Fraenkels »Doppelstaat« als Rechtsgeschichte

Arbeitsrecht und Politik während der NS-Diktatur

  1. Neue Sichtweisen auf ein altes Regelungsproblem
  2. Vom Privatrecht ins öffentliche Recht.
    Die Kriminalisierung von Vertragsbrüchen
  3. Die Sanktionspraxis der Strafgerichte und Behörden
  4. Fazit: Grenzverschiebungen und Funktionswandel des Rechts

Anmerkungen

Ernst Fraenkels Buch »Der Doppelstaat« zählt zu den bekanntesten Studien über die nationalsozialistische Herrschaft. Besonders in jenem weiten Forschungsfeld, das auf die Analyse der deutschen Staatlichkeit zwischen 1933 und 1945 abzielt, kommt kaum eine Untersuchung ohne eine würdigende Referenz auf Fraenkels Arbeit aus. Zusammen mit Franz Neumanns »Behemoth« gilt sie als Pionierstudie der NS-Herrschaftsgeschichte.1 Trotz der prominenten Stellung des »Doppelstaats« ist die Rezeptionsgeschichte des Klassikers lückenhaft. Zum einen hinterlassen viele NS-Forschungen den Eindruck, dass sie auf Fraenkel eher pflichtschuldig und in kanonischer Absicht verweisen. Zumindest haben nur wenige Historikerinnen und Historiker den Versuch unternommen, Fraenkels Annahmen produktiv in die eigenen Forschungen zu übertragen. Zum anderen muss festgestellt werden, dass die Rezeption einem grundlegenden Missverständnis aufsitzt, denn Fraenkels Absicht bestand nicht nur darin, die Struktur des NS-Staats freizulegen. Im Kern erweist sich »Der Doppelstaat« als eine zutiefst rechtshistorische Untersuchung.

Die oberflächliche Rezeption hat verschiedene Gründe. Einer liegt in der besonderen Publikationsgeschichte des »Doppelstaats«. So hatte Fraenkel seine Studie bereits zwischen 1936 und 1938 in Deutschland verfasst. Nachdem der jüdische Arbeitsrechtler sein Manuskript mit Hilfe eines französischen Botschaftsangehörigen ins Ausland schmuggeln konnte und er selbst über England in die USA emigriert war, ließ er es dort ins Englische übersetzen. 1941 veröffentlichte er die Arbeit unter dem Titel »The Dual State«. Obwohl er nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückkehrte, vergingen einige Jahrzehnte, bis er seine Publikation ins Deutsche zurückübersetzen ließ. Im Dezember 1974, vier Monate bevor Fraenkel in Berlin verstarb, erschien »Der Doppelstaat«. Erst jetzt fand seine Untersuchung Eingang in die (deutsche) Geschichtswissenschaft.2 Auch wenn sie dort auf Anerkennung traf, galten ihre Ergebnisse bereits als weitgehend überholt.3

Das führt zur zweiten Ursache der disparaten Fraenkel-Rezeption. »Der Doppelstaat« ist oftmals fehlgedeutet worden. Bis heute findet sich in Standardwerken zur NS-Herrschaft die Lesart, Fraenkel sei von einem starren Dualismus zweier Herrschaftssäulen ausgegangen, dem »Normenstaat« und dem »Maßnahmenstaat«. Ersterer werde durch die traditionelle Ministerialbürokratie mit ihren vermeintlich rationalen und effizienten Verwaltungsroutinen repräsentiert, letzterer durch die NSDAP und andere »nationalsozialistische« Organisationen wie die Gestapo oder SS. In zahlreichen Machtkämpfen zwischen Partei und Verwaltung sei es dem Maßnahmenstaat schließlich gelungen, den Normenstaat auszuhöhlen.4 Zu Recht haben einzelne Forscher bemängelt, dass dieser Dualismus zu schematisch zwischen staatlichen und Parteiorganisationen trenne und dazu andere wichtige Akteure außer Acht lasse, auf ökonomischer Ebene etwa die in den Reichsgruppen aufgegangenen und in den Arbeitsbeziehungen weiterhin als Lobbyisten tätigen Wirtschaftsverbände.5

Dieser Kritik ist fraglos zuzustimmen. Das Problem ist nur: Sie zielt an Fraenkels »Doppelstaat« vorbei. Weder postulierte der ehemalige Arbeitsrechtler eine klare Zuordnung der NSDAP zum »Maßnahmenstaat« und der Bürokratie zum »Normenstaat«, noch behauptete er, dass die Grenze zwischen Staat und Partei starr verlaufe. Fraenkel warnte sogar explizit vor einer solchen Deutung. In seiner Einleitung erklärte er: »Um Mißverständnisse auszuschalten, möchte ich bereits hier ausdrücklich betonen, daß ich nicht das Nebeneinander von Staats- und Parteibürokratie im Auge habe, wenn ich vom ›Doppelstaat‹ spreche.« Und er fügte an: »Sowohl Partei als auch Staat im engeren Sinne betätigen sich im Bereich des Normenstaats und des Maßnahmenstaats.«6

Erklären lässt sich die Fehlinterpretation des »Doppelstaats« zum einen damit, dass Fraenkel seine beiden Analysekategorien, den Maßnahmen- und den Normenstaat, eingangs relativ unscharf definierte.7 Die Leserinnen und Leser müssen sich diese Kategorien weitgehend selbst erschließen. Zum anderen rezipiert die historische Forschung den »Doppelstaat« primär als Politikgeschichte. Übersehen wird damit jedoch die rechtshistorische Grundierung von Fraenkels Arbeit. Sein Ziel war es, das Verhältnis von Recht und Politik darzustellen. Hierzu unterschied er analytisch zwischen einer Rechtspraxis »der unbeschränkten Willkür und Gewalt«, die durch »keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist«8 (Maßnahmenstaat), und einer Rechtspraxis, welche die Prinzipien der Rechtssicherheit aufrechterhält (Normenstaat). Der Normenstaat beruht auf den Prinzipien der Verlässlichkeit, Rationalität und Kontrollierbarkeit. Das heißt: Er funktioniert nach Regeln, die von allen einsehbar sind, denen alle gleichermaßen unterworfen sind und an deren Verbindlichkeit nicht gezweifelt wird. Der Maßnahmenstaat nutzt zwar Regeln zur Durchsetzung eines politischen Willens, doch inwiefern er an diese Regeln gebunden ist und in welchem Maße sie dauerhaft und für alle gleichermaßen gelten, steht unter Vorbehalt. Während der Normenstaat durch Rechtssicherheit gekennzeichnet ist, wird sein Pendant von Rechtsunsicherheit bestimmt.9

Normen- und Maßnahmenstaat sind die beiden Kategorien, zwischen denen Fraenkel seinen eigentlichen Analysegegenstand verortete. Dieser bezog sich eben nicht auf die Machtkämpfe zwischen NSDAP und Ministerialbürokratie; vielmehr fragte Fraenkel nach den damaligen Rechtspraktiken der verschiedenen Akteure aus Regierung, Partei und Justiz. Nicht die Akteure lassen sich aus seiner Perspektive dem Normen- oder Maßnahmenstaat zuordnen; es sind deren Handlungen in Form von Rechtsetzung, -durchsetzung und -aneignung, die zu bewerten sind. Fraenkels Studie liegt also ein praxeologischer Rechtsbegriff zugrunde. Auf dieser Basis untersuchte er anhand von Gesetzen, Verordnungen und Gerichtsurteilen den Funktionswandel von Recht während der NS-Diktatur. Seine Studie zielte darauf ab, sowohl den erodierenden Schutz der Bürger vor dem Staat als auch den Einbruch der Politik in das Recht darzustellen.

Im Folgenden wird der Nutzen von Fraenkels Methode am Beispiel des Arbeitsrechts sichtbar gemacht. Dessen historische Analyse ist bislang weitgehend von der Sozialgeschichte bestimmt. Sie fokussiert vor allem soziale Ungleichheiten und analysiert die Funktionen der arbeitsrechtlichen Bestimmungen für das NS-Regime, insbesondere die Integration der Arbeitnehmer und Unternehmer in die nationalsozialistische Herrschaft sowie die Durchsetzung der Rüstungsziele. In der Kontroverse um den Primat der Politik, den Timothy W. Mason in seiner einflussreichen Studie gegen den Primat der Wirtschaft stellte, finden diese Forschungsansätze ihren analytischen Rahmen.10

Aus rechtsgeschichtlicher Perspektive ist das Forschungsfeld hingegen kaum erschlossen.11 Mit Hilfe von Fraenkels Doppelstaat-Konzept kann eine erste Schneise geschlagen werden. Im Fokus steht dabei ein Regelungsproblem, das auf den ersten Blick hochgradig speziell zu sein scheint, nämlich die Frage, wie die Erfüllung von Arbeitsverträgen rechtlich sichergestellt werden konnte und wie Vertragsbrüche sanktioniert wurden. Während der NS-Zeit stieg dieses Problem zu einem der wichtigsten Themen des Arbeitsrechts auf, weil es eng mit den lohnpolitischen und Arbeitsmarkt­interessen der NS-Reichsregierung verknüpft war und darüber hinaus tief in eine der Kernfragen des Arbeitsrechts schlechthin eingriff, nämlich jene nach dem Verhältnis von Freiheit und Zwang bei der Konfiguration der Arbeitsverhältnisse. Im Anschluss an Fraenkel werden hier vor allem die Rechtspraktiken analysiert. Gefragt wird gleichermaßen nach der Gesetzgebung der NS-Reichsregierung wie nach der Durchsetzung und Anwendung rechtlicher Regeln durch Treuhänder- und Arbeitsverwaltung, Polizeibehörden und Gerichte. Wie entwickelten sich die rechtlichen Grundlagen und Praktiken im Umgang mit Arbeitsvertragsbrüchen? Inwiefern lassen sie sich Fraenkels Kategorien des Normen- und Maßnahmenstaats zuordnen? Was sagt dies über das Rechtswesen während der NS-Diktatur aus? Die Studie stützt sich dabei auf Dokumente der zwischenbehördlichen Kommunikation, zeitgenössische statistische Erfassungen der Rechtspraktiken, Protokolle ausgewählter Gerichtsprozesse sowie Literatur der damaligen Rechtswissenschaften.

1. Neue Sichtweisen auf ein altes Regelungsproblem

Im 19. Jahrhundert setzte sich in Deutschland und anderen westlichen Staaten schrittweise ein liberales Verständnis von Arbeit durch. Gerade das Bürgertum deutete Arbeit zunehmend als Grundlage zur selbstbestimmten Entfaltung des (männlichen) Individuums.12 Dazu musste sich das Arbeitsverhältnis aus seinen bisherigen obrigkeitlichen Bindungen lösen. Wer wann, wo und zu welchen Bedingungen arbeitete, sollte nicht mehr vom Geburts-, Berufs- oder Sozialstand und von obrigkeitlichen Zwängen vorgegeben werden. Vielmehr etablierte sich die Überzeugung, dass das Arbeitsverhältnis auf einem Kontrakt zwischen rechtlich freien und gleichen Individuen beruhen müsse. Arbeitsverträge bzw. mündliche Abkommen besiegelten diese exklusive Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das Arbeitsrecht verschob sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend in die Sphäre des Privatrechts, aus welcher der Staat ausgeschlossen wurde – sofern er nicht selbst als Arbeitgeber im öffentlichen Dienst fungierte.13

Arbeitsverträge sind nicht nur Signum rechtlicher Freiheit und Gleichheit, sie stellen auch die Grundlage der Arbeitsbeziehungen dar. Entsprechend gehört die Frage der Erfüllung und Nicht-Erfüllung der Verträge zu den Kernfragen des Arbeitsrechts. Wie kann sichergestellt werden, dass sich die Vertragspartner an ihre Vereinbarungen halten? Aus institutionensoziologischer Perspektive bestehen zwei Möglichkeiten.14 Erstens kann die Akzeptanz der Kontrakte erhöht werden. So profitieren Arbeitgeber von Verträgen grundsätzlich dadurch, dass Unternehmen konkrete Leistungen zu bestimmten Bedingungen erhalten. Kalkulations- und Produktionssicherheit sind für sie wichtige Funktionen von Verträgen. Für Arbeitnehmer liegen die Vorteile eher darin, dass sie ein Mindestmaß an Arbeitsplatz- und damit Existenzsicherheit erhalten. Die Verbindlichkeit der Verträge schützt sie zudem vor möglicher Ausbeutung seitens der Arbeitgeber, insofern Mindestarbeitsbedingungen fixiert werden, die nicht unterschritten werden dürfen.15

Zweitens können Arbeitsverträge durch die Androhung von Sanktionen abgesichert werden. Teilweise noch bis ins frühe 20. Jahrhundert behielt sich der Staat vor, Vertragsbrüche – unter anderem durch polizeiliche Eingriffe – zu bestrafen. Die Nicht-Erfüllung von Arbeitsverträgen gehörte damit zu den letzten Regelungsproblemen im Arbeitsrecht, auf denen staatlicher Zwang lag und die noch Teil der öffentlichen Rechtssphäre waren. Dies änderte sich in den Jahrzehnten um 1900. So gelang es in der Landwirtschaft erst mit der Außerkraftsetzung der bestehenden Gesindeordnungen und Ausnahmegesetze für Landarbeiter am 12. November 1918 durch den Rat der Volksbeauftragten sowie der Einführung der Landarbeitsverordnung vom 24. Januar 1919, dass Vertragsbrüche privatrechtlich behandelt und entsprechend vor den Zivil­gerichten geklärt werden mussten. Den Beschuldigten drohte statt polizeilicher Strafen nur noch die Zahlung von Entschädigungssummen an die betroffenen Arbeitgeber.16 Damit wurde die individuelle arbeitsrechtliche Vertragsfreiheit endgültig durchgesetzt und eine Lösung gefunden, die über die gesamte Weimarer Zeit hinweg Bestand hatte.

Während der NS-Diktatur geriet das Regelungsproblem nicht erfüllter Arbeitsverträge jedoch aus mehreren Gründen wieder in den Fokus. Ein neues Verständnis von Arbeit stellte in vielerlei Hinsicht die Antithese zur liberalen Tradition des Arbeitsrechts dar. Basierte der klassische Liberalismus auf der Idee, dass vom eigennützigen Streben des Einzelnen das Gemeinwohl profitiere, vertraten die Nationalsozialisten eine gegenteilige Überzeugung.17 Im Mittelpunkt stand nicht mehr die selbstbestimmte Entfaltung des Individuums, sondern das »Gemeinwohl« des rassistisch definierten deutschen »Volks«. Ihm hatte sich der Einzelne unterzuordnen.18 Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG) vom 20. Januar 1934, die Arbeitsverfassung des Deutschen Reichs, machte demgemäß die »Volksgemeinschaft« zum Fixpunkt der Arbeitsbeziehungen. Es erklärte gleich in seinem ersten Paragraphen, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber künftig zum Nutzen des deutschen Volks zu arbeiten hätten.19 Was das konkret bedeutete, blieb indes unklar und wurde anfangs den Auslegungen der ordentlichen Gerichte überlassen. Auf das Regelungsproblem nicht erfüllter Arbeitsverträge hatte das AOG zwar zunächst keine unmittelbare Auswirkung, aber es veränderte die Perspektive, aus der Arbeitsverträge bewertet wurden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die privatrechtliche Prägung des Arbeitsrechts im Allgemeinen und das Problem nicht erfüllter Arbeitsverträge im Besonderen neu diskutiert werden mussten.20

Ein anderer Grund für die Aktualisierung des Themas lag im Bedeutungsschub, den das Einzelarbeitsverhältnis während der NS-Diktatur erfuhr. Paradoxerweise ging mit der Ausrichtung auf die »Volksgemeinschaft« eine Individualisierung der Arbeitsbeziehungen einher. Die Arbeitsbedingungen sollten nicht mehr zwischen Verbänden, sondern vor allem innerhalb der Betriebe verhandelt werden. Die NS-Reichsregierung erhoffte sich von den individuellen Aushandlungen zwischen den einzelnen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, dass beide eher Verständnis für die jeweiligen Problemlagen entwickeln würden, als dies in den kollektiven Tarifverhandlungen während der Weimarer Republik möglich gewesen war. Indem sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber künftig mit »Treue« und »Fürsorge« zu begegnen hatten, sollten Konflikte zwischen ihnen gar nicht erst entstehen, zumindest aber schnell gelöst werden. Streiks hatten ebenso der Vergangenheit anzugehören wie der Klassenkampf. An ihre Stelle sollten die »Betriebsgemeinschaften« als Teileinheiten der »Volks­gemeinschaft« treten. Dadurch gewann das Einzelarbeitsverhältnis an Bedeutung. Je größer die Relevanz der Arbeitsverträge, desto schwerer fiel deren Nicht-Erfüllung ins Gewicht.21

Ein dritter Grund für einen veränderten Umgang mit nicht erfüllten Arbeitsverträgen im Nationalsozialismus lag darin, dass mit der Individualisierung der Arbeitsbeziehungen eine Entmachtung der Arbeitnehmer einherging. Nach der Ausschaltung der Gewerkschaften durch Gewalt und politischen Druck hatten die Beschäftigten ihre Interessenvertretungen verloren. Die Tarifautonomie der Weimarer Zeit und der Einfluss der Beschäftigten auf die überbetriebliche Regelung der Arbeit brachen damit in sich zusammen. An die Stelle der Tarifverträge traten die Tarifordnungen, über die aber mit den im Mai 1933 gegründeten Treuhändern der Arbeit eine staatliche, dem Reichsarbeitsministerium nachgeordnete Behörde entschied.22 Die kollektive Willensbildung und -durchsetzung der Arbeitnehmer erodierte somit gravierend. Zwar waren Streiks als wichtigstes Arbeitskampfmittel der Erwerbstätigen nicht offiziell verboten, aber die Initiatoren wurden von der Gestapo verfolgt und bestraft.23 Darüber hinaus entzog die Reichsregierung den Arbeitnehmern sämtliche Mitspracherechte an der betrieblichen Regelung der Arbeit und übergab sie weitgehend den Unternehmern. Infolge dieser vielen Einschränkungen reduzierten sich die Möglichkeiten der Beschäftigten, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, zum einen auf individuelle Vertragsverhandlungen und zum anderen auf den Wechsel des Arbeitsplatzes. Ohne nennenswerte kollektive Artikulationsmöglichkeiten im Rücken gerieten die Belegschaften damit in eine besondere Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt.

Dass sich seit Mitte der 1930er-Jahre die Massenarbeitslosigkeit infolge der beträchtlichen staatlichen Investitionen in die Rüstungswirtschaft in einen eklatanten Arbeitskräftemangel verkehrte, stärkte die je nach Qualifikation und Branche unterschiedlich ausgeprägte Marktmacht der Arbeitnehmer und ließ auch die wichtige Funktion der Arbeitsverträge, die Arbeitsplatzsicherheit, erodieren. Sie spielte eine zunehmend untergeordnete Rolle, da die Beschäftigten kaum noch längere Phasen der existenzbedrohenden Arbeitslosigkeit fürchten mussten. Erheblich an Bedeutung gewann demgegenüber die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt, da diese den wichtigsten Faktor für die Aufstiegschancen der Arbeitnehmer bildete.

Die vertraglichen Kündigungsbestimmungen standen dem nur im Wege. Seit Mitte der 1930er-Jahre setzten sich immer mehr Arbeitskräfte über diese hinweg und wechselten ihre Arbeitsplätze vor Ablauf der vertraglichen Fristen. Sie brachen damit ihre Arbeitsverträge.24 Die Individualisierung der Arbeitsbeziehungen korrespondierte mit einer Individualisierung der Arbeitskonflikte. Entsprechend stiegen die Vertragsbruchziffern im Deutschen Reich seit Mitte der 1930er-Jahre permanent an – vor allem in denjenigen Branchen, in denen die Arbeits- und Lohnbedingungen besonders schlecht ausfielen, etwa in der Landwirtschaft oder im Bergbau.25 Jede vierte Arbeitskraft, die 1938 dem westfälischen Bergbau den Rücken kehrte, verließ die Zeche, ohne die Kündigungsbestimmungen eingehalten zu haben.26

2. Vom Privatrecht ins öffentliche Recht.
Die Kriminalisierung von Vertragsbrüchen

Je mehr Arbeitnehmer ihre Verträge nicht erfüllten, desto klarer wurde ersichtlich, dass die Politik der NS-Reichsregierung auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen nicht aufging. Diese zielte darauf ab, auf der einen Seite die Arbeitsbeziehungen möglichst konfliktfrei zu gestalten, was am einfachsten mit Hilfe sozial- und lohnpolitischer Konzessionen möglich war. Auf der anderen Seite standen Rüstungsinteressen, die besonders seit dem Vierjahresplan von 1936 die verfügbaren Ressourcen in die unmittelbar kriegsrelevanten Branchen umleiteten. Um eine Inflation zu verhindern und die Rüstungskosten nicht noch zusätzlich ansteigen zu lassen, beabsichtigte die Reichsregierung, die effektiven Einkommen der Arbeitnehmer möglichst auf dem niedrigen Stand der Weltwirtschaftskrise zu belassen.27 Die steigende Zahl von Vertragsbrüchen ist jedoch ein Zeichen dafür, dass es der Regierung nicht gelang, den Zielkonflikt zwischen niedrigen Lohnkosten und dem Herstellen des »Arbeitsfriedens« zu bewältigen. Nicht nur verstärkten die Vertragsbrüche die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt und damit auch den Lohnauftrieb; sie belegen zugleich, dass die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit trotz der neu situierten Arbeitsbeziehungen wieder aufbrachen.28

Als erste und am stärksten innerhalb der staatlichen Verwaltung gerieten die Treuhänder der Arbeit unter Druck. Sie hatten von der Reichsregierung den Auftrag erhalten, die widersprüchlichen Ziele zu erreichen. Da es die Reichsregierung nicht zuließ, die Akzeptanz der Arbeitsverträge seitens der Arbeitnehmer mittels tariflicher Lohnerhöhungen zu verbessern, suchten die Treuhänder schärfere Sanktionen durchzusetzen und damit die externe Absicherung der Verträge zu stärken.29

So leiteten einige Treuhänder der Arbeit einen schon zeitgenössisch hochumstrittenen Paradigmenwechsel ein. Sie verschoben das Arbeitsverhältnis von der privaten in die öffentliche Rechtssphäre, indem sie Vertragsbrüche schrittweise kriminalisierten, also dafür sorgten, dass nicht erfüllte Arbeitsverträge strafrechtlich zu verfolgen waren.30 Den Anfang machte die brandenburgische Treuhänder-Behörde. In ihren »Amtlichen Mitteilungen« und der überregionalen Zeitung »Der Angriff« brachte sie neue Sanktionen ins Spiel. Verstöße gegen Kündigungsfristen interpretierte sie nicht nur als Vertragsbruch, sondern auch, sofern diese Fristen tariflich festgelegt waren, als Verstoß gegen ihre Tarifordnungen. Indem sie diese wiederum als Anordnungen auslegte, konnten solche Verstöße aus ihrer Sicht als wiederholt vorsätzliche Zuwiderhandlung gegen ihre Anordnungen nach § 22 des AOG verstanden und demgemäß mit Geld- oder Gefängnisstrafen sanktioniert werden. Alternativ konnte dies gemäß § 36 auch als hartnäckige Zuwiderhandlung gegen schriftliche Anordnungen der Treuhänder vor die Sozialen Ehrengerichte gebracht werden.31

Der ostpreußische Treuhänder setzte den Vorschlag im Frühsommer 1936 in die Tat um. Nachdem ein Melker gegen die Kündigungsfristen der geltenden Tarifordnung verstoßen hatte und auch der schriftlichen Aufforderung des Treuhänders nicht gefolgt war, in den Betrieb zurückzukehren, brachte der Treuhänder den Fall vor ein Soziales Ehrengericht, wo er eine Art staatsanwaltliche Funktion einnahm. Das Gericht folgte dieser Auslegung des AOG und verwarnte den Melker. Eine solche Deutung des Gesetzes war jedoch äußerst umstritten und fand kaum Unterstützung. Selbst andere Treuhänder-Behörden und das Reichsarbeitsministerium übten harsche Kritik. So bezweifelte das Ministerium, dass die Tarifordnungen der Treuhänder den rechtlichen Status einer Anordnung besaßen. Außerdem bestritt es, dass die Treuhänder befugt waren, eine Arbeitskraft zur Wiederaufnahme einer Tätigkeit zu zwingen. Der mitteldeutsche Treuhänder monierte gegenüber dem Reichsarbeitsministerium, dass seinem ostpreußischen Kollegen die rechtliche Kompetenz für diese indirekte Kriminalisierung fehle.32 Zunächst blieb das Handeln des ostpreußischen Treuhänders daher die Ausnahme.

Zwei Jahre später hatte sich die Lage grundlegend gewandelt. So stieg die Anzahl der Vertragsbrüche seit den späten 1930er-Jahren erheblich an, weil die Attraktivität des Arbeitsplatzwechsels in dem Maße wuchs, wie sich der Arbeitskräftemangel ausbreitete und die Löhne zwischen den Branchen auseinanderdrifteten. Besonders die Schwerindustrie übte große Sogwirkung aus. Zwar blieben die Vertragsbrüche der Beschäftigten individuell ganz unterschiedlich motiviert. Immer häufiger waren sie aber eine Form der sozialen Mobilität. So verstärkten Vertragsbrüche in der Landwirtschaft die Landflucht und gingen mit einem Wechsel sowohl des Berufs als auch des Wohnorts einher. Die Stadtbevölkerung blieb demgegenüber meist in der Region und wechselte den Arbeitsplatz zwischen den Industriezweigen, besonders vom Bergbau in die benachbarten metallverarbeitenden Branchen.

Vertragsbrüche gerieten auch deshalb zu einem immer wichtigeren Mittel der sozialen Mobilität, weil sich der arbeitsrechtliche Kontext veränderte. Das Reichsarbeitsministerium hatte in der Zwischenzeit einige Gesetze und Verordnungen erlassen, welche den Zugriff der Arbeitsverwaltung auf die Arbeitsverhältnisse stärkten, um die Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt besser kontrollieren und steuern zu können. Vor allem schränkte das Ministerium die Kündigungsmöglichkeiten erheblich ein.33 Schließlich wandelte sich auch die Handlungsgrundlage der Treuhänder. Die Lohngestaltungsverordnung vom 25. Juni 1938 erweiterte den Kompetenzrahmen der Behörde erheblich. Ursprünglich sollte die Verordnung die Treuhänder befähigen, die Löhne nach oben begrenzen zu können. Daneben ermächtigte die Verordnung die Behörde aber auch, »alle Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um eine Beeinträchtigung der Wehrhaftmachung und der Durchführung des Vierjahresplans durch die Entwicklung der Löhne und der sonstigen Arbeitsbedingungen zu verhindern«.34

Die erheblichen Spielräume dieser Blanko-Vollmacht nutzten die Treuhänder bereits einige Wochen später aus, um die Frage nicht erfüllter Arbeitsverträge erneut aufzugreifen. Wieder nahm die ostpreußische Treuhänder-Verwaltung dabei eine Führungsrolle ein.35 Im Oktober 1938 erließ sie eine Anordnung, mit der sie Vertragsbrüche unmittelbar verbot. Arbeitskräften, die ihren Betrieb verließen, ohne die Kündigungsfristen einzuhalten, drohten hohe Geld- und Gefängnisstrafen. Anders als noch zwei Jahre zuvor stieß die Treuhänder-Behörde bei den übrigen Treuhändern und dem Reichsarbeitsministerium nun auf eine positive Resonanz. Eine Verwaltung nach der anderen erließ ähnliche Anordnungen und erweiterte sie sogar noch. Als Vertragsbruch galten nicht mehr nur nicht-fristgerechte Auflösungen der Arbeitsverhältnisse – die Treuhänder kriminalisierten auch einzelne Fehlzeiten, vermeintlich absichtlich langsames Arbeiten (»Bummeln«) und den verspäteten oder ausbleibenden Arbeitsantritt. Aber auch Arbeitgeber konnten angezeigt werden, wenn sie Arbeitskräfte zum Vertragsbruch verleiteten oder Arbeitnehmer beschäftigten, die vertraglich noch an ein anderes Unternehmen gebunden waren.36 Die Treuhänder leiteten ihre Anordnungen sowohl aus dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit als auch aus der Lohngestaltungsverordnung ab. Zwar falle das Arbeitsverhältnis eigentlich in die zivile Rechtssphäre. Weil aber zum »Nutzen von Volk und Staat« gearbeitet werde und der Vertragsbruch angesichts des Arbeitskräftemangels eine Gefährdung des Vierjahresplans bedeute, müsse sich der Kontraktbrüchige »vor der Volksgemeinschaft […] verantworten«.37 Arbeitgeber konnten seit Herbst 1938 eine Anzeige bei der jeweiligen Treuhänder-Behörde einreichen, welche dann die Beschuldigung überprüfte. Sofern sie nicht zu dem Ergebnis kam, dass die Person unschuldig war, gab sie einen Strafantrag samt ihren Ermittlungsergebnissen an die Gerichte weiter.

Wie umstritten auch diese rechtliche Herleitung war, geht aus den Statistiken über die gerichtliche Praxis hervor. Bis Juli 1939 mündeten lediglich knapp 20 Prozent aller Strafanträge der Treuhänder in rechtskräftigen Urteilen.38 Das ist zwar auch mit der Überlastung der Gerichte sowie mit der Einschätzung vieler Staatsanwälte zu erklären, dass Vertragsbrüche Bagatellangelegenheiten seien, die kein Strafverfahren benötigten.39 Aber ein weiterer Grund lag darin, dass einige Staatsanwälte und Richter an der Rechtsgrundlage der Anordnungen erhebliche Zweifel hegten. Der Linzer Generalstaatsanwalt erklärte beispielsweise noch 1941, dass es den Treuhändern an der »erforderlichen gesetzlichen Grundlage« für die Kriminalisierung fehle. Zudem würden sich die Anordnungen »nur mit den Worten«, nicht aber »inhaltlich« auf die Lohngestaltungsverordnung stützen.40 Es ist nicht überliefert, auf welche Weise es dem Reichsarbeitsministerium gelang, das Justizressort und die Gerichte zu bewegen, ihre rechtlichen Bedenken beiseite zu schieben, aber von Ausnahmen wie dem Linzer Fall abgesehen wandelte sich die gerichtliche Praxis 1939/40 grundlegend. So zeigten sich die Treuhänder und das Reichsarbeitsministerium im Sommer und Herbst 1940 zufrieden: Die Staatsanwälte würden die Annahme der Treuhänder-Strafanträge nicht mehr verweigern oder die Verfahren wegen Nichtigkeit einstellen.41 Die wenigen Strafgerichte, die sich weiterhin den Deutungen der Treuhänder versperrten, lenkten erst ein, als der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz (GBA) am 20. Juli 1942 eine entsprechende Verordnung erließ.42 Diese fasste zwar nur die bestehenden Treuhänder-Anordnungen zusammen und vereinheitlichte sie. Aber der Verordnung kam aufgrund der normsetzenden Befugnis der GBA-Behörde und durch die politische Autorität ihres Leiters Fritz Sauckel eine höhere Geltung zu.43

3. Die Sanktionspraxis der Strafgerichte und Behörden

Die Treuhänder hatten den Grundstein für eine folgenschwere Entwicklung gelegt, die auf eine immer schnellere und brutalere Sanktionspraxis hinauslief. Das Justizministerium führte in enger Absprache mit den Kollegen aus dem Ressort für Arbeit »beschleunigte Verfahren« ein. Sofern der »Sachverhalt einfach und die sofortige Aburteilung möglich« sei und nachdem der Staatsanwalt einen entsprechenden Antrag eingereicht hatte, konnte eine Hauptverhandlung »sofort durchgeführt oder mit kürzester Frist anberaumt werden«. Der Staatsanwalt musste nicht einmal eine Anklageschrift einreichen, sondern es genügte, wenn er zu Beginn der Hauptverhandlung seine Klage mündlich erhob. Die Verordnung schränkte die Verteidigungsmöglichkeiten gravierend ein, indem sie die hierfür benötigten zeitlichen Ressourcen beschnitt. Die Verteidigung erhielt erst dann Akteneinsicht, wenn der Staatsanwalt seinen Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren gestellt hatte, also unmittelbar vor der Verhandlung. Schließlich dürfe das Verfahren durch die Akteneinsicht »nicht aufgehalten werden«.44

Das Reichsjustizministerium griff auch in die Prozesse abseits der Schnellverfahren ein. So legte es den Strafgerichten nahe, nur noch in Ausnahmefällen Zeugen vorzuladen.45 Die Kommunikation mit anderen Behörden sei auf ein Minimum zu reduzieren. »Es muß versucht werden, den Sachverhalt möglichst rasch ohne Ersuchen an andere Stellen, Aktenversendungen und dergl. aufzuklären«,46 so das Justizministerium. Das bedeutete, dass die Staatsanwälte eigene Recherchen möglichst einzustellen und sich stattdessen auf die Ermittlungsergebnisse der Treuhänder zu beschränken hatten. Zudem erklärte das Justizministerium im Januar 1943, dass die Urteile an den Interessen der Treuhänder und Arbeitsverwaltungen auszurichten seien und deren Strafempfehlungen zu folgen sei. Hierfür hätten die Gerichte in »enge Fühlung«47 mit diesen Behörden zu treten. Einige Wochen später empfahl das Justizressort, auf Geldstrafen zu verzichten und stattdessen ausschließlich Gefängnisstrafen auszusprechen. Milderungsgründe seien nicht mehr zu berücksichtigen.48 Im Februar 1944 bekundete der Breslauer Generalstaatsanwalt sogar, dass Freisprüche und Verfahrenseinstellungen nach § 153 der Strafprozessordnung (d.h. wenn die Schuld als geringfügig angesehen oder kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung ausgemacht wurde) unerwünscht seien.49 Dies alles waren dramatische Eingriffe ins Justizwesen. Ob jemand unschuldig war, spielte kaum mehr eine Rolle. Es wurde zur Aufgabe der Gerichte, die beschuldigten Arbeitnehmer so schnell und so hart wie möglich zu bestrafen, um eine abschreckende Drohkulisse aufzubauen. Das spiegelt sich besonders in der sich seit 1942 ausbreitenden Praxis wider, die Prozesse in die Betriebe zu verlagern und vor den Augen der Belegschaften abzuhalten. Die Funktion dieser Schauprozesse lag ausschließlich darin, den Kollegen der Beschuldigten die schweren Konsequenzen von Vertragsbrüchen vor Augen zu führen: Milde Strafen oder gar Freisprüche waren nicht zu erwarten.50

Die Treuhänder der Arbeit und das Reichsarbeitsministerium beließen es aber nicht dabei, die Gerichte für ihre Ziele zu vereinnahmen. Sie machten sich daran, die Sanktionierung von Vertragsbrüchen exekutiv zu behandeln, weil ihnen die Zeit vom Strafantrag bis zum Urteil als zu lang erschien. Gerade in der ersten Hälfte des Zweiten Weltkrieges, als die Gerichte Probleme hatten, den Strafanträgen der Treuhänder nachzukommen, richtete sich der Blick auf alternative Sanktionsmöglichkeiten. Eine davon lag bei den Treuhänder-Behörden selbst. Die Dritte Durchführungsbestimmung zum Abschnitt III der Kriegswirtschaftsverordnung vom 2. Dezember 1939 erlaubte den Treuhändern, Verstöße gegen ihre Anordnungen mit Ordnungsstrafen zu belegen.51 Gerade die leichteren Fälle von Vertragsbruch (etwa einzelne Fehlzeiten) mussten die Treuhänder-Behörden künftig nicht mehr an die Staatsanwaltschaften weiterleiten. Vielmehr konnten sie diese selbst mit hohen Geldstrafen ahnden. Allerdings stieß die Verwaltung rasch auf Probleme. Die Geldstrafen fielen oft so hoch aus, dass sie die Pfändungsgrenzen überschritten. Der hessische Treuhänder berichtete etwa 1941, dass die Hälfte der Ordnungsstrafen nicht eingetrieben werden konnte.52 Im April 1942 erwirkte das Reichsarbeitsministerium daraufhin beim Justizressort, die Ordnungsstrafen durch einen entsprechenden Antrag vor den Amtsgerichten in Freiheitsstrafen umzuwandeln.53

Zu einem integralen Bestandteil der Sanktionspraxis entwickelte sich darüber hinaus die Kooperation der Treuhänder mit den Polizeibehörden. So war die Treuhänder-Verwaltung befugt, die Orts-, Kreis- und Kriminalpolizei in ihre Ermittlungen zu involvieren. Teilweise delegierten die Treuhänder die Vernehmungen an die Polizeibehörden oder sogar an die Gestapo. Ebenso schalteten sie die Polizei ein, wenn sie die beschuldigte Person nicht auffinden konnten, sich diese weigerte, zur Befragung im Amtsgebäude zu erscheinen oder flüchtig war. Die Treuhänder-Verwaltung machte auch regen Gebrauch von den Strafmöglichkeiten der Polizei und Gestapo. Nach Abschluss ihrer Ermittlungen konnte die Treuhänder-Verwaltung bei der Polizei beantragen, eine für schuldig befundene Person der »Schutzhaft« zu übergeben – im Juli 1941 waren 70 Prozent aller Häftlinge in Polizeigefängnissen wegen Vertragsbruchs interniert.54 Außerdem stellten die Treuhänder bei der Gestapo Anträge auf Einweisung in die seit 1939/40 überall im Reich entstehenden »Arbeitserziehungslager«. In der zweiten Kriegshälfte genügte hierfür ein formloser Antrag oder sogar nur ein kurzes Telefonat.55 Die Treuhänder waren dadurch in der Lage, die gerichtliche Sanktionierung zu umgehen. Die westfälische Behörde etwa leitete nur knapp 15 Prozent aller Fälle, in denen sie von der Schuld des Angezeigten ausging, an die Staatsanwaltschaft weiter.56 Meist fußten diese Kooperationen auf regionalen Absprachen zwischen den Treuhändern und der Gestapo. Es gehört zu den maßnahmenstaatlichen Entwicklungen, dass das Reichsarbeitsministerium solche Praktiken erst nachträglich mit internen Dienstanweisungen erlaubte.

Darüber hinaus etablierten Treuhänder und Gestapo eine Arbeitsteilung entlang rassistischer Kriterien. Sie reagierten damit auf die Entwicklung, dass deutsche Behörden immer mehr Arbeitskräfte aus den besetzten und eroberten Gebieten dazu zwangen, für das Deutsche Reich zu arbeiten. Fernab ihres Wohnorts mussten diese –
je nach Nationalität, »Rasse« und Tätigkeitsgebiet differierende – unmenschliche Arbeitsbedingungen erdulden. Zahllose Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter reagierten darauf mit der Flucht. Das interpretierten die Gestapo und die Treuhänder-Behörden als Verstoß gegen die oft per Verordnung oder Anordnung festgelegten Kündigungsbestimmungen. Arbeitsverträge lagen meist nicht vor.

Dabei beanspruchte die Gestapo eine prominente Stellung in der Überwachung und Bestrafung ausländischer Arbeitskräfte, weil sich viele ihrer Mitarbeiter als »Schutzmacht« der deutschen »Rassereinheit« begriffen.57 Nicht zuletzt aufgrund der Überlastung ihrer Behörden erklärten sich die Treuhänder zumeist damit einverstanden, dass die Gestapo die Bestrafung vertragsbrüchiger Personen übernahm, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besaßen oder nach damaligem Verständnis nicht der eigenen »Rasse« zugehörig waren. Angefangen mit der Bestrafung polnischer und tschechischer Arbeitskräfte übernahm die Gestapo 1941 die Federführung bei allen übrigen Ausländergruppen.58 Während die Treuhänder fast ausschließlich Fälle deutscher Arbeitskräfte verfolgten, zeigte sich bei der Gestapo ein umgekehrtes Bild. 90 Prozent der Personen, welche die Gestapo wegen Vertragsbruchs zwischen Januar und Juni 1942 und 1943 festnahm, waren nach deren Kriterien nicht deutscher Herkunft.59 In diesen Fällen lief die Strafpraxis vollständig an den Gerichten vorbei, da die Gestapo über genügend eigene Strafmittel verfügte.60 Auch solche Praktiken hatten sich längst eingespielt, ehe sie nachträglich per Anordnung legitimiert wurden.

Damit kam den Treuhänder- und Polizeibehörden die Schlüsselstellung in der rechtlichen Behandlung nicht erfüllter Arbeitsverträge zu. Sie nahmen die Anzeigen der Arbeitgeber entgegen, führten die Ermittlungen und entschieden auf dieser Basis, ob die angezeigte Person schuldig sei. Anschließend konnten sie faktisch selbst über die jeweilige Sanktion bestimmen, von einer einfachen Verwarnung bis hin zur Internierung in »Arbeitserziehungs-« und Konzentrationslagern. Inwiefern Treuhänder und Polizei dabei noch die Justiz einschalteten, blieb ihnen überlassen. Wenn die Strafgerichte einmal nicht im Sinne der Treuhänder entschieden, besaßen die Treuhänder und die Gestapo zusammen die Möglichkeit, die angeklagte Person – beispielsweise nach einem Freispruch oder verbüßter Haft – in ein »Arbeitserziehungslager« einzuweisen oder von einer anderen Sanktionsmöglichkeit Gebrauch zu machen. Die Rechtskraft gerichtlicher Urteile fiel damit in sich zusammen.

Wehren konnten sich die Opfer dieser willkürlichen Praktiken nicht. Gegen die Entscheidungen sowohl der Gestapo als auch der Treuhänder konnte lediglich Beschwerde eingelegt werden. Zumindest im Fall der Gestapo durfte dabei nicht einmal auf einen Anwalt zurückgegriffen werden.61 Dieser hätte aber ohnehin nicht viel ausrichten können, denn über die Beschwerden entschieden wiederum die Gestapo- und Treuhänder-Behörden. Die Gerichte kontrollierten nicht mehr die Verwaltung. Die Verwaltung kontrollierte die Gerichte und beaufsichtigte sich selbst.

Nicht nur deshalb war die zentrale Stellung der Treuhänder- und Polizeibehörden problematisch. Ein weiterer Faktor liegt in den teilweise unzureichenden juristischen Kenntnissen der Sachbearbeiter. So übergaben die Treuhänder-Behörden die Fälle zumeist den Leitern der Arbeitsämter, die als ihre Beauftragten fungierten.62 Diese delegierten die Angelegenheiten in der Regel an ihre Sachbearbeiter, die aber vielfach kein rechtswissenschaftliches Studium absolviert hatten. Schon deshalb müssen ihre Entscheidungen hinterfragt werden – umso mehr, als das Reichsarbeitsministerium im November 1941 drängte, die Ermittlungen »ohne umständliches Verfahren und langwierige Vernehmungen« abzuschließen. »Eine genauere Nachprüfung etwaiger Einwendungen des Beschuldigten muß dem Beschwerdeverfahren überlassen bleiben.«63 Bedenkt man, dass nach Auffassung des ostpreußischen Treuhänders im Frühjahr 1938 nur bei der Hälfte aller Arbeitgeber-Anzeigen eine Schuld der Arbeitnehmer vorlag, lassen sich die katastrophalen Konsequenzen einer solchen Verwaltungspraxis erahnen.64 Nicht zu übersehen ist ferner, dass die Treuhänder viel unmittelbarer in die Arbeitsbeziehungen involviert waren als die Strafgerichte. Folgerichtig unterlagen die Entscheidungspraktiken der regionalen Behörden deren arbeitsmarkt- und lohnpolitischen Interessen. Je mehr Gewicht der Disziplinierung zur Arbeit im Rahmen der Kriegswirtschaft zufiel und je weniger Rücksicht auf die Bevölkerung angezeigt schien, desto stärker radikalisierten die Treuhänder-Behörden und Arbeitsämter ihre Sanktionspraxis.65

Die Treuhänder- und Polizeiapparate sowie die Gerichte schufen ein Strafsystem, das quantitativ und qualitativ kaum Grenzen kannte. Allein die westfälische Treuhänder-Behörde sanktionierte zwischen Januar und November 1940 insgesamt 19.074 Fälle von Vertragsbrüchen. Zwischen Januar und Juli 1941 stieg die Zahl sogar noch weiter an: auf durchschnittlich 2.286 pro Monat.66 Verhaftete die Gestapo im Deutschen Reich 1941 etwa 73.000 Arbeitskräfte wegen Vertragsbruchs, waren es allein zwischen Januar und Juni 1943 bereits knapp 170.000. Im gleichen Zeitraum des Jahres 1944 gerieten sogar etwas mehr als 205.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Fänge der Staatspolizei.67 Von den bis zu 21.000 Mitarbeitern in den 64 Niederlassungen sowie zahlreichen Außenstellen beschäftigten sich 1943 rund zwei Drittel aller Gestapo-Beamten im Inland mit der Überwachung und Verfolgung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern.68 Sowohl die Treuhänder- als auch die Gestapo-Behörden durchliefen einen fundamentalen Funktionswandel. Waren die einen zuständig für den »Arbeitsfrieden« und die anderen eine politische Verfolgungsinstanz, entwickelten sich beide zu staatlichen Organen, deren primäre Funktion darin bestand, mit Gewalt zur Arbeit zu disziplinieren.69

Die westfälische Treuhänder-Behörde schickte 1942 fast jede zweite Person, die sie für vertragsbrüchig hielt, in die verschiedenen Arrest-, Haft- und Lagerformen. 15 Prozent verbüßten die Strafen in Gefängnissen, jeweils 10 Prozent in »Arbeitserziehungslagern« und im »Jugendarrest«, 5 Prozent in »Schutzhaft« und 1 Prozent in Konzentrationslagern.70 Noch drastischer fielen die Sanktionen der Gestapo aus. In lediglich 16 Prozent aller Fälle, die in den Händen der Polizeibehörden lagen, kamen die vermeintlich Vertragsbrüchigen mit einer Verwarnung davon, die oft mit körperlicher Gewalt einherging. Meist entschieden sich die Polizeibehörden dafür, die Vertragsbrüchigen in »Arbeitserziehungslager« (57 Prozent) oder Konzentrationslager (20 Prozent) einzuweisen.71 Durchschnittlich drei von vier Arbeitskräften, die angeblich ihre Arbeitsverträge gebrochen hatten, mussten in der Folge die unmenschlichen Bedingungen in diesen Lagern ertragen. Wenn man bedenkt, dass etwa im »Arbeitserziehungslager« Hunswinkel (im Sauerland) die Sterblichkeit bei 60 Prozent lag und die Überlebensquote der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den Konzentrationslagern bei lediglich 31 Prozent, wird deutlich, dass auf Vertragsbruch in vielen Fällen faktisch die Todesstrafe stand.72

4. Fazit: Grenzverschiebungen und Funktionswandel des Rechts

In den Rechtspraktiken während der NS-Diktatur lässt sich eine deutliche Grenzverschiebung vom Normenstaat hin zum Maßnahmenstaat beobachten. Sie betraf die Rechtsetzung ebenso wie deren Durchsetzung und Anwendung. Entgegen der landläufigen Fraenkel-Rezeption, jedoch im Sinne Fraenkels selbst, entsprach die Grenze zwischen Normen- und Maßnahmenstaat aber nicht jener zwischen Partei und Staat. Keine der beiden Kategorien war eindeutig an bestimmte Akteure gebunden. Vielmehr systematisieren und analysieren diese Kategorien deren Handeln. Auch wenn es Fraenkel nicht explizit so formuliert, ist in seinen Forschungen ein praxeologischer Ansatz enthalten. Die große Stärke seines Konzepts liegt in der Annahme, dass der Grenzverlauf des Doppelstaats immer neu verhandelt und konstruiert wird. Es kann daher nicht genug betont werden, dass es die unterschiedlichen Rechtsaneignungen sind, die ihn in ständige Bewegung versetzen. Dadurch öffnet sich der Raum, die Wechselbeziehung zwischen individuellen Spielräumen und strukturellen Handlungsgrenzen zu untersuchen.

Im vorliegenden Beispiel zeigt sich, dass die Treuhänder, Reichsministerien und Gerichte in gleichem Maße wie der SS- und Polizeiapparat an der Erosion des Normenstaats mitwirkten. Die Treuhänder der Arbeit und die Polizeibehörden handelten permanent gegen die wichtigsten Verwaltungsgrundsätze, indem sie ohne rechtliche Kompetenz und Grundlage agierten – schon die Kriminalisierung selbst war schließlich hoch umstritten.73 Die Gerichte verloren ihre Unabhängigkeit, und die Prozesse ließen keine faire Verteidigung und gerechte Urteilsbildung zu. Kurzum: Alle relevanten Akteure, von den Gerichten über die Treuhänder- und Polizeibehörden bis hin zu den Reichsministerien, bewegten sich tief im Maßnahmenstaat, indem sie die Prinzipien der Rechtssicherheit außer Kraft setzten.

Es kommt Fraenkels Studie zugute, dass sie sich zwar besonders auf Gerichtsurteile stützt, den Blick aber nicht auf sie verengt. Die Frage nach dem Zusammenspiel zwischen der sich im Umbau befindenden Legislative, Judikative und Exekutive legt den Akzent auf die Deformation des Rechtssystems. Im untersuchten Feld des Arbeitsrechts nahm die Bedeutung der Justiz stark ab. Hatte die Kriminalisierung der Vertragsbrüche zunächst zur Folge, dass diese Fälle nicht mehr vor den Zivil-, sondern vor den Strafgerichten verhandelt wurden, verschob sich die Sanktionierung im nächsten Schritt binnen kürzester Zeit hin zu den Treuhänder- und Polizeibehörden. Diese nahmen gleichzeitig die Funktion einer Ermittlungsbehörde und diejenige eines Richters ein. Nur ein Bruchteil aller Fälle gelangte überhaupt vor die Strafgerichte; zudem übten besonders die Treuhänder-Behörden durch ihre Ermittlungsergebnisse, Strafanträge und Urteilsempfehlungen elementaren Einfluss auf die Urteilspraxis aus. Deshalb muss Michael Löffelsender widersprochen werden, wenn er in seiner ansonsten überzeugenden Studie zur »Strafjustiz an der Heimatfront« zu dem Ergebnis kommt, dass diese »die maßgebliche Sanktionsinstanz« geblieben sei.74

Dabei erwies sich auch die Strafgerichtsbarkeit als zunehmend korrumpiert. Aufgabe der Gerichte war es immer weniger, bestehendes Recht durchzusetzen, indem sie selbstständig ermittelten, prüften und abwogen, inwiefern bestimmte Handlungen geltendem Recht entsprachen oder ihm zuwiderliefen. Vielmehr hatten die Verfahrens- und Urteilspraktiken den Interessen der Treuhänder-Behörden und des Reichsarbeitsministeriums zu entsprechen. Faktisch nutzten die Treuhänder die Gerichte, um Zugriff auf ein ausdifferenziertes System an Strafmöglichkeiten zu erlangen. Wenn ihnen eine Geldstrafe zu gering, die Einweisung in ein »Arbeitserziehungslager« aber zu hart erschien, stellten sie einen Strafantrag, um eine Gefängnishaft zu erwirken.75 Die Funktion der Justiz erschöpfte sich zunehmend darin, Strafen im Sinne der Behörden zu verhängen.

Die maßnahmenstaatlichen Praktiken veränderten den Status des Rechts. Was Fraenkel in seiner Studie betonte, trat auch im vorliegenden Fall ein: Das Recht verlor seine herrschaftsbeschränkende Funktion. Es gewährte den Arbeitnehmern und (in geringerem Maße) den Arbeitgebern keinen Schutz mehr vor staatlichen Eingriffen – vielmehr erleichterte es die Durchsetzung politischer Ziele. Es grenzte die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht ein – stattdessen ermöglichte es sie in einem Bereich, in dem staatliche Akteure zuvor eine marginalisierte Rolle gespielt hatten. Die Funktion des Rechts als Herrschaftsmittel zeigt sich besonders in der ambivalenten Geltung von Gesetzen und Anordnungen. Während sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber zwingend an die Anordnungen der Treuhänder halten mussten, konnten sich die Behörden über die auf sie wirkenden rechtlichen Beschränkungen hinwegsetzen. Die fehlende Justiziabilität des Verwaltungshandelns ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. Die Grenzverschiebungen zwischen Normen- und Maßnahmenstaat dokumentieren daher den sich ausbreitenden Zugriff staatlicher Akteure auf die Bevölkerung und somit eine potentielle Entgrenzung staatlichen Handelns. Je länger die NS-Herrschaft andauerte, desto stärker wandelten sich Arbeitnehmer und (weniger stark) Arbeitgeber vom Subjekt zum Objekt des Arbeitsrechts. Fraenkels Doppelstaat-Konzept ist hierfür erhellend.

Fragt man nach den Gründen für die Grenzverschiebungen von den Normen hin zu den Maßnahmen, ist eine Ursache im Konflikt zwischen zwei verschiedenen Handlungslogiken zu finden. Der Normenstaat nahm in Kauf, dass staatliches Handeln Grenzen unterlag und dadurch weniger effizient ausfiel, wenn dadurch die Unabhängigkeit der Justiz und die Verlässlichkeit des Rechts gewahrt wurde. Anders der Maßnahmenstaat, der nach Fraenkel darauf abzielte, politische Interessen im Namen der »Volksgemeinschaft« möglichst schnell und effizient in Handeln zu übersetzen. Bestehende rechtliche Schranken mussten dafür abgebaut werden, denn die »Herrschaft des Gesetzes«, so formulierte es Carl Schmitt 1934, würde die »Führer-Ordnung« nur zerstören.76

Als Motor der Grenzverschiebungen erwies sich das politische Problembewusstsein der genannten Akteure. Sobald ein staatlicher Akteur eine Situation oder Handlung als politisches Problem deklarierte, konnte er den Anspruch erheben, dieses ohne Rücksicht auf normenstaatliche Bindungen zu lösen. Maßnahmenstaatliche Praktiken ließen sich aber nur durchsetzen, wenn sie auf die Akzeptanz der übrigen relevanten Akteure stießen. Die Kriminalisierung der Vertragsbrüche konnten die Treuhänder erst erreichen, als sie mit den Reichsministerien für Arbeit und Justiz, den Polizeibehörden, Gerichten und Unternehmen genügend Akteure hinter sich versammeln konnten. Die Ausdehnung des Maßnahmenstaats hing daher von Konsensbildung ab – der Grenzverlauf des Doppelstaats geriet zu einer Machtfrage zwischen den je nach Politikfeld involvierten Akteuren.

Das bedeutet auch, dass sich der Maßnahmenstaat in der Praxis nicht völlig unbeschränkt ausweiten konnte. So versuchten manche Treuhänder-Behörden immer wieder, betriebliche Konflikte zu entscheiden, die eigentlich den Arbeitsgerichten vorbehalten waren. Wenn Arbeitnehmer oder Arbeitgeber diese Fälle dann vor die Arbeitsgerichte trugen, hatten sie gute Chancen, dass diese die Entscheidungen der Treuhänder-Behörden aufhoben.77 Maßnahmenstaatliches Handeln konnte also auch wieder eingehegt werden, und die Rechtspraktiken während der NS-Diktatur mündeten nicht zwangsläufig in der Auflösung aller Normen.78 Es wäre zu prüfen, in welchen Rechtsgebieten und aus welchen Gründen der Normenstaat Bestand hatte oder maßnahmenstaatliches Handeln partiell eingegrenzt wurde. Für die Bevölkerung war aber nicht vorhersehbar, wann und wo die Maßnahmen die Normen zurückdrängten, die Politik in das Recht einbrach – und umgekehrt. Hierin liegt ein entscheidendes Moment der Willkür während der nationalsozialistischen Diktatur.


Anmerkungen:

1 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Mit einem Nachwort von Horst Dreier, hg. von Alexander von Brünneck, 3. Aufl. Hamburg 2012; Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, neu hg. von Alfons Söllner und Michael Wildt, Hamburg 2018.

2 Alexander von Brünneck, Ernst Fraenkels Urdoppelstaat von 1938 und der Doppelstaat von 1941/1974, in: Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler (Hg.), Vom Sozialismus zum Pluralismus. Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels, Baden-Baden 2000, S. 29-42; Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt a.M. 2009; Winfried Steffani, Ernst Fraenkel als Persönlichkeit, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 7 (1997), S. 1261-1285; Michael Wildt, Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Fraenkels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 19-23.

3 Beispielsweise beobachtete Martin Broszat bereits 1969, dass sich die Grenzen zwischen Bürokratie und Partei während der NS-Herrschaft auflösten: Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969, 13. Aufl. 1992. Zur Rezeptionsgeschichte siehe v.a. Jens Meierhenrich, The Remnants of the Rechtsstaat. An Ethnography of Nazi Law, Oxford 2018, bes. S. 205-225.

4 So etwa in den Forschungssynthesen zum Herrschaftssystem der NS-Zeit von Christiane Kuller, »Kämpfende Verwaltung«. Bürokratie im NS-Staat, in: Dietmar Süß/Winfried Süß (Hg.), Das »Dritte Reich«. Eine Einführung, München 2008, S. 227-245, bes. S. 233; Michael Ruck, Partikularismus und Mobilisierung – traditionelle und totalitäre Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Regimes, in: Sven Reichardt/Wolfgang Seibel (Hg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2011, S. 75-120, bes. S. 75f. Demgegenüber weist Michael Wildt seit Jahren auf diese Fehlinterpretation und das analytische Potential des »Doppelstaats« für die NS-Forschung hin; siehe u.a. Michael Wildt, Die politische Ordnung der Volksgemeinschaft. Ernst Fraenkels »Doppelstaat« neu betrachtet, in: Mittelweg 36 12 (2003) H. 2, S. 45-61. Allerdings unterliegt auch Wildt der Versuchung, den »SS- und Polizeiapparat« pauschal dem Maßnahmenstaat zuzuordnen. Eine der wenigen rechtsgeschichtlichen Perspektiven nimmt ein: Jürgen Zarusky, Doppelstaat und Rasserecht. Neue Studien zu Recht und Justiz im Dritten Reich, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 25 (2003), S. 95-111.

5 Ohne sich explizit auf Fraenkel zu beziehen, verweist z.B. Armin Nolzen auf die Fusionsprozesse zwischen Verwaltung und Partei am Beispiel der Gauleitungen; siehe Armin Nolzen, Die Gaue als Verwaltungseinheiten der NSDAP. Entwicklungen und Tendenzen in der NS-Zeit, in: Jürgen John/Horst Möller/Thomas Schaarschmidt (Hg.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen »Führerstaat«, München 2007, S. 199-217. Auch die Beobachtungen zur Augsburger Stadtverwaltung brechen die Dichotomien auf; siehe Bernhard Gotto, Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933–1945, München 2006, S. 122f.

6 Fraenkel, Doppelstaat (Anm. 1), S. 51.

7 Ebd., S. 49-51.

8 Ebd., S. 49.

9 In den rechtswissenschaftlichen Debatten ist diese Deutung des »Doppelstaats« vorherrschend; siehe etwa die Rezension von Michael Stolleis, in: JuristenZeitung 39 (1984), S. 1096-1097. Ferner Joachim Rückert, Unrecht durch Recht – zum Profil der Rechtsgeschichte der NS-Zeit, in: ders. (Hg.), Unrecht durch Recht. Zur Rechtsgeschichte der NS-Zeit, Tübingen 2018, S. 3-32. Von historischer Seite siehe Wildt, Die politische Ordnung (Anm. 4), S. 52. Jüngst auch Meierhenrich, Remnants (Anm. 3), S. 181-203.

10 Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich, Opladen 1977. Ihm folgten weitgehend Wolfgang Franz Werner, Bleib übrig! Deutsche Arbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Düsseldorf 1983; Klaus Wisotzky, Der Ruhrbergbau im Dritten Reich. Studien zur Sozialpolitik im Ruhrbergbau und zum sozialen Verhalten der Bergleute in den Jahren 1933 bis 1939, Düsseldorf 1983; Wolfgang Spohn, Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft. Die rechtliche und institutionelle Regelung der Arbeitsbeziehungen im NS-Staat, Berlin 1987; Rüdiger Hachtmann, Industriearbeit im »Dritten Reich«. Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933–1945, Göttingen 1989; Tilla Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen »Ordnung der Arbeit«, Opladen 1989; Matthias Frese, Betriebspolitik im »Dritten Reich«. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933–1939, Paderborn 1991; Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999.

11 Insgesamt ist das Interesse der Rechtsgeschichte am Arbeitsrecht zwischen 1933 und 1945 gering ausgeprägt. Ein deutliches Indiz dafür ist, dass die Beiträge zum Arbeitsrecht in der Reihe »Das Europa der Diktatur« des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a.M. von je einem Vertreter der Sozialgeschichte (Rüdiger Hachtmann) und der Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit (Karl Härter) verfasst worden sind. Vgl. Rüdiger Hachtmann, Die rechtliche Regelung der Arbeitsbeziehungen im Dritten Reich, in: Dieter Gosewinkel (Hg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur, Frankfurt a.M. 2005, S. 135-155; Karl Härter, Arbeitspolitik im Nationalsozialismus. Steuerung durch Recht in der polykratischen Wirtschaftsdiktatur?, in: Johannes Bähr/Ralf Banken (Hg.), Wirtschaftssteuerung durch Recht im Nationalsozialismus. Studien zur Entwicklung des Wirtschaftsrechts im Interventionsstaat des »Dritten Reichs«, Frankfurt a.M. 2006, S. 309-341.

12 Zu den weitreichenden Folgen für die sozio-ökonomische und politische Stellung der Geschlechter siehe insbesondere Karin Hausen, Work in Gender, Gender in Work. The German Case in Comparative Perspective, in: Jürgen Kocka (Hg.), Work in a Modern Society. The German Historical Experience in Comparative Perspective, New York 2013, S. 73-92; Sonya O. Rose, Limited Livelihoods. Gender and Class in Nineteenth-Century England, Berkeley 1992; Angelika Wetterer, Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion. »Gender at Work« in theoretischer und historischer Perspektive, Konstanz 2002. Zum semantischen Wandel siehe Werner Conze, Art. »Arbeit«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1: A–D, Stuttgart 1972, Studienausg. 2004, S. 154-215; Georg Jochum, Zur historischen Entwicklung des Verständnisses von Arbeit, in: Fritz Böhle/Günter G. Voß/Günther Wachtler (Hg.), Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden 2010, S. 81-125.

13 Wenn der Staat mittels Gesetzen die Rahmung der Arbeitsverhältnisse beeinflusste, änderte das nichts an dieser Grundidee, zumal den Arbeitsgesetzen schon während der Weimarer Republik teilweise die Überlegung zugrunde lag, die rechtliche Gleichheit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern durch eine Reduzierung des sozio-ökonomischen Machtungleichgewichts zu stärken. Robert Castel geht sogar davon aus, dass erst der Abbau der Machtasymmetrie die Arbeitnehmer dazu in die Lage bringe, ihre rechtliche Freiheit auch faktisch wahrnehmen zu können: Robert Castel, Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums, Hamburg 2011, S. 57-75. Zur Vertragsfreiheit siehe auch Joachim Rückert, »Frei« und »sozial«: Arbeitsvertrags-Konzeptionen um 1900 zwischen Liberalismen und Sozialismen, in: Zeitschrift für Arbeit 23 (1992), S. 225-294. Andere betonten demgegenüber die öffentlich-rechtlichen Elemente im Recht der Arbeit; siehe u.a. Ernst Forsthoff (Hg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Aufsätze und Essays, Darmstadt 1968.

14 Ich adaptiere hier die Institutionentheorie von Hartmut Esser für den Arbeitsvertrag: Hartmut Esser, Institutionen, Frankfurt a.M. 2000, S. 8f.

15 Freilich können die fixierten Arbeitsbedingungen selbst ausbeuterisch sein. Der Fortschritt der Verträge ist jedoch darin zu sehen, dass deren Bestimmungen nicht noch weiter unterboten werden dürfen.

16 Erklären lässt sich das vor allem damit, dass die Bestrafung von Arbeitsvertragsbrüchen lange Zeit als Mittel gegen Streiks benutzt wurde. Zur Geschichte der rechtlichen Handhabung nicht erfüllter Arbeitsverträge von der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Republik siehe die ausgezeichnete Studie von Thorsten Keiser, Vertragszwang und Vertragsfreiheit im Recht der Arbeit von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne, Frankfurt a.M. 2013. Zur Landflucht und den Arbeitsverhältnissen im Agrarsektor siehe Gerhard Schildt, Tagelöhner, Gesellen, Arbeiter. Sozialgeschichte der vorindustriellen und industriellen Arbeiter in Braunschweig 1830–1880, Stuttgart 1986, S. 141-143; Klaus Saul, Um die konservative Struktur Ostelbiens: Agrarische Interessen, Staatsverwaltung und ländliche »Arbeiternot«. Zur konservativen Landarbeiterpolitik in Preußen-Deutschland 1889–1914, in: Dirk Stegmann/Bernd-Jürgen Wendt/Peter-Christian Witt (Hg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer zum 75. Geburtstag und zum 50. Doktorjubiläum, Bonn 1983, S. 129-198.

17 André Steiner, Das Gemeinwohl-Konzept als Element der Wirtschaftsordnungen des Nationalsozialismus und der DDR, in: Jürgen Schneider (Hg.), Öffentliches und privates Wirtschaften in sich wandelnden Wirtschaftsordnungen. Referate der 18. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 7. bis 9. April 1999 in Innsbruck, Stuttgart 2001, S. 227-242. Zur Heterogenität des Liberalismus siehe Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001.

18 Zur veränderten Auslegung von Arbeit siehe Marc Buggeln/Michael Wildt, Arbeit im Nationalsozialismus (Einleitung), in: dies. (Hg.), Arbeit im Nationalsozialismus, München 2014, S. IX-XXXVII; Andrea Woeldike, Die »Gesundung des Volkskörpers durch Arbeit«. Eine kulturhistorische Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Begriffs der »deutschen Arbeit«, in: Dietmar Sedlaczek (Hg.), »Minderwertig« und »asozial«. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter, Zürich 2005, S. 11-32.

19 Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, 20.1.1934, Reichsgesetzblatt (RGBl.) I, § 1.

20 Zu solchen Diskussionen ausführlich Martin Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis während der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2005, bes. S. 438-539. Zu den Kodifikationsbemühungen siehe Enrico Iannone, Die Kodifizierung des Arbeitsvertragsrechts – ein Jahrhundertprojekt ohne Erfolgsaussicht? Eine Untersuchung vorangegangener Bemühungen um ein Arbeitsvertragsgesetz und Analyse möglicher Erfolgsaussichten des Reformprojekts, Frankfurt a.M. 2009, bes. S. 130-177; Karsten Linne, Das Scheitern des NS-Gesetzes über das Arbeitsverhältnis, in: Kritische Justiz 38 (2005), S. 260-275.

21 Zur betrieblichen Regelung der Arbeit, insbesondere den Betriebsordnungen, siehe Frese, Betriebspolitik (Anm. 10), S. 138-168; Spohn, Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft (Anm. 10), S. 43-58.

22 Die tariflichen Entscheidungen der Treuhänder beruhten allerdings abseits der Lohnfrage oftmals auf intensiven Verhandlungen zwischen den regionalen Stellen der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und der Reichsgruppe Industrie (RGI). Zum Tarifwesen und den Treuhändern siehe Sören Eden, Die rätselhafte Stabilität einer Behörde. Die Treuhänder der Arbeit in den Arbeitsbeziehungen 1933–1945, phil. Diss. Humboldt-Universität zu Berlin 2018. Die Studie wird im Wallstein-Verlag erscheinen: Sören Eden, Die Verwaltung einer Utopie. Die Treuhänder der Arbeit zwischen Betriebs- und Volksgemeinschaft 1933–1945, Göttingen 2020.

23 Günter Morsch, Streik im »Dritten Reich«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 649-689.

24 Als Vertragsbruch galt die Nicht-Erfüllung, seit 1939 zunehmend auch die sog. Schlecht-Erfüllung der Verträge. Konkret wurde darunter das Nicht-Antreten einer Stelle, das kurzfristige Fernbleiben vom Arbeitsplatz, die nicht-fristgemäße Aufhebung eines Arbeitsverhältnisses sowie das vermeintlich absichtliche Zurückhalten der Arbeitsleistung (»Bummeln«) verstanden.

25 Werner, Bleib übrig! (Anm. 10), S. 72f.; Falk Wiesemann, Arbeitskonflikte in der Landwirtschaft während der NS-Zeit in Bayern 1933–1938, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 573-590.

26 Siehe die zahlreichen Statistiken der westfälischen Bezirksgruppe Bergbau im Bergbau-Archiv Bochum (BBA), 13, 2225.

27 Zur Lohnpolitik siehe Hachtmann, Industriearbeit (Anm. 10); Siegel, Leistung und Lohn (Anm. 10). Zur Konjunkturfrage siehe Christoph Buchheim, Das NS-Regime und die Überwindung der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 381-414.

28 Zur wirtschaftsgeschichtlichen Dimension der Arbeitspolitik siehe u.a. Mark Spoerer/Jochen Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2013, bes. S. 134-156, S. 161-171; außerdem Tim Schanetzky, »Kanonen statt Butter«. Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich, München 2015.

29 Während der Weimarer Republik gestalteten sich die zivilrechtlichen Verfahren aber oft kompliziert, und die einzuklagenden Beträge waren meist so niedrig gewesen, dass viele Unternehmer nicht bereit gewesen waren, den mitunter erheblichen Aufwand für eine Klage zu betreiben. Werner Weigelt, Die Rechte der Unternehmer bei Vertragsbruch eines Gefolgschaftsmitgliedes, in: Wirtschaftsblatt Niedersachsen, November 1938, Nr. 22.

30 Hierzu und im Folgenden Sören Eden, Arbeitsrecht im NS-Staat. Die Treuhänder der Arbeit und die Kriminalisierung der Arbeitsvertragsbrüche, in: Alexander Nützenadel (Hg.), Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus. Verwaltung – Politik – Verbrechen, Göttingen 2017, S. 246-281.

31 Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, 20.1.1934, RGBl. I, §§ 22 u. 36. Soziale Ehrengerichte sollten perspektivisch die Arbeitsgerichte ersetzen, führten allerdings faktisch ein Schattendasein.

32 Reichsarbeitsministerium an die Treuhänder der Arbeit, Soziale Ehrengerichtsbarkeit, 29.6.1936, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) R 3601/1852, Bl. 227.

33 Andreas Kranig, Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, Stuttgart 1983, S. 73-82.

34 Verordnung über die Lohngestaltung, 25.6.1938, RGBl. I, § 1.

35 Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Ostpreußen die Kriminalisierung vorantrieb. Zum einen ist anzunehmen, dass die Anzahl der Vertragsbrüche hier besonders hoch war, da in dieser Region mit der Landwirtschaft jene Branche dominierte, in der das Phänomen der unberechtigten Vertragsauflösung aufgrund der vergleichsweise schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen überdurchschnittlich verbreitet war. Vgl. Gustavo Corni/Horst Gies, Brot – Butter – Kanonen. Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, bes. S. 280-298; Wiesemann, Arbeitskonflikte (Anm. 25). Außerdem fühlte sich der Leiter der Treuhänder-Behörde, Leon Daeschner, kaum an Regelungen gebunden, die sein Verwaltungshandeln einschränkten; siehe Eden, Verwaltung einer Utopie (Anm. 22).

36 Otto Kalckbrenner, Die allgemeinen Anordnungen der Reichstreuhänder der Arbeit aufgrund der Lohngestaltungsverordnung, in: Deutsches Arbeitsrecht 6 (1938), S. 305-308; Carl Sturm, Richtlinien für die Bearbeitung von Strafsachen in der Reichstreuhänderverwaltung, Berlin 1943, S. 25-43.

37 Anmerkungen zur Anordnung zur Verhinderung von Arbeitsvertragsbrüchen, in: Amtliche Mitteilungen des Treuhänders der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Thüringen, 1938.

38 Werner Mansfeld (Reichsarbeitsministerium) an die Reichstreuhänder der Arbeit, 27.7.1939, Niedersächsisches Landesarchiv Hannover (NLAH), Hann. 275, Nr. 191, Bl. 62.

39 Reichstreuhänder der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Niedersachsen, betr. Vermerk über Gespräch mit Staatsanwalt Dr. Seitz (Oberstaatsanwaltschaft Hannover), 12.7.1939, NLAH, Hann. 275, Nr. 182, Bl. 14. Vgl. auch Marie-Luise Recker, Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg, München 1985, S. 50.

40 Ferdinand Eypeltauer (Generalstaatsanwaltschaft Linz) an Reichsjustizministerium, betr. Frage der Zuständigkeit zur Stellung des Strafantrages wegen Vergehens gegen die Arbeitsplatzwechselverordnung, 12.3.1941, BArch R 3001/22781, Bl. 62. Auch in Breslau waren aus Sicht des Reichsjustizministeriums entsprechende »Schwierigkeiten aufgetreten«, Reichsjustizministerium, Vermerk, 7.5.1941, BArch R 3001/22781, Bl. 72.

41 Werner Mansfeld (Reichsarbeitsministerium) an die Reichstreuhänder der Arbeit, betr. Strafanträge nach § 2 der Verordnung über die Lohngestaltung, 21.9.1940, NLAH, Hann. 275, Nr. 182, Bl. 98-99.

42 Anordnung gegen Arbeitsvertragsbruch und Abwerbung sowie das Fordern unverhältnismäßig hoher Arbeitsentgelte in der privaten Wirtschaft, 20.7.1942, Reichsarbeitsblatt (RABl.) I, S. 341.

43 Zu Sauckel siehe Swantje Greve, Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und das Reichsarbeitsministerium, in: Nützenadel, Reichsarbeitsministerium (Anm. 30), S. 387-422. Zu den Weisungsbefugnissen und Kompetenzen des GBA: Erlaß des Führers über einen Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, 21.3.1942, RGBl. I, S. 179; Verordnung über die Rechtsetzung durch den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, 25.5.1942, RGBl. I, S. 347.

44 § 28 der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften, 21.1.1940, RGBl I.

45 Eberhard Mielke (Reichsministerium der Justiz) an Carl Sturm (Reichsarbeitsministerium), betr. Behandlung von Strafsachen wegen Arbeitsvertragsbruchs, 28.1.1943, BArch R 3001/21964, Heft 181, Bl. 98.

46 Ebd.

47 Ebd.

48 Reichsministerium der Justiz, betr. Behandlung von Strafsachen wegen Arbeitsvertragsbruchs, 8.3.1943, BArch R 3001/21964, Heft 51, Bl. 110-114.

49 Generalstaatsanwalt Breslau an Oberstaatsanwälte im Bezirk, betr. Bekämpfung von Arbeitsverweigerern, 6.2.1944, BArch R 3001/21965, Bl. 42.

50 Wilhelm Kimmich (Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz) an die Präsidenten der Gauarbeitsämter und Reichstreuhänder der Arbeit, betr. Behandlung von Strafsachen wegen Arbeitsvertragsbruchs, 31.3.1943, NLAH, Hann. 275, Nr. 183, Bl. 118.

51 Dritte Durchführungsbestimmung zum Abschnitt III (Kriegslöhne) der Kriegswirtschaftsverordnung – Ordnungsstrafrecht der Reichstreuhänder der Arbeit – (Dritte KLDV), 2.12.1939, RGBl. I, S. 2370-2371. Das dürfte freilich auch vor dem Hintergrund geschehen sein, dem Lohnstopp mehr Nachdruck zu verleihen.

52 Fritz Schmelter (Reichstreuhänder der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Hessen) an Reichsarbeitsministerium, betr. Ordnungsstrafrecht der Reichstreuhänder der Arbeit, 12.2.1941, NLAH, Hann. 275, Nr. 191, Bl. 77.

53 Fünfte KLDV – Umwandlung uneinbringlicher Ordnungsstrafen in Freiheitsstrafen, 14.4.1942, RGBl. I. Wie oft Geld- in Haftstrafen umgewandelt wurden, ist allerdings fraglich.

54 Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart 2000, S. 115.

55 Ebd., S. 137.

56 Reichstreuhänder der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Westfalen-Niederrhein, Zusammenstellung über die Maßnahmen zur Bekämpfung von Disziplinlosigkeiten, o.D., vermutlich Januar 1943, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen (LA NRW W), K 001, 5065, Bl. 36f.

57 Das Selbstverständnis schildert Michael Stolle, Die Geheime Staatspolizei in Baden. Personal, Organisation, Wirkung und Nachwirken einer regionalen Verfolgungsbehörde im Dritten Reich, Konstanz 2001, S. 245.

58 Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1985, 2. Aufl. 1986, S. 133-139; Stolle, Geheime Staatspolizei in Baden (Anm. 57), S. 245.

59 Andrea Tech, Arbeitserziehungslager in Nordwestdeutschland 1940–1945, Hannover 1998, S. 36f. Gabriele Lotfi hält für das »Altreich« Quoten von über 86 Prozent fest; vgl. Lotfi, KZ der Gestapo (Anm. 54), S. 117.

60 Zu nennen sind vor allem Inhaftierungen im Rahmen der »Schutzhaft« und in »Arbeitserziehungslagern«; siehe u.a. Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 1988, 3., verb. Aufl. 2001, S. 535-745; Friedrich Wilhelm, Die Polizei im NS-Staat. Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick, Paderborn 1997, 2., durchges. u. verb. Aufl. 1999, bes. S. 53-60.

61 Gruchmann, Justiz (Anm. 60), S. 570.

62 Zur Arbeitsverwaltung siehe Henry Marx, Die Verwaltung des Ausnahmezustands. Wissensgenerierung und Arbeitskräftelenkung im Nationalsozialismus, Göttingen 2019.

63 Werner Mansfeld (Reichsarbeitsministerium) an die Reichstreuhänder der Arbeit, betr. Bekämpfung der Disziplinlosigkeiten in den Betrieben, 22.11.1941, NLAH, Hann. 275, Nr. 192, Bl. 9-10.

64 Reichsarbeitsministerium, betr. Auszug aus den Monatsberichten der Reichstreuhänder der Arbeit für Januar und Februar 1938, 19.3.1938, BArch R 3101/10293, Bl. 356-363.

65 Siehe dazu Eden, Verwaltung einer Utopie (Anm. 22).

66 Die Zahlen für 1940 und 1941 beruhen auf den Angaben von Hans-Christoph Seidel, Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen – Bergarbeiter – Zwangsarbeiter, Essen 2010, S. 330.

67 Tech, Arbeitserziehungslager (Anm. 59), S. 36.

68 Carsten Dams/Michael Stolle, Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, München 2008, S. 126. Im Fall der Zwangsarbeiter/innen wäre es freilich zynisch, von Vertragsbrüchen als Mittel der sozialen Mobilität zu sprechen. Ihnen ging es – gerade im Fall der Osteuropäer/innen – vielfach um nichts anderes als das eigene Überleben und die Flucht vor den unmenschlichen Arbeitsbedingungen.

69 Siehe dazu ausführlich Eden, Verwaltung einer Utopie (Anm. 22).

70 Reichstreuhänder der Arbeit für das Wirtschaftsgebiet Westfalen-Niederrhein, Zusammenstellung über die Maßnahmen zur Bekämpfung von Disziplinlosigkeiten, Frühjahr 1943, LA NRW W, K 001, 5065, Bl. 36f.

71 Präsident des Gauarbeitsamts und Reichstreuhänder der Arbeit Westfalen-Nord, betr. Statistik der wegen Arbeitsvertragsbruchs bestraften Arbeitskräfte, Mai 1944, LA NRW W, K 001, 5065, Bl. 67.

72 Die Quote für das AEL Hunswinkel ist entnommen aus Dams/Stolle, Gestapo (Anm. 68), S. 128. Allerdings muss eingeschränkt werden, dass in »Arbeitserziehungslagern« nicht ausschließlich vertragsbrüchige Arbeitskräfte inhaftiert wurden. Die Todesrate in den Konzentrationslagern nach Mark Spoerer/Jochen Fleischhacker, Forced Laborers in Nazi Germany: Categories, Numbers, and Survivors, in: Journal of Interdisciplinary History 33 (2002), S. 169-204, hier S. 196. Zu berücksichtigen ist dabei außerdem, dass sich die Sanktionspraktiken der Gestapo nach rassistischen Kriterien unterschieden.

73 Zumindest im Fall der Treuhänder-Behörden kann auch kaum davon die Rede sein, dass sich hier die NSDAP im Mantel des Staats verberge. Die Treuhänder waren nicht an die Weisungen der Partei gebunden, sondern an diejenigen des Reichsarbeitsministeriums.

74 Hervorhebung im Original. Michael Löffelsender, Strafjustiz an der Heimatfront. Die strafrechtliche Verfolgung von Frauen und Jugendlichen im Oberlandesgerichtsbezirk Köln 1939–1945, Tübingen 2012, Zitat S. 452.

75 In Oberschlesien beispielsweise brachte die Treuhänder-Behörde nicht etwa die uneindeutigen Fälle vors Gericht, sondern nur diejenigen, in denen bereits ein Geständnis des Beschuldigten vorlag. Siehe Steimer (Generalstaatsanwalt Kattowitz), betr. Vermerk über Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der Beauftragtenstellen des Reichstreuhänders der Arbeit Oberschlesien, 13.8.1942, BArch R 3001/21964, Heft 181, Bl. 149-152.

76 Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, unveränd. Neuausg. Berlin 1993, S. 13.

77 Viele Beispiele dokumentierte zeitgenössisch Alfons Burghardt, Zuständigkeitsgrenzen der Reichstreuhänder der Arbeit, Würzburg 1939.

78 Das betont auch Wildt, Die politische Ordnung (Anm. 4), S. 60.

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