nicht so sehr in Antijudaismus oder Antisemitismus. Er baute vielmehr auf diesen Versatzstücken der Alltagskultur in den Westgouvernements des Zarenreichs auf und hatte eine symbolische und regelrecht rituelle Bedeutung für die Kriegergemeinschaft und ihren Anführer Volynec selbst. Wiederholtes grenzüberschreitendes Handeln - das Töten und Quälen wehrloser Opfer, an denen man sich vermeintlich vergehen durfte -, stärkte die Fähigkeit der Gewaltausübung, indem es moralische Schranken schrittweise abbaute. Der Kult der Gewalttätigkeit wurde auch durch äußere Attribute unterstrichen.65
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Volynec bediente sich noch weiterer Techniken der Vergemeinschaftung: Als er Gajsin wieder einmal eingenommen hatte, befahl er, für seine Gefallenen Katafalke zu errichten und ein feierliches Begräbnis mit Trauerzug abzuhalten.66 Begräbnisse als Form des politischen Totenkults ehren nicht nur die Toten, sondern symbolisieren und erhöhen auch die Gemeinschaft, der die Toten angehörten. Wie die vorherige Gewalt zielen auch Begräbnisse nicht allein auf ihr primäres Objekt ab, sondern auf die handelnden Subjekte und das Netz ihrer sozialen Beziehungen.67 Mit Gewalt wurde das Begräbnis sogar direkt verbunden, denn während der Vorbereitungen fielen Volynec und seine Männer erneut über die Juden her. Da - nach den Worten Govoruchins - kaum noch jemand umzubringen war, ermordeten sie 20 Frauen und Alte. Ein Hintergrund war der Umstand, dass die Aufständischen bei ihrem Sturm auf Gajsin schwere Verluste erlitten hatten und zurückgeschlagen worden waren. Sie konnten die Stadt erst kampflos einnehmen, nachdem die Rotarmisten sie überraschend geräumt hatten.68 Die völlig unbeteiligten Juden ersetzten als Opfer gewissermaßen die Rotarmisten, an denen direkt keine Rache hatte genommen werden können.
Der feierliche Leichenzug im Anschluss endete mit einem Fiasko, denn plötzlich tauchte „rote“ Kavallerie auf und zwang Volynec und seine Männer zu einem überstürzten Rückzug. Die Särge wurden von den Trägern fallengelassen und öffneten sich teilweise. Die siegreichen Kavalleristen führten ihre Pferde über die Leichen und schändeten sie.69 Solcher gegen den toten Körper gerichteter Gewalt begegnet man in der Geschichte des Russischen Bürgerkriegs häufig. Es gab keine gemeinsamen Regeln, Werte und damit auch keine Kriterien für Würde. Es handelt sich um eine weitgehende Ausfallerscheinung der Kultur und ihre Ersetzung durch einen Kult der Gewalt. Der Feind musste nicht nur besiegt, sondern vernichtet und ausgelöscht werden. In manchen Fällen wurde dies dadurch bewerkstelligt, dass man die Leichen unter freiem Himmel liegen und damit bewusst den Hunden zum Fraß überließ.70
War die Gewalt gegen stigmatisierbare, als „Andere“ zu kennzeichnende Gruppen ein Mittel der Vergemeinschaftung, so spielte Gewalt auch für die inneren Strukturen der Gemeinschaft eine wichtige Rolle, vor allem für die Führungsstellung von Volynec. Er hatte regelmäßig mit Unzufriedenheit und Unruhen unter seinen Männern zu kämpfen. In einem solchen Fall versammelte er sie vor dem Haus, in dem er residierte. Was genau vorgefallen und den Unmut seiner Truppe verursacht hatte, ist nicht klar. Deutlich wird aber, dass Volynec offenbar gezwungen war, ein Zeichen seiner Autorität zu setzen, wie Govoruchins Bericht zeigt: „Der Gehilfe von Volynec - ein Bauer aus dem Dorfe Kislin - Gardienko stand bleich auf dem Dache des Hauses. Volynec hielt eine Rede vom Balkon, aber die Aufständischen wollten ihm nicht zuhören und erregten sich alle mehr und mehr. Volynec, der sah, dass es ihm nicht gelang, seine Mordgesellen zu beruhigen, sprang vom Balkon auf das Dach und schrie die Bauern und Aufständischen an: Wisst Ihr, wer schuld an all dem ist? Der da! Und Volynec zeigte mit dem Finger auf Gardienko. Der wollte irgendetwas erwidern, aber Volynec gab ihm keine Gelegenheit: Er zog seinen Revolver aus der Hüfttasche und erschoss Gardienko einfach. Die Leiche des Getöteten wurde an einen Pferdeschwanz gebunden. Was bei Volynec mit den Aufständischen passierte, ist schwer zu sagen: unzweifelhaft nur, dass der Ataman sich entschieden hatte, einen niederträchtigen Mord zu begehen, nur um seine Reputation zu retten.“71
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Solche fast spontanen eigenhändigen Tötungshandlungen waren durchaus typisch für das Verhalten von Atamanen im Bürgerkrieg. Auf Charisma allein konnte sich Führerschaft unter den Bedingungen staatsferner und gewaltoffener Räume nicht stützen - nur Gewaltbereitschaft und gewalttätige Akte selbst ermöglichten es, Anspruch auf Führerschaft zu symbolisieren und zu realisieren. Nestor Machnos Autorität gründete sich nicht zuletzt darauf, dass er nie zögerte, Soldaten sofort zu erschießen, die sich seinen Befehlen widersetzten oder gegen seinen Willen verstoßen hatten.72 Gleichwohl konnte sich diese Gewalt immer nur gegen einzelne respektive vereinzelte Personen richten. Die Gruppe wiederum musste nicht nur Autorität, sondern auch aus ihrer Gefolgschaft fließende Erlöse zu spüren bekommen. Dies konnte Beute sein oder auch Handlungsfreiheit. Im Falle von Volynec und seiner Bande war es eine Kombination aus beidem. Govoruchin berichtet: „Der Ataman genoss in der Stadt unbeschränkte Macht und tat alles, was er wollte. Besonderer Terror fand nicht statt, allein viele Aufständische beglichen ihre persönlichen Rechnungen mit Feinden und erschossen sie ohne Gnade.“73
Eine Geschichte bewegte den Berichterstatter besonders: Einer von Volynec’ Männern hatte ein Auge auf eine junge Frau geworfen und stellte ihr nach - erfolglos. Sie hatte einen Verlobten, einen Lehrer. Eines Nachts wurde er von Volynec’ Männern gefangen, verschleppt und ermordet. Die Klagen der jungen Frau und der Verwandten blieben unerhört. Volynec tat nichts, um der Familie Genugtuung zu verschaffen.74 Unbeschränkt war die Macht des Atamanen gegenüber der Bevölkerung - nicht jedoch gegenüber seinem eigenen Anhang. Seine Autorität reichte hier nur so weit, wie er selbst Gewalt anzuwenden und andere gewähren zu lassen bereit war. Er konnte Gewalt nicht gefahrlos unterbinden, sondern musste sich eher an ihre Spitze stellen oder gar andere darin übertreffen, um seine Führungsposition zu behaupten. Das bewirkte regelmäßige Eskalation - und erhellt vielleicht auch den schon beinahe irrsinnig anmutenden Wiederholungscharakter der Pogromgewalt.
Gruppendynamische Mechanismen wirkten dabei nicht nur verstärkend, sondern reproduzierten auch Identität und Gemeinschaft. Denn in aller Offenheit vollzogene Gewalt bezieht sich unweigerlich nicht mehr allein auf das oder die Opfer; sie ist zugleich an Beobachter, Kameraden, Anführer oder Untergebene adressiert. Für die Bauern mag es sich vor allem um „blutigen Karneval“ gehandelt haben. Bei Volynec’ Männern wirkten Anpassungsdruck, Hierarchie und Kameradschaftsprinzip.75 Unter den Bedingungen eines staatsfernen Raumes bildete sich eine „Gewaltkultur“, die sich durch eine eigene Handlungslogik und besondere Wertmaßstäbe auszeichnete. Gewalt war hier mehr als nur Mittel zum Zweck - sie war sinnstiftendes Medium.
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Aus dem detailreichen Bericht des ehemaligen Offiziers Govoruchin über die Ereignisse in der Stadt Gajsin im Jahr 1919 ließen sich mehrere Dimensionen des Sinnes von Gewalt ablesen, die unmittelbar mit den Existenzbedingungen einer Kriegergemeinschaft in einem staatsfernen Raum zusammenhängen. Der Ataman Volynec erlangte seine Stellung kraft seiner Persönlichkeit und seines Wissens, vor allem aber dadurch, dass er zur Gewalt aufrief und Gewaltpotentialen eine Richtung zu geben vermochte. Diese praktische, auf traditionellen Antijudaismus sowie auf Gewaltsegmente in der bäuerlichen Kultur zurückgreifende Fähigkeit - weniger seine an der Universität von Ekaterinoslav erworbene Bildung - machte ihn unter den Umständen des Bürgerkriegs zu einem führenden Gewaltakteur.
Kulturen der Gewalt und die mit ihnen verbundene Gruppendynamik treten in staatsfernen Räumen auf, wie sie etwa im Russischen Bürgerkrieg entstanden. Volynec und seine Gruppe, aber auch das Verhalten der Bauern aus den umliegenden Dörfern sind für die damalige Situation durchaus repräsentativ. Für Russland bzw. die frühe Sowjetunion scheint mir die Untersuchung des Zusammenhangs von Staatsferne und Gewalt Chancen zu bieten, die exzessiven Gewalterscheinungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besser verstehen und erklären zu können. Inwieweit sich dies auf andere Regionen und Epochen übertragen lässt, müssen weitere Untersuchungen zeigen. Staatsferne und die verschiedenen Abstufungen zerfallen(d)er Staatlichkeit sind keine Seltenheit, und „Warlordism“ ist bis in die Gegenwart ein weit verbreitetes Phänomen. Es wäre etwa zu fragen, ob Ausmaß und Formen der Gewalt im ehemaligen Jugoslawien nicht ebenso oder sogar plausibler vor dem Hintergrund einer Kultur der Gewalt im staatsfernen Raum zu verstehen sind als vor demjenigen ethnischer Konflikte und Nationsbildungsprozesse.76
Klar ist andererseits, dass Staatsferne keine exklusive, sondern lediglich eine Voraussetzung für die Entgrenzung von Gewalt ist. Der moderne Staat - auch der demokratische - ist nicht gewaltlos, kann es nicht sein, und er bietet auch keine absolute Garantie gegen Entgrenzungen der Gewalt. Entgrenzte Gewalt spielt sich in Staaten aber meist in besonders eingehegten Gewalträumen ab, die strukturelle Ähnlichkeiten zu staatsfernen Räumen aufweisen, auch wenn man hier im Allgemeinen lieber von „rechtsfreien Räumen“ oder vom „Ausnahmezustand“ spricht.77 Das von westlichen Demokratien im Namen der Terrorbekämpfung sanktionierte und betriebene „outsourcing“ von Folter ist dafür ebenso ein Beispiel wie der Krieg in Tschetschenien und viele andere Konflikte.
1 Damit ist implizit auch die Frage nach der Existenz „anthropologischer Konstanten“ angesprochen, die hier jedoch nicht vertieft werden soll. Unter strukturell ähnlichen Umständen sind strukturell ähnliche Verhaltensweisen wahrscheinlich. Die Geschichtswissenschaft interessiert sich dabei jedoch, auch in komparativen Forschungen, stärker für die sozio-kulturellen Spezifika und historischen Wandlungsprozesse als für die allgemeinen anthropologischen und sozialpsychologischen Muster.- Für Kritik und Anregungen bedanke ich mich herzlich bei Jörg Baberowski, Roland Cvetkovski, Robert Kindler, Michael Wildt und Manfred Zeller.
2 Dafür wurde anhand von Beobachtungen lateinamerikanischer Gesellschaften die Bezeichnung „Gewaltsegmente“ geprägt. Siehe Michael Riekenberg, Gewaltsegmente. Über einen Ausschnitt der Gewalt in Lateinamerika, Leipzig 2003, bes. S. 25f., S. 29. Für die bäuerlich-dörfliche Provinz des Russischen Kaiserreichs lassen sich unschwer solche Gewaltsegmente auffinden. Staatsferne war geradezu die Rahmenbedingung zarischer Herrschaft.
3 Vgl. etwa Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1995.
4 Hier ist vor allem an die Diskussion zu denken, die innerhalb der deutschen Soziologie durch Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M. 1996, angestoßen und durch die Beiträge in Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Wiesbaden 1997, aufgegriffen wurde. Siehe auch neuere Forschungen zur deutschen Pogromgeschichte, die eine „verstehende“ Perspektive einnehmen: Christhard Hoffmann, Introduction, in: ders./Werner Bergmann/Helmut Walser Smith (Hg.), Exclusionary Violence. Antisemitic Violence in Modern German History, Ann Arbor 2002, S. 1-21, hier S. 17.
5 Damit werden, sofern es Methodik und Möglichkeiten der Geschichtswissenschaft erlauben, Anregungen aus der Ethnologie aufgegriffen: Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1987, bes. S. 7-43.
6 Vgl. Matthias Braun, Die Vermessung der Diktatur. Zwischen „archival revolution“ und „new cultural history“: Neuere Literatur über die Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg, in: zeitenblicke 6 (2007) H. 2, online unter URL: http://www.zeitenblicke.de/2007/2/braun/index_html
7 Z.B. Viktor P. Danilov [i dr.], Nestor Machno. Krest’janskoe Dviženie na Ukraine, 1918-1921. Dokumenty in Materialy (Krest’janskaja revoljucija v Rossii, 1902-1922. Dokumenty i Materialy) [Nestor Machno. Die Bauernbewegung in der Ukraine, 1918-1921. Dokumente und Materialien], Moskau 2006.
8 Siehe unten, Anm. 31. Dazu zählen auch die bereits sehr früh veröffentlichten Berichte über Pogromgewalt vor und nach 1917, etwa A. Linden [d.i. Leo Motzkin], Die Judenpogrome in Russland. Herausgegeben im Auftrage des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission, 2 Teile, Köln 1910.
9 Zur Kritik an rein instrumentellen Deutungsweisen von Gewalt sowie zum sinnhaften Bezug von Gewalttaten auf Dritte, der diese Taten erst zu sozialem Handeln macht, siehe Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 410ff. Der Dritte kann auch die eigene Gefolgschaft sein - und nicht nur, wie meistens, die beobachtende Gruppe der potentiellen Opfer von Gewalt.
10 Vgl. dazu auch die Beiträge in: Christian Geulen/Anne von der Heiden/Burkhard Liebsch (Hg.), Vom Sinn der Feindschaft, Berlin 2002.
11 Vgl. Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007. Ich habe hier vor allem die „kameradschaftliche“ Dimension der Gewalt im Blick (ebd., S. 50), aber auch Mechanismen, die unter den Bedingungen einer „Kultur der Gewalt“ wirken und das vorherige ethische Koordinatensystem verändern. Siehe dazu Harald Welzer (unter Mitarbeit von Michaela Christ), Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a.M. 2005.
12 Vgl. Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 1998, S. 596. In Anlehnung an eine von Götz Aly und Christian Gerlach angestoßene Diskussion um die Kritik am Staat als dem Hauptagenten von Genoziden (vgl. Christian Gerlach, Extremely violent societies: an alternative to the concept of genocide, in: Journal of Genocide Research 8 [2006], S. 455-471) könnte man sagen, dass das Problem für den Russischen Bürgerkrieg nicht bestand: Dort vollzogen sich genozidale Prozesse faktisch nichtstaatlich, auch wenn sie vorwiegend von „regulären“ Truppeneinheiten begangen wurden.
13 Vladimir N. Brovkin, Behind the Front Lines of the Civil War. Political Parties and Social Movements in Russia, 1918-1922, Princeton 1994, S. 126ff.
14 Das Wort stammt aus dem Turko-Tatarischen, entspricht dem türkischen „Otaman“ bzw. dem polnischen „Hetman“ und ist eine Abstraktion von „Vater“. Es ist vergleichbar mit dem deutschen Begriff „Herzog“, der militärische wie politische Führerschaft in sich vereinigt. Atamanen nannten sich die politischen Führer des selbstständigen Kosakentums. Nach dessen Ende in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden zarische Amtmänner der Kosaken so bezeichnet, bevor der Begriff dann im Russischen Bürgerkrieg zum Synonym für einen selbstständig handelnden, paramilitärischen Anführer wurde - „Warlord“ ist eine durchaus passende Übersetzung.
15 Peter Waldmann, Bürgerkriege, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 368-389, hier S. 375.
16 Eine Ausnahme war der Vernichtungsfeldzug der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs. Vgl. dazu Jörg Baberowski, Kriege in staatsfernen Räumen: Russland und die Sowjetunion, 1905-1950, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dieter Langewiesche (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 291-309.
17 Vgl. Jörg Baberowski, Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, Frankfurt a.M. 2007, S. 17ff., bes. S. 28, S. 33f.
18 Die russländische Judenheit hatte de facto alle Qualitäten einer Ethnie: eine eigene Sprache, eigene Gebräuche und Religion, eigene Siedlungen, einen eigenen Kulturkreis - schließlich heirateten die russländischen Juden auch überwiegend unter sich. Verglichen mit den Verhältnissen in Westeuropa war das Ausmaß ihrer Assimilierung verschwindend gering.
19 So dominierten im so genannten Ansiedlungsrayon die Juden im Handel, Handwerk und Alkoholausschank. Auch im Dongebiet unterschieden sich „kosakische“ und (meist russischsprachige) „Neusiedlerdörfer“, schließlich auch „deutsche“ Dörfer stark voneinander. „Andere“ waren in der gesamten Ukraine viel leichter zu finden und zu bestimmen als etwa in den russischen Kerngouvernements. Vgl. Hiroaki Kuromiya, Freedom and Terror in the Donbas. A Ukrainian-Russian Borderland, 1870s - 1990s, Cambridge 1998, S. 41f.
20 Die Kosaken waren im Wesentlichen am mittleren und unteren Don ansässige privilegierte Wehrbauern, die in besonderen militärischen Abteilungen den Zaren nicht nur im Kriege, sondern auch bei der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der inneren Ordnung traditionell große Dienste geleistet hatten und als überdurchschnittlich zarentreu galten. Ihr Provinzialismus und ihre relativ große Freiheit im Vergleich zur russischen Landbevölkerung dürfte einiges dazu beigetragen haben. Vgl. Figes, Tragödie (Anm. 12), S. 593ff.
21 Eine beeindruckende Schilderung der daraus resultierenden Atmosphäre entnehme man der Literatur: Michail A. Bulgakow, Die Weiße Garde. Roman, München 1990. Vgl. auch Henry M. Abramson, A Prayer for the Government. Ukrainians and Jews in Revolutionary Times, 1917-1920, Cambridge 1999.
22 Vgl. Geoffrey Swain, The Origins of the Russian Civil War, London 1996, S. 1f.
23 Nestor Ivanovič Machno (1888-1934), einer der bedeutendsten Atamane des russischen Bürgerkrieges, kontrollierte mit seiner Bauernarmee zeitweilig große Teile der östlichen Ukraine.
24 Nikolaj Aleksandrovič Grigorev (1878-1919), Ataman, eroberte Odessa von Franzosen und Weißgardisten. Er kontrollierte zeitweilig das Gebiet des ehemaligen taurischen Gouvernements und war berüchtigt für die Judenpogrome seiner Truppen. 1919 wurde er von Machno in einen Hinterhalt gelockt und ermordet.
25 Peter Kenez, Pogroms and White Ideology in the Russian Civil War, in: John Klier/Shlomo Lambroza (Hg.), Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1992, S. 293-313, bes. S. 292.
26 Das ist auch der wesentliche Unterschied etwa zu deutschen Pogromen im 19. Jahrhundert oder zu „race riots“ in den Vereinigten Staaten. Vgl. Werner Bergmann, Exclusionary Riots: Some Theoretical Considerations, in: Hoffmann/Bergmann/Walser Smith, Exclusionary Violence (Anm. 4), S. 161-184, hier S. 168.
27 Reemtsma, Vertrauen und Gewalt (Anm. 9), S. 467ff.
28 Kenez, Pogroms (Anm. 25), S. 308ff.; ähnlich Nikolaus Katzer, Die weiße Bewegung in Rußland. Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Bürgerkrieg, Köln 1999, S. 275ff., bes. S. 287ff.
29 Oleg V. Budnickij, Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi [Die russländischen Juden zwischen Roten und Weißen] (1917-1920), Moskau 2006, S. 286ff.
30 Zum Gedanken, dass Juden auch als „Substitute“ und „sekundäre Ziele“ Opfer von Pogromgewalt wurden, siehe Hans Rogger, Conclusion and Overview, in: Klier/Lambroza, Pogroms (Anm. 25), S. 314-372, bes. S. 325.
31 GARF (Staatsarchiv der Russischen Föderation, Moskau), f. 5881, op. 2, d. 312, Očerk Govoruchina „Ataman Volynec“ (graždanskaja vojna na Ukraine) Rukopis’. (1927 g.) [Aufsatz von Govoruchin „Der Bandenführer Volynec“ (Der Bürgerkrieg in der Ukraine), Handschrift (1927)], ll. 1 u. 20. Die Quelle gehört zu einem ganzen Komplex von Texten mit Bürgerkriegserinnerungen, die zum großen Teil in der bulgarischen Emigration entstanden sind. Über den Autor ist nichts weiter bekannt.
32 Ebd., l. 9ob. Gajsin war nicht der einzige Ort, den die Truppe von Volynec heimsuchte. Auch in Braclav und Dubno beging sie Pogrome und ermordete Hunderte von Juden. Siehe Feliks Kandel’, Kniga vremen i sobytij. Istorija rossijskich evreev [Das Buch der Zeiten und Ereignisse. Die Geschichte der russländischen Juden], Bd. 3, Moskau 2002, S. 74.
33 Wie Anm. 31, ll. 8 u. 10ob, 11. Vgl. dazu auch den Bericht von Moisej Spielberg in: Elias Heifetz, The Slaughter of the Jews in the Ukraine 1919, New York 1921, S. 405f.
34 Wie Anm. 31, l. 16ob.
35 In dieser Hinsicht waren die Verhältnisse in Gajsin geradezu idealtypisch; vgl. Budnickij, Rossijskie evrei (Anm. 29), S. 320.
36 Wie Anm. 31, ll. 9ob. u. 10.
37 Ebd., l. 16ob.
38 Ebd., l. 9ob.
39 Ebd., l. 17.
40 Ebd.
41 Elias Canetti, Masse und Macht [1960], Frankfurt a.M. 2006, S. 109ff.
42 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [1922], Tübingen 1980, S. 124, S. 140ff. Es ist aber fraglich, ob Webers Begriff der legitimen Herrschaft auf die hier in Rede stehenden Gemeinschaften anwendbar ist.
43 Die Sozialrevolutionäre Partei (SR) war im Gegensatz zu der seit 1907 in „Bolschewiki“ und „Menschewiki“ geteilten Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDRP) eine an ländlichen Interessen orientierte sozialistische Partei, die einige Resonanz unter den Bauern fand. Berühmt und berüchtigt wurde sie durch ihre terroristischen Akte gegen Repräsentanten des zarischen Staates.
44 Roman Koval’/Kostjantin Zaval’njuk, Trahedija otamana Volyncja [Die Tragödie des Atamanen Volynec], Kyïv [Kiev] 2002, S. 11ff.
45 Die ukrainische Rada (Rat) hatte sich Anfang 1918 als Parlament einer unabhängigen Ukraine gegründet, wurde von linken Parteien dominiert und von den Bolschewiki bekämpft. Sehr bald sahen sich die Anführer der Rada-Regierung, der Menschewik Vinničenko und andere Politiker zur Flucht aus Kiev gezwungen. Das so genannte „Direktorium“ unter Petljura trat die Nachfolge der Rada als ukrainische Regierung an, ohne sich jedoch durchsetzen zu können.
46 Wie Anm. 31, l. 1.
47 Ebd., l. 2.
48 Diese Autorität erwies sich als durchaus dauerhaft - noch Anfang der 1930er-Jahre war Volynec nicht aus den Erinnerungen und Reden der Bauern verschwunden, und sein Name spielte eine Rolle, wenn vom Widerstand gegen die Kollektivierung gesprochen wurde, wie der Geheimdienst GPU in einem Bericht festhielt. Zentrales Staatsarchiv der gesellschaftlichen Organisationen (Central’nyi deržavnyi archiv gromads’kych ob’ednan, im Weiteren: CDAGO), f. 1, op. 20, d. 3184, ll. 40-41ob, bes. l. 41.
49 Koval’/Zaval’njuk, Trahedija (Anm. 44), S. 23.
50 Budnickij, Rossijskie evrei (Anm. 29), S. 318.
51 Wie Anm. 31, ll. 2ob u. 3.
52 Rogger, Conclusion (Anm. 30), bes. S. 341f.
53 Wie Anm. 31, l. 6. Moisej Spielberg beziffert die Stärke der Abteilung auf „vierhundert bis fünfhundert Mann“; vgl. Heifetz, Slaughter (Anm. 33), S. 405.
54 Dittmar Dahlmann, Land und Freiheit. Machnovščina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionärer Bewegungen, Stuttgart 1986, S. 102. Generell konnten die Bauern recht wenig mit Ideologien und politischen Programmen anfangen. Siehe Vladimir P. Buldakov, Krasnaja Smuta. Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija [Die roten Wirren. Natur und Folgen der revolutionären Gewalt], Moskau 1997, S. 105ff.
55 Michael Aronson, The Origins of the 1881 Anti-Jewish Pogroms in Russia, Pittsburgh 1990, S. 223; Rogger, Conclusion (Anm. 30), S. 346.
56 Vgl. Buldakov, Krasnaja Smuta (Anm. 54), S. 36.
57 Wie Anm. 31, l. 4ob.
58 Ebd., l. 3ob.
59 Ebd., ll. 3ob, 4.
60 Das wird auch an einer anderen Stelle des Berichts deutlich, wo Govoruchin erwähnt, dass in Haussuchungen bei Juden große Mengen Spekulationswaren gefunden worden seien: Schokolade, Tuch, Leder - Dinge, die viele Menschen seit 1915 nicht mehr zu Gesicht bekommen hätten (ebd., l. 5ob). Womöglich hätte einiges davon auch in christlichen Haushalten gefunden werden können, aber dort wurde selbstverständlich nicht gesucht.
61 Zur Bedeutung des Faktors der Gewaltlust vgl. auch Arthur E. Adams, The Great Ukrainian Jacquerie, in: Taras Hunczak (Hg.), The Ukraine 1917-1921. A Study in Revolution, Cambridge 1977, S. 247-270, bes. S. 262; Abramson, Prayer (Anm. 21), S. 112f. Grundsätzlich zum Lust-element beim Gewalthandeln vgl. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt (Anm. 9), S. 411.
62 Canetti, Masse (Anm. 41), S. 54ff.
63 Wie Anm. 31, l. 4ob.
64 Budnickij, Rossijskie evrei (Anm. 29), S. 310f. Zur Gewalt der zarischen Armee gegen die Juden während des Krieges siehe auch Buldakov, Krasnaja Smuta (Anm. 54), S. 34; Peter Holquist, Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, 1905-21, in: Kritika 4 (2003), S. 627-652.
65 Ein solcher Kult der Gewalt ist ähnlich bei den nicht ohne Grund siegreich aus dem Bürgerkrieg hervorgegangenen Bolschewiki und hier wiederum vor allem bei denjenigen ihrer Mitglieder zu beobachten, die als Kommissare oder Kommandeure direkt an den Kämpfen teilgenommen hatten und ihre Gewaltbereitschaft durch das Tragen militärisch geschnittener Kleidung, Lederjacken und Pistolenhalfter zum Ausdruck brachten. Siehe Baberowski, Terror (Anm. 17), S. 52f.; Figes, Tragödie (Anm. 12), S. 630. Vgl. auch Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des Roten Zaren, Frankfurt a.M. 2005, S. 22f.
66 Wie Anm. 31, ll. 12ob u. 13.
67 Vgl. Buldakov, Krasnaja Smuta (Anm. 54), S. 64; generell zur Bedeutung und Deutung von Begräbnisriten siehe auch Jan Assmann (Hg.), Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich, Göttingen 2005.
68 Wie Anm. 31, l. 12ob u. 13.
69 Ebd.
70 Davon berichtet etwa die Schriftstellerin Anna Saksaganskaja, die 1919 die Besetzung von Ekaterinoslav durch die Truppen von Nestor Machno erlebte und in ihren Memoiren schilderte. Russländisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst (Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstv), f. 1511, op. 1, d. 24, l. 5. Zum Phänomen der Leichenschändung siehe auch Budnickij, Rossijskie evrei (Anm. 29), S. 324.
71 Wie Anm. 31, ll. 19 u. 19ob.
72 Dazu lieferte Machnos Adjudant Èubenko in seinem Tagebuch eine ganze Reihe von Beispielen. CDAGO, f. 5, op. 1, d. 274, l. 24.
73 Wie Anm. 31, l. 6.
74 Ebd.
75 Vgl. dazu in anderem Zusammenhang Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 241ff.; Mann, Demokratie (Anm. 11), S. 50.
76 Als Überblick vgl. z.B. Marie-Janine Calic, Der erste „neue Krieg“? Staatszerfall und Radikalisierung der Gewalt im ehemaligen Jugoslawien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 71-87.
77 Vgl. Alf Lüdtke/Michael Wildt (Hg.), Staats-Gewalt. Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008; Susanne Krasmann/Jürgen Martschukat (Hg.), Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007 (darin v.a. Andrew W. Neal, Foucault in Guantánamo. Eine Archäologie des Ausnahmezustands, und Susanne Krasmann, Folter im Ausnahmezustand?, S. 47-74 bzw. S. 75-96).