1/2008: Gewalt: Räume und Kulturen

Aufsätze | Articles

Am Beispiel des Russischen Bürgerkriegs untersucht der Aufsatz kollektive Gewalthandlungen in staatsfernen Räumen. Gewalt war dort nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch sinnstiftendes Medium. Die Aufzeichnungen des ehemaligen zarischen Offiziers Govoruchin bieten ungewöhnlich detaillierte Einblicke in die Geschehnisse in der ukrainischen Kleinstadt Gajsin. Bei mehreren Pogromwellen des Jahres 1919 ermordete die Truppe des Atamanen (Warlords) Volynec fast die gesamte jüdische Bevölkerung des Ortes. Antisemitismus war dafür nur ein Faktor neben anderen - die neuartige Pogromgewalt hatte vor allem Sinn und Bedeutung für die Kämpfergemeinschaft selbst, die eine Kultur der Gewalt ausbildete. Gewalthandlungen können als Kommunikationsformen verstanden werden, die Gemeinschaft, Autorität und Identität konstituieren. In der historischen Situation des Russischen Bürgerkriegs reproduzierte sich die Gewalt selbst und tendierte zur Entgrenzung. Der 25-jährige Volynec verdankte seine Führungsrolle einem gewissen Organisationsgeschick, vor allem aber einer schrankenlosen Gewaltbereitschaft.
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This article examines acts of collective violence in non-state spaces. Violence is not only a means to achieve certain ends, but also a medium of cultural meaning. The memoirs of the former tsarist officer Govoruchin offer insight into the events that took place in the little Ukrainian town of Gajsin during the Russian civil war. In a series of pogroms the troops of the ataman (warlord) Volynec almost completely annihilated the Jewish population of Gajsin. Antisemitism, however, was only one motivation for this mass killing, for the violence itself also lent meaning to the soldiers’ sense of community, allowing a culture of violence to evolve within a non-state space. Violent actions can be interpreted as forms of communication which produce group cohesion, authority and identity. In the context of the Russian civil war, violence was therefore self-perpetuating and tended towards excess - a process in which the twenty-five-year old Volynec played a leading role on account of his organisational skills and his tendency to indulge in unrestrained violence.

Der Aufsatz behandelt die Gewaltfaszination innerhalb von zwei politisch konträren Intellektuellenmilieus in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Durch eine Gegenüberstellung der Konservativen Revolution der 1920er- und der Neuen Linken der 1960er-Jahre werden Ähnlichkeiten und Unterschiede in den intellektuellen Verhaltensstilen, Denkfiguren und argumentativen Grundmustern herausgearbeitet und jenseits von Skandalisierung und Apologie kontextualisiert. So können einerseits ideengeschichtliche Analogien zwischen beiden Bewegungen aufgezeigt werden, etwa in einem Überlegenheits- und Sendungsbewusstsein sowie in der Behauptung einer bevorstehenden Epochenwende. Andererseits resultierte aus den verschiedenen inhaltlichen Positionen eine unterschiedlich ausgeprägte Handlungsbereitschaft. Während sich die Weimarer Rechtsintellektuellen mehrheitlich als interessierte, wiewohl passive Beobachter von naturwüchsigen Krisenzuständen sahen, verstanden sich nicht wenige Protagonisten der westdeutschen Neuen Linken als handelnde Subjekte eines welthistorischen Entscheidungskampfes - wenngleich auch hier letztlich nur eine Minderheit den Weg aktiver Gewaltausübung einschlug.
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The article examines the fascination with violence harboured in two politically contrary intellectual movements of twentieth century German history. By contrasting the Conservative Revolution of the 1920s with the New Left of the 1960s, the author explores similarities and differences in intellectual conduct, patterns of thought, and argumentation. On the one hand, the comparison of the two intellectual movements reveals analogies, such as their sense of mission and superiority and their claim that they would soon be witnesses of a historical watershed. On the other hand, the ideological differences resulted in opposing attitudes towards personal involvement and violent action. While the majority of Weimar right-wing intellectuals acted as interested, yet passive observers of an almost natural crisis by the early 1930s, many protagonists of the West German New Left saw themselves as subjects of a decisive battle with historic consequences in the late 1960s.

Im multikonfessionellen Libanon bilden die Schiiten von jeher eine periphere und diskriminierte Gemeinschaft. Erst durch einen rapiden, aber unstrukturierten Modernisierungsprozess, durch israelische Kriege gegen die PLO auf libanesischem Boden und die Wirren des libanesischen Bürgerkriegs gelangten sie vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft. Die schiitischen Religionsgelehrten Musa as-Sadr, Muhammad Husain Fadlallah und Hasan Nasrallah haben seit den 1960er-Jahren ihre Gemeinschaft durch die Wiederbelebung und Umdeutung des Schicksals des Prophetenenkels und Imams al-Husain nachhaltig geprägt. Seinen Märtyrertod im Jahre 680 n.Chr. in der Schlacht von Karbala erhoben sie zum Vorbild, sich auch in vermeintlich aussichtsloser Situation für „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ einzusetzen. Durch die aktualisierende Rezeption dieses rebellischen Vorbilds konnten sie eine zuvor quietistische Religiosität in Aktivismus verwandeln. Sie haben ihrer Gemeinschaft damit zu einem stärkeren kollektiven Selbstbewusstsein verholfen, ihr Mut gemacht, auch gewaltsam gegen Diskriminierung, Invasionen und Besatzung aufzubegehren, und ihr zugleich die Grenzen des Machbaren in einer hoch fragmentierten Gesellschaft aufgezeigt. Jenseits von Glorifizierung oder Dämonisierung trägt der Aufsatz zur historischen Einordnung der Hizb Allah und ihrer religiösen Autoritäten bei.
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The Shiite Muslim community of Lebanon has for a long time been a peripheral and discriminated community in multiconfessional Lebanese society. Ironically, it was the rapid and anarchic process of modernisation, the Israeli wars against the PLO on Lebanese soil, and the turmoil of the Lebanese civil war which shifted them from the periphery into the centre of the society. Three Shii religious authorities, Musa as-Sadr, Muhammad Husain Fadlallah and Hasan Nasrallah, rapidly changed their community by reviving and reinterpreting the early rebellion of Imam al-Husain. They extolled his martyrdom as a historical model of ‘righteousness’ and ‘freedom’ against a superior enemy, and thus succeeded in turning quietist religiosity into religious activism. They provided the Shia community with a positive self-image, and encouraged them to rebel, even with the use of force, against discrimination, external aggression and the occupation of their country. At the same time, they demonstrated the limits of what it was possible to achieve in a highly fragmented society. This essay analyses the Hizb Allah and its religious authorities in a historical context without glorifying or demonising them.

Nach 1989/90 wurde kriegerische Gewalt innerhalb Europas auf neue Weise zum Thema und gerade auch für Intellektuelle zu einer unerwarteten Herausforderung. Die Diskussion unter deutschsprachigen Schriftstellern über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien war hauptsächlich eine Debatte um Peter Handke. Sie fungierte als eine Art Stellvertreterdebatte, während engagierte politische Interventionen deutscher Literaten meist ausblieben. In seinen kontroversen Texten seit 1996 versuchte Handke einen ‚dritten‘ Standpunkt jenseits der zweiwertigen Logik des politischen Diskurses in den Medien zur Geltung zu bringen. Dennoch tendierte sein ‚poetischer‘ Blick auf Serbien zunehmend zur politischen Parteinahme, wie etwa seine Annäherung an den in Den Haag angeklagten serbischen Präsidenten Miloševic zeigt. Obwohl seine Sprache eine Alternative zum ‚herrschenden‘ medialen Diskurs suchte, wurde sie wie die Figur ‚Peter Handke‘ letztlich von den Regeln der politischen Öffentlichkeit absorbiert.
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Since 1989-1990, violence occurring in the context of wars in Europe has become the object of new debates, and is posing an unexpected challenge to intellectuals. The discussion among German-speaking authors about the war in former Yugoslavia focused largely on the case of the writer Peter Handke. This debate acted as a substitute for the expression of genuinely political positions on the part of German writers. In controversial texts written since 1996, Handke tried to assert a ‘third’ position beyond the two-pronged logic of political discourse conveyed by the media. Nevertheless, his ‘poetic’ approach to issues concerning Serbia revealed a biased position, as his favourable approach towards the case of the impeached Serbian president Miloševic in Den Haag shows. Although he strove to establish an alternative to the dominant media discourse, the persona ‘Peter Handke’ has, along with the language he uses to describe this situation, since been absorbed by the rules of political publicity.

Dieser Aufsatz widmet sich urbanen „Gegenorten“ im südafrikanischen Durban, die als spezifisch gewaltsame Räume problematisiert und reguliert wurden bzw. werden: Shebeens (populäre, nicht-lizensierte Bars) im frühen 20. Jahrhundert und Bad Buildings (besetzte, „gekidnappte“ Häuser) im beginnenden 21. Jahrhundert. Anhand von eigenen Interviews mit Sicherheitsmanagern, Kriminalitätsanalysten und Planern sowie durch polizeiliche, lokalpolitische und journalistische Berichte wird ein sich wandelndes Verständnis von Gewalt und ihrer Räumlichkeit herausgearbeitet. Die projektierten Räume der Gewalt haben dabei ein zeitliches Pendant, in welchem die jeweilige Gegenwart als Ausnahmezustand pathologisiert wird. Das (selektive) Sichtbar- und Unsichtbarmachen von Gewaltphänomenen durch Expertendiskurse ist der Schlüssel zum Verständnis der unterschiedlichen Stränge einer räumlichen und zeitlichen Verkapselung von Gewalt.
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This paper investigates violent urban spaces in the South African city of Durban which are conceived as problem areas and categorised as ‘other’: Shebeens (popular illegal bars) in the early twentieth century, and bad buildings (‘highjacked’, ‘criminal’ apartment blocks) of today. On the basis of interviews with, and reports written by, local experts such as police, planners, and journalists in pre- and post-apartheid urban South Africa, this article portrays a changing understanding of violence, in which violent spaces - rather than violent individuals in these spaces - become the object of concern and action for local experts. The ‘othering’ of violent spaces is paralleled by the ‘othering’ of violent times: The present is described as a ‘state of emergency’ in each case. The key to understanding the different spatial and temporal strategies of ‘othering’ violence lies in the mechanisms by which expert discourses render violence visible or invisible in specific spaces and times.

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  • Thomas Kühne

    Was ist „massenhafte Gewalt“?

    Probleme einer virtuellen Enzyklopädie von Genoziden und Massakern (und Kriegen?)

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