1. Stolpe, Wałęsa, Kundera –
öffentlicher Diskurs und „lustrationsbegleitende“ Forschung
2. Die Akte als quellenkundliche Herausforderung
3. Denunziation und Informantenwesen als gesellschaftliche Praxis
4. „Ein Gedächtnis wie ein Elefant“ –
Geheimpolizeiakten als alltagshistorisches Archiv
1. Stolpe, Wałęsa, Kundera –
öffentlicher Diskurs und „lustrationsbegleitende“ Forschung
Noch immer machen sie Schlagzeilen in der postkommunistischen Welt – die Enthüllungen über Informanten und Agenten der kommunistischen Geheimpolizeien. Was in Ostdeutschland mit den Debatten um Ibrahim Böhme, Lothar de Maizière oder Manfred Stolpe begann, setzte sich fort mit den Affären um Milan Kundera in Tschechien oder Lech Wałęsa in Polen.1 Überall dort, wo die Akten geöffnet wurden, verschob sich die Aufmerksamkeit – weg von den Offizieren der Geheimpolizeien oder den Funktionären der Kommunistischen Parteien. Ein ganz eigener Diskurs entstand um die Frage der Belastungen von Politikern und öffentlichen Autoritäten als Denunzianten und angeworbenen Informanten des vergangenen Systems. Der „inoffizielle Mitarbeiter“ oder „IM“, um dem deutschen Sprachgebrauch zu folgen, hat sich als symbolische Verdichtung in die Sprache des Postkommunismus eingebrannt.2
Die Dynamik und die Intensität der Debatte um die „Lustration“ (Reinigung), wie sie in Ostmitteleuropa genannt wird, lassen sich allein aus Instrumentalisierungen von kommunistischer oder antikommunistischer Seite nicht erklären. Dahinter stecken politisch-moralische Grundfragen von Verrat und Glaubwürdigkeit. Das Informantenwesen steht für die fortdauernde Präsenz des totalitären Anspruchskerns kommunistischer Herrschaft im Alltagsleben einer Gesellschaft, die im Poststalinismus die relative Trennung von privatem und öffentlich-offiziösem Leben praktizierte. Es symbolisiert die konstitutive Bedeutung von Überwachung und Kontrolle in einem Gesellschaftsmodell, das der Sicherheit des Parteistaates den Vorzug vor den Kontingenzen sozialer Vielfalt gab. In den Fokus rückten vor allem Repräsentanten jener Milieus, die fehlende intermediäre Institutionen und Artikulationsräume ersetzten (oder dies zumindest beanspruchten) – wie Schriftsteller, Repräsentanten der Kirche oder Dissidenten und ihre Anwälte.
Die als institutionelle und symbolische Kerne dieses Diskurses geschaffenen Aufarbeitungsämter verknüpfen mehrere Funktionen (Archiv, Akteneinsicht und Lustration, justizielle [Vor-]Ermittlungsstelle); sie umfassen einen eigenen Typ von Forschungs- und Bildungseinrichtung mit hauseigenem wissenschaftlichem Stab.3 Ihre Aufgabendefinitionen folgen den jeweiligen nationalen geschichtspolitischen Konzeptualisierungen, zum Teil unter Einschluss der deutschen Besatzung als „doppelter Fremdherrschaft“. Zu den Ämtern selbst kommen Diskursakteure aus Politik und Medien sowie Autoritäten der öffentlichen Meinung wie ehemalige Oppositionelle, Schriftsteller oder Weggefährten der zur Debatte stehenden Personen. Historiker spielen in diesem Diskursraum mehrere Rollen: als „Kläger“ und „Enthüller“, oft aus den Forschungsstäben der Sonderbehörden heraus, und als öffentliche „Beglaubiger“ von Authentizität und Glaubwürdigkeit der Akten. Als Berater für Politik, Verwaltung, Justiz und Geheimdienste waren und sind sie äußerst gefragt.4 Damit entstand ein ganz eigener Zweig der Zeitgeschichte, den man als „lustrationsbegleitende“ Forschung bezeichnen könnte. Sie assistiert bei der Untersuchung und Bewertung von Einzelfällen, verfolgt mögliche Fälschungen und recherchiert in den Beständen nach markanten Persönlichkeiten. In Deutschland hat sich diese Lustrationsforschung am stärksten entwickelt. Hier durchkämmt eine eigene Gattung von Forschern zum Beispiel im Auftrag von Rundfunkanstalten oder berufsständischen Organisationen gesellschaftliche Sektoren auf inoffizielle Mitarbeiter.5
Der wissenschaftliche Reiz der Lustrationsforschung liegt auf der Hand, denn wo sonst lässt sich so genau nachvollziehen, wie ein Regime sein Sicherheits- und Kontrollbedürfnis gegenüber der Gesellschaft umgesetzt hat? Doch präformiert dieser Modus von „Public History“ zugleich die Fragestellungen und die gesamte Arbeitsweise der Forschung: Die Analyse- und Wahrnehmungskategorien folgen dicht den Begriffssystemen der Geheimpolizei; die Aufmerksamkeit richtet sich fast ausschließlich auf formell angeworbene Informanten, während alle anderen Formen der Kooperation mit den Repressionsapparaten (offizielle Kontakte, spontane Denunziationen usw.) kaum beachtet werden. Die Akten gelten strukturell als glaubwürdig; retrospektive Aussagen der Beteiligten stehen naturgemäß unter Verschleierungsverdacht, der durch nachweisliche Falschaussagen in diversen Einzelfällen untermauert wurde.6 Alternative Überlieferungen aus dieser Welt des Geheimen gibt es in der Regel nicht. Diese Effekte führen zur „Reifizierung“ der Stasi-Akten und ihrer Inhalte, zur unwillkürlichen Übernahme von Vokabular, Denkmustern und Logiken von Fallerzählungen aus der polizeibürokratischen Verschriftlichung.7 Das beginnt mit der unkritischen Verwendung des Begriffs „IM“ in der deutschen Debatte und setzt sich fort in der Ausdeutung der Informantenakten (etwa bei der Suche nach Motiven) sowie in der verbreiteten Vorannahme, die IM-Verpflichtung überstrahle gleichsam alle anderen Daseins-Dimensionen einer Person. Aus den Erfahrungen der Debatten um Milan Kunderas vermeintliche oder tatsächliche Denunziation von 1950 lässt sich mit Muriel Blaive bilanzieren: „This gradation in different shades of gray in social perception of guilt is missing in the Czech Republic as in most other ex-socialist countries.“8
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2. Die Akte als quellenkundliche Herausforderung
Den politik- und mediennahen Lustrationsforschern steht die etablierte akademische Fachwissenschaft in skeptischer Distanz gegenüber. Sie fremdelt mit der tagespolitischen Debatte und lässt überdies erkennen, dass sie Geheimdienstberichte – insbesondere Informantenakten – als Quelle für höchst suspekt, wenn nicht für wertlos hält. Diese Akten gelten als anrüchige Kuriosa, von einer auf Lug und Trug spezialisierten Institution produziert; sie seien deshalb unglaubwürdig und für die historische Analyse belanglos. Hinter dem Aufruf zur Wissenschaftlichkeit ist mitunter ein gewisser Hang zu erkennen, die Urteile über Personen oder gesellschaftliche Verhältnisse aus der Zeit vor der Aktenöffnung nicht revidieren zu wollen.9
Dabei wäre es völlig unangebracht, aufgrund der Engführungen und Verzerrungen das Erkenntnispotenzial der Informantenakten zu ignorieren und das Informantenwesen als gesellschaftliche Praxis der Diktatur zur Seite zu schieben. Zur Überwindung des Aktenpositivismus ist es allerdings notwendig, den Entstehungszusammenhang der Akten quellenkundlich zu reflektieren. Vor allem ist ein genauer Blick auf den polizeibürokratischen Kontext zu richten: So beförderte der Erfolgsdruck der MfS-Mitarbeiter die Neigung zu „aufgehübschten“ Bilanzen, etwa bei der Häufigkeit der Treffs oder des Wertes einzelner Informationen. Ein verzerrtes Bild ist auch bei den Einträgen zur Persönlichkeit der angeworbenen Informanten zu erwarten, zumal „politische Überzeugung“ intern als reputabelstes Werbemotiv galt, während etwa Angst vor Sanktionen dem Selbstbild der „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ weniger entsprach und nur bei der Anwerbung aus „feindlichen Milieus“ heraus akzeptiert war. Generell ist eine ideologische Präformation unübersehbar. Die Aktensprache goss die Komplexität der Informantenpraxis in ein immer elaborierteres Begriffs- und Sprachregelungssystem, das mit der informellen Sprachwelt der Führungsoffiziere wenig zu tun hatte. Diese polizeibürokratische Normierung ist zu dekonstruieren, um die Dokumente sowohl für eine angemessene Würdigung des Einzelfalls wie auch für übergreifende Fragestellungen fruchtbar zu machen. Welches Potenzial darin schlummert, hat die Arbeit mit Polizei- und Justizakten in den epochemachenden Werken der neueren akteurszentrierten NS-Forschung, aber auch zur Alltagsgeschichte der Frühen Neuzeit gezeigt.10 Mit solchen Aktentypen haben die Informantendokumente die ähnliche bürokratische Textgestalt und die spezifische „Erzählhaltung“ der Berichtenden gemeinsam.
Rüstzeug für die Quellenkritik liefert eine stärkere Einbettung in Forschungskontexte jenseits der auf diesem Gebiet vorherrschenden Totalitarismustheorie. Bereits erprobt wurde ein psychoanalytischer Zugriff: Darin werden Rollenmuster wie dasjenige des Führungsoffiziers als eines „väterlichen Freunds“ bei verunsicherten jungen Leuten herausgearbeitet.11 Solche Deutungsangebote passen in das Bild einer autoritären, paternalistischen Gesellschaftsstruktur, sie fördern aber die Pathologisierung der DDR-Gesellschaft in der Tradition Hans-Joachim Maaz’.12 Von einer soziologischen und sozialgeschichtlichen Analyse des Informantenwesens sind wir hingegen noch weit entfernt. Schon die öffentlich verhandelten Fallgeschichten lassen ahnen, wie unterschiedlich die Typen von Zuträgerschaft waren. Der eine fügte sich voller Angst und widerwillig, ein anderer kannte nichts als die staatsbürgerliche Pflichterfüllung oder wollte seinen Status nicht gefährden, mancher realsozialistische Lebenskünstler versuchte mit der geheimen Liaison vor allem „eigensinnige“ persönliche Belange zu verfolgen, wieder andere wollten „gestalten“ oder ihr Milieu schützen, und schließlich gab es da auch noch den kämpferischen Enthusiasmus des überzeugten Kommunisten.
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3. Denunziation und Informantenwesen als gesellschaftliche Praxis
Es ist zweckmäßig, das Informantenwesen in die Sozial- und Kulturgeschichte der Denunziation einzuordnen, die mit der Konjunktur der Täterforschung zum Nationalsozialismus und der Forschung zum sowjetischen Stalinismus neue Impulse bekommen hat.13 Diese Forschung zu den beiden klassischen totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts hat die spezifische Mischung von ideologischen und „eigensinnigen“ Antrieben und Motivlagen herausgearbeitet, die die soziale Praxis von Denunziation und Informantenwesen prägten, etwa durch die Anzeige privater Widersacher als politischer Gegner oder die Mobilisierung von Ausgrenzungsbedürfnissen gegenüber „Asozialen“, Fremdartigen usw. Ausmaß und Charakteristik des Informantenwesens lassen auch Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Basis und den Durchdringungsgrad zu. Damit sind die gängigen Interpretationen der öffentlichen Debatte auf den Prüfstand zu stellen: Dies gilt für die Selbstwahrnehmung als doppelte Opfernationen (wie zum Beispiel in Polen, Tschechien und den baltischen Republiken), in der Denunziation und Informantenwesen als Kollaboration mit den Fremdherrschaften aus der „eigentlichen“ Gesellschaft abgespalten werden. Auch die mittlerweile im Diktaturvergleich kanonisierte, aber empirisch eher wankende Gegenüberstellung von NS-Deutschland mit kleinem Informantennetz, hoher spontaner Denunziationsrate und folglich breiter gesellschaftlicher Basis einerseits, der DDR mit großem Informantennetz, geringer spontaner Denunziation und folglich schwacher Zustimmung in der Bevölkerung andererseits bedarf der Prüfung. Schließlich sind die beiden Referenzsysteme auch deshalb von Belang, weil sie gegenseitig als Legitimation der Denunziationspraxis dienten. Dies setzte sich im „Antifaschismus“ nach 1945 fort. So spielte etwa in Rumänien und der DDR die Anwerbung einstiger Anhänger der rechten Regime zur Kontrolle der postfaschistischen Gesellschaft eine erhebliche Rolle.14
Einen Einstieg in die genauere Betrachtung gibt die Statistik. Mit der Durchsetzung der kommunistischen Regime ging ein rasanter Ausbau der Informantennetze einher. In Polen etwa explodierten die Zahlen der registrierten „Geheimen Mitarbeiter“ (tajny współpracownik – TW) auf 50.000 (1949), dann sogar 85.000 (1953). Ähnliche Werte sind (auf weniger sicherer Quellenbasis) für viele andere Länder des sowjetischen Hegemonialbereiches überliefert.15 Ziel war es, ein breit angelegtes Denunziationsregime zu errichten, hinter dem die Kultur eines militanten Ausnahmezustandes stand, wie sie bereits die Sowjetunion in den „extraordinary times“16 der 1930er-Jahre geprägt hatte. Kern dieser Kultur war die Denunziation durch Kommunisten im engeren Sinne, also durch Parteimitglieder. Sie stellten einen erheblichen Teil der angeworbenen Informanten, und sie waren darauf konditioniert, ihren Aufbau-Enthusiasmus in eine Haltung der Bedenkenlosigkeit zu wenden, die sich über tradierte Regeln zwischenmenschlicher „Anständigkeit“ stellte.
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Bis 1953 gebar diese Mentalität auch in den Satellitenstaaten den „kannibalistischen“ Zug der innerparteilichen Denunziation, die mit der Rückkehr der Exilkommunisten aus Moskau importiert worden war. Die Denunziation innerhalb der Partei schwächte sich später ab, lebte als verinnerlichte Norm der Kommunisten gegenüber dem „Feind“ in der Gesellschaft jedoch weiter. Zu erforschen wäre, wie stabil diese Haltung in späteren Jahren und schließlich in der Finalitätskrise der sozialistischen Staaten blieb. So lässt sich argumentieren, dass im Poststalinismus dieser Enthusiasmus an Kraft verlor und das geheime Informantentum von Kommunisten zu einer gleichsam gedankenlosen Routine degenerierte. Doch auch hier bleibt die Frage, wie sich diese Legitimation etwa zum Wert persönlicher Freundschaften oder den Maximen des bürgerlichen oder proletarischen „Anstands“ verhielt.
Jenseits der enthusiastischen Aufbauphase ist bei der Massenanwerbung der Nachkriegszeit eine gewisse Wahl-, ja geradezu Besinnungslosigkeit nicht zu übersehen. Damit verbunden war eine extrem hohe Fluktuation: Die Geheimpolizeien warben Zehntausende aus allen Gesellschaftsschichten ad hoc und meist unter massivem Druck an, doch die in die Kooperation Gepressten entzogen sich bei der ersten Gelegenheit wieder. Eine typische Begleiterscheinung in der DDR war die schnelle Flucht in den Westen. Erste Fallstudien zeigen zudem, dass hinter dem Firnis vordergründiger politischer Bekenntnisse ein weites Feld ganz unterschiedlicher Motive und Vorteilsnahmen zum Vorschein kommt.17
Die Entstalinisierung führte zu einem schnellen Abbau dieser mit „toten Seelen“ durchsetzten Netze. Nach der Bereinigung professionalisierten und formalisierten die Geheimpolizeien ihr Informantenwesen, allerdings mit unterschiedlichen Ausprägungen. In der DDR begann der selbst im Ostblockmaßstab solitäre Ausbau und erreichte Mitte der 1970er-Jahre einen Höhepunkt von (je nach Schätzung) 180.000 bis 200.000 inoffiziellen Mitarbeitern.18 Danach setzte ein langsames Absinken der Informantenzahlen ein (auf zuletzt rund 173.000 innerhalb der DDR). Die Zahlen folgten also gleichsam der „Erfolgs“-Kurve der Systemstabilität insgesamt. Offen ist jedoch ihre Interpretation: Zeigen die enorm hohen Daten die Stärke der totalitären Durchdringungskraft des Systems, oder waren sie ein Symptom des Legitimitätsmangels und des Zwangs zur formalisierten Anwerbung mit oftmals langwierigen Bindungsbemühungen? Zumindest in der Tendenz ähnliche Trends sind für die Sowjetunion und Rumänien zu erkennen.19 Nach Stalins Tod reduzierte das neu gebildete KGB das Informantennetz um zwei Drittel. 1967 soll es dort 166.000 Informanten gegeben haben. Für die Securitate gehen die Zahlen seit den 1960er-Jahren ebenfalls in die Hunderttausende. In Polen, der ČSSR und Ungarn war der Zenit im Poststalinismus hingegen überschritten. Nach Tiefpunkten (Ungarn 1953, Polen 1956, ČSSR 1968) stiegen die Werte nur langsam. In Polen brachte erst die Solidarność-Bekämpfung wieder knapp 70.000 TW. In Ungarn blieben die Zahlen relativ konstant niedrig – mit rund 10.000 Informanten in den 1980er-Jahren.20
Die Fülle der Fragen, die sich an solche Globalbetrachtungen anschließen, kann hier nur angedeutet werden: Die bereits erkennbare Überrepräsentation staatsnaher Eliten (KP-Mitglieder, Angehörige der bewaffneten Organe und Nomenklaturkader) deutet auf ein Opportunitätskalkül sowie Anpassungs- und Karrierestrategien aufstiegsorientierter Gesellschaftsschichten. Für die Bevölkerung jenseits des staatsnahen Milieus wird man eigene analytische Zugriffe suchen müssen, die den erwähnten Ambivalenzen von Druck, Untertänigkeit und „eigensinnigen“ Opportunitäten Rechnung tragen. Letztlich ist es erforderlich, die soziale Praxis des Informantenwesens in ein Gesamtpanorama der Staat-Einwohner-Beziehungen in kommunistischen Diktaturen einzubetten.
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4. „Ein Gedächtnis wie ein Elefant“ –
Geheimpolizeiakten als alltagshistorisches Archiv
Die Vielzahl und Breite der Informantenberichte eröffnet einen direkten oder indirekten Einblick in Alltagsphänomene und Denkwelten. Solche Berichte stellen eine Mischung zwischen Polizeiprotokollen und Tagebüchern, Briefen oder anderen Ego-Quellen dar. Anders als die gängigen makroanalytischen Berichtsquellen aus Partei, Staatsorganen und Geheimpolizei sind sie auf der Mikroebene des gesellschaftlichen Lebens angesiedelt. Sie informieren über einzelne Personen und konkrete Szenerien und Milieus, sie thematisieren alltägliche Begebenheiten aus den Kommunikationsräumen von Nachbarschaft, Bekanntenkreis, Arbeitskollektiven und Gremien, in denen sich typischerweise die halbprivate „kleine Öffentlichkeit“ konstituierte. (Entgegen gängigen Stereotypen stellte die Berichterstattung aus Familie und Partnerschaft hingegen eher ein nachrangiges Feld dar.) Hinzu kommt die Vorliebe der Geheimpolizei und ihrer Informanten für das Gerücht, für das pikante Detail, für den atmosphärischen Hintergrund. So problematisch diese „Registerfarben“ für die Charakterisierung individueller Personen sind, so reichhaltigen Stoff bieten sie für Mentalitäts- und Milieustudien aus dem „tiefsten Inneren“ der Gesellschaft: „Die kommunistische politische Polizei [hatte] offensichtlich ein Gedächtnis wie ein Elefant. […] Ein Polizeibericht kann falsch sein in Bezug auf eine bestimmte Person, über die er berichtet – aber das muss keineswegs heißen, dass das Bild der Gesellschaft, das sich aus vielen solcher Berichte zusammensetzt […], deshalb auch falsch sein muss.“21
Eine bemerkenswerte Exploration dieser Art hat Georg Wagner-Kyora mit seiner Rekonstruktion der Selbst- und Weltbilder von Chemikern und Ingenieuren der mitteldeutschen Chemieindustrie geliefert.22 Er baut aus Dutzenden von IM-Akten ein tiefes und detailliertes Portrait dieses Milieus der „technisch-wissenschaftlichen Intelligenz“. Dabei gelingt es ihm, ganz entgegen den vordergründigen Investigationsrichtungen der Geheimpolizei differenziert Interessen- und Motivlagen der Wissenschaftler und Ingenieure zu rekonstruieren. So entsteht eine dichte Beschreibung des defensiven, aber durchaus selbstbewussten Gemeinschaftsdenkens mehrerer Generationen von „alter“ und „neuer Intelligenz“.
Natürlich hatte nicht jeder Einwohner eine solche Überwachungsdichte zu ertragen wie die prominentesten Dissidenten, doch die Informantenberichte liefern für viele Bereiche eine ergiebige Überlieferung, die klassische Ego-Dokumente wie Tagebücher und Briefwechsel ergänzt oder (angesichts der offenbar geringen Zahl von Tagebuchüberlieferungen) ersetzt. Ihr „Überrest“-Charakter hebt sie zudem von retrospektiv produzierten Ego-Quellen wie Memoiren und Oral-History-Interviews ab, die aufgrund der „Umwertung aller Werte“ im Epochenbruch von 1989/90 die Quellenkritik nicht minder fordern.23 Vielleicht erscheint es noch zu früh, eine solche Lesart „gegen den Strich“ zu versuchen, jenseits des Leids, das sich mit dem Entstehungszusammenhang dieser Akten verbindet. Aber das Potenzial ist da, und es wäre nicht der schlechteste Zweck, wenn sich mit diesen Akten der Alltag im Kommunismus besser verstehen ließe.
1 Einen Überblick zur Debatte um Milan Kundera liefert: Die Kundera-Affäre – ein Dossier (zuletzt aktualisiert am 10.12.2008), online unter URL: http://www.perlentaucher.de/artikel/5040.html. Zu Wałęsa: Sławomir Cenckiewicz/Piotr Gontarczyk , SB a Lech Wałęsa. Przyczynek do biografii [Die Staatssicherheit und Lech Wałęsa. Ein Beitrag zu seiner Biografie], Warszawa 2008; vgl. Karol Sauerland, Schleppende Lustration in Polen. Streit um das Buch „Der Sicherheitsdienst und Lech Wałęsa“, in: Horch und Guck 62 (2008), S. 58ff.
2 Vgl. Jens Gieseke, Die Stasi und ihr IM, in: Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 98-108; Thomas Großbölting, Die DDR als „Stasi-Staat“? Das Ministerium für Staatssicherheit als Erinnerungsmoment im wiedervereinigten Deutschland und als Strukturelement der SED-Diktatur, in: ders. (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 50-73, hier S. 57.
3 Vgl. Agnès Bensussan/Dorota Dakowska/Nicolas Beaupré (Hg.), Die Überlieferung der Diktaturen. Beiträge zum Umgang mit Archiven der Geheimpolizeien in Polen und Deutschland nach 1989, Essen 2004.
4 Als Klassiker auf diesem Gebiet: Helmut Müller-Enbergs (Hg.), Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Teil 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, Berlin 1996.
5 Exemplarisch aus der neueren Literatur: Francesca Weil, Zielgruppe Ärzteschaft. Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Göttingen 2007; Jochen Staadt/Tobias Voigt/Stefan Wolle, Operation Fernsehen. Die Stasi und die Medien in Ost und West, Göttingen 2008.
6 Exemplarisch Jochen Staadt, Persilschein vom Führungsoffizier. Lügen die Akten von damals oder schwindeln ihre Verfasser heute?, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 20 (2006), S. 142-161.
7 Vgl. Ralph Jessen, Diktatorische Herrschaft als kommunikative Praxis. Überlegungen zum Zusammenhang von „Bürokratie“ und Sprachnormierung in der DDR-Geschichte, in: Alf Lüdtke/Peter Becker (Hg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S. 57-75.
8 Muriel Blaive, The Opening of the Archives of a Communist Political Police. The Case of the Czech Republic, from Zdena Salivarová to Milan Kundera, unveröffentlichter Vortrag, München 2009, S. 14. Ich danke Muriel Blaive für die Zitiererlaubnis.
9 Der wissenschaftliche Rat der tschechischen Akademie der Wissenschaften nahm den Kundera-Artikel als Beleg für das „Fehlen eines kritischen wissenschaftlichen Denkens“; siehe Stanovisko Akademie věd ČR k případu Milana Kundery, 21.10.2008, online unter URL: http://www.oralhistory.cz/soubory/Akademicka%20rada-stanovisko_kundera.pdf [Anm. der Red.: Link nicht mehr aktuell]. Vgl. auch Pierre Nora/Krzysztof Pomian, Un nouveau procès kafkaïen à Prague, in: Le Monde, 25.10.2008. Die eingeforderte quellenkritische Prüfung des Falles und seiner Akten brachte allerdings keinerlei neue Gesichtspunkte.
10 Vgl. die Überlegungen zu NS-Justizakten: Stephan Lehnstaedt, Mehr als nur die Verbrechen. Kulturgeschichtliche Fragen an Justizakten, in: Jürgen Finger/Sven Keller/Andreas Wirsching (Hg.), Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen 2009, S. 167-179, und als einflussreiches Werk der Frühneuzeitforschung: Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt a.M. 1979, Tb.-Ausg. 6. Aufl. Berlin 2007.
11 Ingrid Kerz-Rühling/Tomas Plänkers, Verräter oder Verführte. Eine psychoanalytische Untersuchung inoffizieller Mitarbeiter der Stasi, Berlin 2004.
12 Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990.
13 Exemplarisch: Sheila Fitzpatrick/Robert Gellately (Hg.), Accusatory Practices. Denunciations in Modern European History 1789–1989, Chicago 1997.
14 Dennis Deletant, Rumänien, in: Łukasz Kamiński/Krzysztof Persak/Jens Gieseke (Hg.), Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991, Göttingen 2009, S. 341-393, hier S. 377; Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2006.
15 Vgl. die Daten in: Kamiński/Persak/Gieseke, Handbuch der kommunistischen Geheimdienste (Anm. 14).
16 Sheila Fitzpatrick, Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times. Soviet Russia in the 1930s, Oxford 1999.
17 Susanne Muhle, Mit „Blitz“ und „Donner“ gegen den Klassenfeind. Kriminelle im speziellen Westeinsatz des Ministeriums für Staatssicherheit, in: dies./Hedwig Richter/Juliane Schütterle (Hg.), Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch, Berlin 2008, S. 159-167.
18 Daten vor 1985 basieren auf Rückrechnungen; vgl. Helmut Müller-Enbergs (Hg.), Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Teil 3: Statistiken, Berlin 2008, S. 35; Kamiński/Persak/Gieseke, Handbuch (Anm. 14), S. 241.
19 Ebd., S. 93, S. 375ff.
20 Ebd., S. 311, S. 437f., S. 544; Tadeusz Ruzikowski, Tajn współpracownicy pionów operacyjnych aparatu bezpieczeństwa 1950–1984 [Geheime Mitarbeiter in den operativen Bereichen des Apparates der Staatssicherheit 1950–1984], in: Pamięc i Sprawiedliwość [Gedenken und Gerechtigkeit] 3 (2003), S. 109-131.
21 Marcin Kula, Was ich aus den legendären „Mappen“ erfahren möchte, in: Bensussan/Dakowska/Beaupré, Überlieferung der Diktaturen (Anm. 3), S. 195-203, hier S. 199, S. 202.
22 Georg Wagner-Kyora, Vom „nationalen“ zum „sozialistischen“ Selbst. Zur Erfahrungsgeschichte deutscher Chemiker und Ingenieure im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2009.
23 Vgl. Dorothee Wierling, Die Stasi in der Erinnerung, in: Jens Gieseke (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 187-208; Julia Obertreis/Anke Stephan (Hg.), Erinnerungen nach der Wende. Oral History und (post)sozialistische Gesellschaften, Essen 2009.