In der Gegenwart werden geradezu eruptiv und medial befeuert »alte« Gewaltphänomene zu Tage gefördert: Die Kampagne »#MeToo« lässt ein soziales Gewaltproblem sichtbar werden, welches lange Jahre ahnungsvoll präsent war, ohne im Detail öffentlich-politisch oder auch durch die Friedensforschung angemessen adressiert worden zu sein. Gleichzeitig drohen die Machthaber von Atomwaffenstaaten unverblümt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen, während weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit autonome Waffensysteme entwickelt werden, die gar nicht mehr auf eine/n Gewalttäter*in angewiesen sind, sondern allein aufgrund von dafür entwickelten Algorithmen Gewalt anwenden und Menschen töten. Bei einem derart entgrenzten Gewaltverständnis hat die Friedensforschung alle Hände voll zu tun, die unterschiedlichen Gewaltphänomene der Gegenwart im Blick zu behalten, über deren Entstehungsbedingungen aufzuklären und Ansätze zu ihrer Eingrenzung oder Überwindung zu entwickeln. Doch verdeutlichen die genannten Beispiele, dass auch die Friedensforschung nicht ohne weiteres aus den »Denkcontainern« der jeweiligen Gegenwart aussteigen kann und deshalb nicht vor epistemischer Gewaltblindheit, der wissenschaftlichen Unaufmerksamkeit für gesellschaftlich bedeutsame Gewalterfahrungen, gefeit ist. Wie bearbeitet die Friedensforschung das Spannungsverhältnis zwischen entgrenzter Gewaltanalyse einerseits und epistemischer Gewaltblindheit andererseits? Welche Rolle spielt dabei ihre Abhängigkeit von staatlicher finanzieller Förderung? Welche Gewaltverhältnisse werden aus welchen Motiven untersucht – und welche nicht? Ein Blick in die Geschichte der bundesdeutschen Friedensforschung kann hier erhellend wirken.[1]
Kriege und ihre Ursachen waren für lange Zeit der prioritäre Gegenstand einer Friedens-Forschung, die sich vornehmlich mit internationaler Politik beschäftigte: Entstanden aus dem Erschrecken über das Leid, welches sich die europäischen Staaten und Gesellschaften in nationalistischem Überschwang im Ersten Weltkrieg gegenseitig zugefügt hatten, sollte eine Wissenschaft von Krieg und Frieden einen neuartigen Beitrag dazu leisten, dass Kriege in Zukunft verhindert werden (können).[2] Über die zentralen Kriegsursachen aufgeklärte politische Entscheidungsträger*innen sollten, so der naheliegende Gedanke, durch die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in die Lage versetzt werden, für Frieden zu sorgen.[3] Doch die dafür von dieser Wissenschaft verlangte Nähe zum strategischen Denken außenpolitischer Administrationen ging einher mit der wachsenden Übernahme von deren Prämissen bezüglich internationaler Politik in die Politikwissenschaft: Abschreckung, Gleichgewicht, Machtstreben, Allianzbildung und militärische Einsatzbereitschaft wurden zu Elementen der Theorien internationaler Politik und damit auch der politisch vorherrschenden Friedensstrategien. Die entsprechenden Theorien der Internationalen Beziehungen konnten dann wiederum als wissenschaftliche Legitimation atomarer Abschreckungs- und Aufrüstungspolitik verstanden werden – und dies werden sie bis heute.
Es ist verblüffend, wie sehr sich die Entwicklung des Ost-West-Konflikts nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als einigermaßen getreue Umsetzung des genannten Denkens ausdeuten ließ. Kern der damaligen »Friedensstrategie« war die gegenseitige Abschreckung mit Atomwaffen, aus deren Verfügung die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ihr Machtpotential generierten. Die Zugehörigkeit zu oder Orientierung an den zwei sich gegenüberstehenden Militärallianzen prägte die internationale Politik weit über den Bereich der Sicherheit hinaus. Das Gleichgewicht der militärischen Arsenale galt – politisch wie wissenschaftlich – als entscheidend für den Verzicht der Hegemonialmächte auf einen heißen Krieg zwischen NATO und Warschauer Pakt.
Diese Perspektive blieb jedoch nicht unwidersprochen. Die Kritik entwickelte sich vornehmlich in Auseinandersetzung mit den besonderen Gefahren, die von Atomwaffen ausgingen. Sie kam in ganz unterschiedlichen disziplinären und theoretischen Kontexten auf und wurde so das verbindende Element für die Herausbildung einer interdisziplinären Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er-Jahre. Deren Kritik an der atomaren Abschreckungspolitik erreichte vor allem mit den folgenden drei Argumentationsbündeln eine größere Öffentlichkeit und nahm so Einfluss auf die gesellschaftlichen Vorstellungen und Bewertungen unterschiedlicher Formen von Gewalt.
Den Anfang machten 1957 die »Göttinger Achtzehn«, die renommiertesten deutschen Physiker (18 Männer!), die ihre wissenschaftliche Expertise in die öffentliche Debatte um die Aufrüstung der Bundeswehr mit atomaren Waffen einbrachten und erklärten: »Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. […] Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebenausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. […] Unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. […] Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.«[4]
Die Dimensionen der Zerstörung, die der Einsatz von atomaren Waffen bei einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen West und Ost hätte und die unvergleichbar zu denen konventionell geführter Kriege seien, waren das zentrale Argument der Atomphysiker, wofür sie auch ihre spezifische wissenschaftliche Kompetenz reklamieren konnten. Federführend für die daraus entstandene »Vereinigung Deutscher Wissenschaftler« (VDW) war Carl Friedrich von Weizsäcker, der spätere Direktor des »Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« in Starnberg (gegründet 1970), das durchaus auch als Friedensforschungsinstitut wahrgenommen wurde. Denn Weizsäcker leitete zuvor in Hamburg die Forschungsstelle der VDW, die ab 1964 eine Studie über die »Folgen eines möglichen zukünftigen, atomar geführten Krieges in unserem Lande« erstellte,[5] die dann in Starnberg abgeschlossen wurde. Mit ihr wurde auf höchst differenzierte Weise die grundsätzliche Gefährdung der Menschheit durch die Politik atomarer Abschreckung herausgearbeitet.
Nicht nur das Zerstörungspotential von Atomwaffen, sondern das gesamte politische und soziale System militärischer Abschreckung kritisierte wenig später der Frankfurter Politologe Dieter Senghaas in seinem berühmt gewordenen Buch »Abschreckung und Frieden« als prinzipiell friedensgefährdend. Senghaas analysierte darin »Abschreckung« nicht als rein zwischenstaatliches Interaktionsmuster, sondern in einer interdisziplinären Betrachtungsweise als Komplex internationaler, gesellschaftlicher und psychischer Strategien und Motivationen: »So wird in der Abschreckungspolitik die systematische Vorbereitung auf den Krieg zu einem Dauerzustand. Seine intellektuelle Antizipation mit den entsprechenden organisatorischen und psychischen Konsequenzen wird als konstitutive Bedingung seiner Eindämmung propagiert. Notwendigerweise führt der Versuch, auf diesem Wege den Krieg zu verhindern, zu dessen umfassender Vorbereitung.«[6] Dies bezeichnete Senghaas als »organisierte Friedlosigkeit«, deren Eigendynamik einerseits in der Gefahr stehe, den Krieg nicht dauerhaft verhindern zu können, weil Abschreckung aus verschiedenerlei Gründen ständig scheitern könne. Andererseits verursache die »organisierte Friedlosigkeit« kontinuierlich enorme gesellschaftliche »Kosten«: neben den horrenden und ständig steigenden finanziellen Aufwendungen für Rüstung auch die Stabilisierung eines gesellschaftlichen Status quo gegen emanzipatorisch-demokratische Entwicklungen sowie die systematische Verteufelung des »Feindes«, denn: »Absolute Vernichtungsmittel erfordern den absoluten Feind, wenn sie nicht absolut unmenschlich sein sollen. […] Die Androhung einer Vergeltung in den Größenordnungen gegenwärtiger [1969!] strategischer Kalküle setzt die Kriminalisierung des Gegners voraus, soll Abschreckungspraxis nicht selbst kriminell erscheinen.«[7]
Diese sozialwissenschaftliche Kritik des Abschreckungssystems ermöglichte eine grundlegend andere Sicht auf die Dynamiken der internationalen Politik, als sie von den damals dominierenden Theorien der Internationalen Beziehungen propagiert wurde. Senghaas’ interdisziplinäre Betrachtungsweise lieferte damit die Grundlage für ein Forschungsfeld, welches sich von den etablierten politischen wie wissenschaftlichen Diskursen des Ost-West-Konflikts klar abgrenzte und sich Anfang der 1970er-Jahre als »Friedensforschung« sehr schnell verbreiterte.[8]
Das dritte Themenfeld, in dem sich die Friedensforschung von anderen wissenschaftlichen Anstrengungen, den Frieden zu sichern, abgrenzte, steuerte der norwegische Friedensforscher Johan Galtung mit seinem Gewalt-Konzept bei: Wenn es »Gewalt« ist, die dem Frieden entgegensteht,[9] sollte die Aufmerksamkeit der Friedensforschung nicht nur der unmittelbaren physischen (personalen) Gewalt gelten, sondern ebenso allen anderen Einflüssen und Einschränkungen, die Menschen daran hindern, ihren Möglichkeiten entsprechend zu leben und sich zu verwirklichen. Weil dem offensichtlich auch Machtstrukturen und ungerechte Verhältnisse entgegenstehen, entwickelte Galtung den Begriff der »strukturellen Gewalt«. Mit dieser, letztlich maximalen Entgrenzung des Gewalt-Begriffs lassen sich Strukturen der Ungleichheit, etwa in der Verteilung von Macht, oder Formen sozialer Ungerechtigkeit in den Bereich der Gewaltphänomene aufnehmen, ohne dass unmittelbar Akteure erkennbar wären, die diese Form der Gewalt ausüben. Deshalb lautete Galtungs Definition in seinem vielfach nachgedruckten Beitrag »Gewalt, Frieden und Friedensforschung«: »Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.«[10]
2. Entgrenzte Gewaltanalysen und ihre Konsequenzen
Dieses sehr breite Gewalt-Verständnis ging noch erheblich über die Dimensionen der »organisierten Friedlosigkeit« hinaus und zielte auf eine besonders anspruchsvolle Vorstellung von »Frieden«. Mit Galtungs Differenzierung des Gewalt-Begriffs konnte nun zwischen einem »negativen Frieden« (bei Abwesenheit von personaler Gewalt) und einem »positiven Frieden« (bei Abwesenheit auch struktureller Gewalt) unterschieden und eine Forschungsrichtung abgegrenzt werden, die sich selbst als »Kritische Friedensforschung« bezeichnete.[11] Doch für den hier interessierenden Zusammenhang sind vor allem die weitergehenden Implikationen dieser Verbreiterung des Gewaltverständnisses bedeutsam, wobei sich die folgenden vier Konsequenzen beschreiben lassen.
Zunächst verlagerte sich die Aufmerksamkeit: Wer sich für Frieden und die internationale Politik interessierte, war nicht mehr nur mit den Herausforderungen von Atomwaffen und Rüstungswettläufen konfrontiert, sondern auch mit der strukturellen Gewalt der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Industrie- und sogenannten Entwicklungsländern. »Aufrüstung tötet auch ohne Krieg« – diese Botschaft der Friedensbewegung reflektierte unter anderem den Zusammenhang, dass die Rüstungsausgaben der Länder des Nordens die Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung der Länder des Südens verhindern und damit für anhaltende Unterernährung, Hunger und deutlich reduzierte Lebenserwartung in diesen Ländern mitverantwortlich seien.[12] Da die Einschränkung von Lebensmöglichkeiten aber nicht spezifischen Akteuren zugeschrieben werden konnte, sondern als Konsequenz bestimmter Strukturen der Weltpolitik und Weltwirtschaft zu verstehen war, wurde der Begriff der »strukturellen Gewalt« dankbar aufgegriffen. Und auch innerhalb einzelner Staaten ließen sich mit diesem Gewaltverständnis leicht solche Strukturen sozialer Ungleichheit und Abhängigkeit beobachten, die über den Begriff der »strukturellen Gewalt« neben den Problemen atomarer Abschreckung zum Thema der Friedensforschung wurden.[13]
Bei dieser stärkeren Aufmerksamkeit für die politischen Dimensionen des Gewalt-Begriffs wird schnell eine weitere Konsequenz dieser Ausdifferenzierung von Gewalt-Verständnissen durch die Friedensforschung sichtbar: Die rasche Übernahme einer wissenschaftlichen Begrifflichkeit in den gesellschaftlichen Diskurs verweist auf eine hohe Resonanz der Friedensforschung mit der öffentlichen Debatte oder vielleicht sogar auf einen entsprechenden Bedarf, bestimmte Phänomene mithilfe des Gewalt-Begriffs zu delegitimieren. »Soziale Ungleichheit« kann als Beschreibung bestimmter sozialer Strukturen gelten; kritisieren oder gar skandalisieren lässt sie sich offenbar besser, indem sie als »Gewalt« bezeichnet wird. Dies setzt jedoch voraus, dass die Bezeichnung »strukturelle Gewalt« im öffentlichen Diskurs aufgenommen und reproduziert wird: »Strukturelle Gewalt im Wissenschaftsbetrieb« oder »Klassenmedizin ist strukturelle Gewalt« sind massenmediale Beispiele aus jüngster Zeit,[14] anhand derer jede Leserin und jeder Leser selbst entscheiden mag, inwieweit dieser Begriff bis heute zum Verstehen der Welt beitragen kann.[15] Unabhängig von den beobachtbaren Differenzen bei der gesellschaftlichen Verankerung des Begriffs der »strukturellen Gewalt« ist aber der Funktionswandel des Gewalt-Begriffs bemerkenswert: Als »Gewalt« wird vor allem das bezeichnet, was delegitimiert werden soll.[16] So scheint es der Kritischen Friedensforschung Anfang der 1970er-Jahre gelungen zu sein, auf die Delegitimation von Gewalt Einfluss zu nehmen. Nicht auf dem Wege, dass durch wissenschaftliche Politikberatung die Einsichten der Friedensforschung unmittelbar zu politischen Entscheidungen und so zu einer Reduktion von Gewalt geführt hätten. Aber die Beiträge der Friedensforschung zum gesellschaftlichen Diskurs über Gewalt, geprägt von dem Ziel, die Friedlosigkeit der Verhältnisse zu thematisieren, waren offensichtlich nicht folgenlos.
Als dritte Konsequenz dieses durch die Kritische Friedensforschung eingeführten Gewalt-Verständnisses muss die Zunahme von »Gewalt« gelten: Wenn deutlich mehr soziale Phänomene als »nur« die Anwendung verletzender, physischer Gewalt gegen Menschen durch einen intentionalen Akteur als »Gewalt« bezeichnet und verstanden werden,[17] ergibt sich zwangsläufig eine Zunahme von – wahrgenommener bzw. wahrnehmbarer – Gewalt. Dem lässt sich auch nur bedingt mit amtlichen Gewaltstatistiken widersprechen, denn was in einem gesellschaftlichen Diskurs als »Gewalt« bezeichnet wird, verändert sich langsam, aber fortlaufend. Das Schlagen von Kindern oder die Vergewaltigung in der Ehe gelten heute als Formen illegitimer Gewalt, die gesetzlich unter Strafe gestellt sind – was sie vor nicht allzu langer Zeit noch nicht waren. Noch in den 1960er- und teilweise wohl auch in den 1970er-Jahren hätten Lehrerinnen und Ehemänner es weit von sich gewiesen, als Gewalttäter*innen bezeichnet zu werden, während sie in ihrer Selbstwahrnehmung erzieherische Schläge austeilten oder »eheliche Pflichten« einforderten. »Gewalt« lässt sich also nicht außerhalb eines gesellschaftlichen Gewalt-Diskurses erfassen, sondern nur im Kontext historisch dominierender Konstruktionen der sozialen Wirklichkeit, gerade wenn es um bewertende oder gar verurteilende Begriffe geht, zu denen der Gewalt-Begriff zweifelsohne gehört.[18] Stellt man den von der Kritischen Friedensforschung außerordentlich erfolgreich in die öffentliche Debatte hineingetragenen Begriff der »strukturellen Gewalt« in diesen Kontext, hat sich während der 1970er-Jahre das Gewaltvorkommen sowohl qualitativ als auch quantitativ vervielfältigt, und die Friedensforschung selbst hatte entscheidende begriffliche Beiträge hierzu geleistet.
Die expansive Beobachtung von Phänomenen der Gewalt erwies sich für die Friedensforschung indes als ein zweischneidiges Schwert. Einerseits erlaubte es diese Erweiterung, das Terrain von Gewaltphänomenen ganz neu zu sondieren und dabei eine Vielfalt von Formen der »Friedlosigkeit« an die Oberfläche gesellschaftlicher Debatten zu holen. Die Thematisierung alltäglicher gesellschaftlicher Gewalt stellte im Angesicht globaler Bedrohung durch Atomwaffen einen bemerkenswerten Perspektivwechsel dar. Andererseits verschob eine solche Öffnung der Friedensforschung »nach innen« nicht nur den Fokus, sondern entgrenzte gleichsam die Diagnose kritikwürdiger gesellschaftlicher Zustände. Rasch stellte sich dann auch die für die soziale Ordnung und Kohäsion zentrale Frage, was von dem Verdikt »struktureller Gewalt« noch ausgenommen werden könnte. Denn wer wollte behaupten, keinerlei Einflüssen ausgesetzt zu sein, die ihre/seine potentielle Verwirklichung in irgendeiner Weise einschränken?[19] Werden aber zu viele Phänomene mit einer negativen politischen Bewertung versehen, stumpft ein wissenschaftlich-kritisches Werkzeug ziemlich schnell ab.[20]
Mehr noch wirkte sich – als vierte Konsequenz – die Kehrseite dieses Diskurses in der weiteren Entwicklung der Friedens- und Konfliktforschung selbst aus. Die 1970 im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) aufgenommene besondere öffentliche Förderung dieses Forschungsfelds ermöglichte, gerade unter Bezugnahme auf einen sehr breiten, entgrenzten Gewalt-Begriff, auch die Analyse von innerstaatlichen Gewaltverhältnissen sowie von Strategien ihrer Beseitigung. Und dass in einer »Kritischen Friedensforschung« auch der Status quo der damaligen Bundesrepublik Deutschland in Frage gestellt wurde, wird aus heutiger Sicht kaum überraschen.[21] Zum Verhängnis hinsichtlich ihrer staatlichen finanziellen Förderung wurde der Friedensforschung aber ihre wissenschaftliche Debatte über unterschiedliche Gewaltformen, die das Ziel verfolgte, »auf die Verminderung organisierter Gewaltpotentiale sowie kollektiver und individueller Gewaltanwendung« hinzuwirken.[22] In dieser öffentlichen »Erklärung zur Friedensforschung« von 1971 wurde aber auch auf die Debatte »über geeignete Methoden zur Überwindung von Gewaltsituationen« eingegangen und darauf hingewiesen, dass in Teilen der Forschung die Hypothese vertreten werde, »daß unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen politische Systeme es sozial diskriminierten Gruppen unmöglich machen, anders als in gewaltsamer Selbstentäußerung ihre Interessen zu artikulieren und politisch durchzusetzen«.[23]
Für die politische Auseinandersetzung über die öffentliche Förderwürdigkeit der Friedensforschung wurde dies in dem von der Bayerischen Staatsregierung in Auftrag gegebenen Gutachten über die Arbeit der DGFK als Beleg interpretiert, dass »zur Beseitigung angeblich erkannter ›struktureller Gewalt‹ die Anwendung von ›klassischer Gewalt‹ auch von Friedensforschern für erlaubt gehalten wird«.[24] Die Konsequenz war, dass die DGFK nach einem guten Jahrzehnt erfolgreicher wissenschaftlicher Fördertätigkeit geschlossen wurde.[25] Diese Vorgänge verweisen auf die als politisch nicht opportun erachteten Differenzierungen und die damit einhergehende Entgrenzung wissenschaftlicher Gewaltanalysen, wenn sie sich auf die aktuellen gesellschaftspolitischen Verhältnisse beziehen. Und so zeigt sich hier: Die politische Relevanz der Forschung macht ihre öffentliche Förderung prekär, gerade dann, wenn sich in wissenschaftlichen Debatten politisch widerstreitende Perspektiven spiegeln. So lässt sich die Akademisierung der Friedens- und Konfliktforschung in den 1990er-Jahren auch als Reaktion auf die erlittene politische Niederlage der 1980er-Jahre verstehen.[26] Entgrenzten Gewaltanalysen folgte der Entzug politischer Unterstützung, was im Rückblick die Frage aufwirft, ob damit auch eine wachsende epistemische Gewaltblindheit einhergegangen ist.
In dieser fokussierten und damit zweifellos verkürzenden Darstellung entgrenzender Gewaltanalysen der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland wird deutlich, dass Wirkung und Entwicklung der Forschungsrichtung paradox ineinander verwoben sind. Denn sie trug dazu bei, Gewalt gleichsam zu vervielfältigen und präziser wahrnehmbar zu machen, indem sie mit dem Begriff der »strukturellen Gewalt« ein breiteres Spektrum gesellschaftlicher »Friedlosigkeit« sichtbar machen konnte. Ob sie dabei vor allem (akademisches) Spiegelbild des damaligen gesellschaftlichen Wandels war oder selbst entscheidende Beiträge zum Aufdecken von alltäglichen Gewaltphänomenen leistete, sollte nicht voreilig im Interesse einer »Selbstwirksamkeitserfahrung« entschieden, sondern zunächst reflexiv und wissenschaftssoziologisch differenziert analysiert werden.[27] Davon ließe sich auch Aufklärung erwarten hinsichtlich der Frage, warum bei aller Kritik der Gewalt, den Analysen ihrer Ursachen und der Reflexion ihrer eigenen Verstrickungen in wissenschaftliche und gesellschaftliche (Gewalt-)Strukturen die jüngsten Debatten über sexualisierte Gewalt nicht von der gewaltsensibilisierten Friedensforschung, sondern von Hollywood ausgehen mussten – während die argumentative Vorgehensweise durchaus Ähnlichkeiten aufweist.
Heute ermöglichen die Techniken der Social Media einen gesellschaftlichen Diskurs über sexualisierte Gewalt, der die angeblich »zivilisierte Welt« gewaltsamer erscheinen lässt als vorher (noch Anfang des Jahres 2017) angenommen. Die Kampagne »#MeToo« lässt ein soziales Gewalt-Problem sichtbar werden, welches auch die Friedens- und Konfliktforschung trotz all ihrer methodologischen Finessen erst unzureichend thematisiert hat. Epistemische Gewaltblindheit könnte eine treffende Erklärung dafür sein, dass auch eine Forschungsrichtung, die aus normativen Motiven eine besondere Gewaltsensibilität für sich beansprucht, bisher nur geringe Erkenntnisse vorweisen kann, die geeignet wären, die Öffentlichkeit aufzuklären, Politik zu beraten und zur differenzierten Analyse dieses Gewaltphänomens beizutragen. Konzepte der strukturellen, kulturellen, latenten, psychischen oder epistemischen Gewalt waren offenbar nicht ausreichend, die Illusion weitverbreiteter Gewaltfreiheit der Geschlechterbeziehungen in westlichen Gesellschaften nachhaltig zu erschüttern. Diese Illusion war kein Hollywood-Produkt, sondern Resultat der weitverbreiteten Unsichtbarkeit individuell erlittener Gewalt im gesellschaftlichen Diskurs in Verbindung mit hegemonialer Männlichkeit. Diese erschreckend lange stabile gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit besitzt zudem noch strukturelle Parallelen zu anderen sozialen Beziehungsfeldern, etwa zur Vorstellung, kirchliche Knabenchöre seien immer Orte gewaltfreier musikalischer Erziehung oder die Wissenschaft operiere völlig frei von Gewalt.[28]
Gerade weil es sich beim Erkennen von Gewalt in Geschlechterbeziehungen um kulturell tief verwurzelte Phänomene handelt, sind Lernprozesse freilich voraussetzungsvoll und hängen nicht allein von einer kritischen wissenschaftlichen Reflexion ab. Veränderungen in strukturell gefestigten Macht- respektive Gewaltarrangements können oft nur im Zusammenhang krisenhafter Zuspitzungen thematisiert und durchgesetzt werden. Doch enthebt die Bedeutung diskursiver Gelegenheitsfenster weder die Friedensforschung noch die anderen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen der Verantwortung, ihre Einbindung in die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit zu reflektieren und gerade bezogen auf Gewalt ihre analytischen Werkzeuge und Brillen kontinuierlich selbstkritisch zu prüfen, um der Gefahr zu entkommen, die eigenen Gewalttätigkeiten zu übersehen, illegitime Gewalt wissenschaftlich ungesehen zu lassen oder – im schlimmsten Falle – gar zu rechtfertigen.
Die Reflexion der bewusst veränderbaren Perspektiven auf Gewalt einschließlich des Bewusstseins für die Möglichkeit epistemischer Gewaltblindheit, wie sie sich von der Friedensforschung erwarten lässt, ist das wissenschaftliche Werkzeug, den Blick darauf zu schärfen, was abseits politischer Diskurshegemonien den Frieden gefährdet oder Friedlosigkeit stabilisiert. Auch epistemische Gewaltblindheit zu beobachten, sich einer Analyse der Legitimationsformen von Gewalt zuzuwenden und über verschiedene – unterschiedlich legitime – Formen der Gewalt aufzuklären, kann die politischen Möglichkeiten zur Gewaltreduktion erleichtern. Die Umsetzung dieser Friedensförderung durch den Gewaltmonopolisten »Staat« ist damit aber noch nicht gewährleistet. Dazu ist weit mehr erforderlich als wissenschaftliche Analysen einer auf illegitime Gewalt fokussierten Friedensforschung.[29] Aber wenn sie entsprechende Ansätze und Anlässe zur Gewaltreflexion bereitstellt, die in sozialen Bewegungen ein Potential zur gesellschaftlichen Veränderung anfachen können, wäre kein unwesentlicher Beitrag geleistet. Dazu bedarf es jedoch eines verstärkten gesellschaftspolitischen Engagements der Wissenschaft, also ihrer Bereitschaft zur Politisierung – Ansprüche, die im akademischen System der Gegenwart nur schwer einzulösen sein werden.
Anmerkungen:
[1] Für ihre Kommentare zur Entwurfsfassung dieses Beitrags danken wir den Herausgebern des vorliegenden Themenhefts sowie Rebecca Gulowski, Charlotte Rungius, Nora Schröder und Michaela Zöhrer.
[2] Der Begriff »Friedensforschung« dominierte Ende der 1960er-Jahre, ehe er von der Bezeichnung »Friedens- und Konfliktforschung« abgelöst wurde – als Selbstbeschreibung einer interdisziplinären Forschungsrichtung, die am Ziel der Reduktion von Gewalt im Umgang mit sozialen Konflikten interessiert war. Dabei darf aber wissenschaftsgeschichtlich nicht übersehen werden, dass das Motiv hinter der Etablierung einer Wissenschaft von der internationalen Politik nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Erforschung der Bedingungen des Friedens als Verhinderung zwischenstaatlicher Kriege war – diese wissenschaftlichen Bemühungen werden als »Friedens-Forschung« bezeichnet; vgl. Christoph Weller, Friedens- und Konfliktforschung – Herausforderung für die Internationalen Beziehungen?, in: Frank Sauer/Carlo Masala (Hg.), Handbuch Internationale Beziehungen, 2. Aufl. Wiesbaden 2017, S. 551-572; Lisa Bogerts/Stefan Böschen/Christoph Weller, Politik, Protest, Forschung. Wie entstand die Friedensforschung in der BRD?, in: Wissenschaft und Frieden 34 (2016) H. 1, S. 12-15.
[3] Weller, Friedens- und Konfliktforschung (Anm. 2).
[4] Erklärung der 18 Atomwissenschaftler vom 12. April 1957, zit. nach Carl Friedrich von Weizsäcker, Der bedrohte Friede, München 1981, S. 29f. Zur Einordnung siehe Robert Lorenz, Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011, sowie Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, Berlin 2015, S. 163-166.
[5] Carl Friedrich von Weizsäcker, Einleitung, in: ders. (Hg.), Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1970, S. 3.
[6] Dieter Senghaas, Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Frankfurt a.M. 1969, Tb.-Ausg. 1972, S. 19.
[7] Ebd., S. 83f.
[8] Vgl. Bogerts/Böschen/Weller, Politik, Protest, Forschung (Anm. 2); Ulrike C. Wasmuht, Geschichte der deutschen Friedensforschung. Entwicklung, Selbstverständnis, politischer Kontext, Münster 1998; Corinna Hauswedell, Friedenswissenschaften im Kalten Krieg. Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Baden-Baden 1997.
[9] »Der Satz Frieden ist die Abwesenheit von Gewalt soll seine Gültigkeit behalten.« Johan Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Dieter Senghaas (Hg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt a.M. 1971, S. 55-104, hier S. 56 (dortige Hervorhebung).
[10] Ebd., S. 57. Erstveröffentlichung: ders., Violence, Peace, and Peace Research, in: Journal of Peace Research 6 (1969), S. 167-191.
[11] Senghaas, Kritische Friedensforschung (Anm. 9).
[12] Dorothee Sölle, Aufrüstung tötet auch ohne Krieg, Stuttgart 1982.
[13] Vgl. Dieter Senghaas (Hg.), Imperialismus und strukturelle Gewalt, Frankfurt a.M. 1972; Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (Hg.), Friedensanalysen. Für Theorie und Praxis 3, Schwerpunkt: Unterentwicklung, Frankfurt a.M. 1976; Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (Hg.), Jahrbuch für Friedens- und Konfliktforschung, Bd. 6: Konflikte in der Arbeitswelt, Waldkirch 1977.
[14] Rotraud A. Perner, Das Tabu brechen: Strukturelle Gewalt im Wissenschaftsbetrieb, in: Wiener Zeitung, 10.7.2016; Rudi Gabriel, Klassenmedizin ist strukturelle Gewalt, in: Volksstimme-Blog, 8.9.2016.
[15] Vgl. Michael Riekenberg, Auf dem Holzweg? Über Johan Galtungs Begriff der »strukturellen Gewalt«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 172-177.
[16] Vgl. Rebecca Gulowski/Christoph Weller, Gewalt ist keine Aggression, in: Gerald Hartung/Matthias Herrgen (Hg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Jahrbuch 2/2014: Gewalt und Aggression, Wiesbaden 2015, S. 85-91.
[17] Vgl. Gertrud Nunner-Winkler, Überlegungen zum Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt. Entwicklung, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a.M. 2004, S. 21-61.
[18] Christoph Weller, Welchen Frieden sucht die Weltgesellschaft?, in: Zeitschrift für Genozidforschung 8 (2007) H. 1, S. 36-47.
[19] Vgl. Galtung, Gewalt (Anm. 9), S. 57.
[20] Vgl. Christopher Daase, Vom Ruinieren der Begriffe. Zur Kritik der Kritischen Friedensforschung, in: Berthold Meyer (Red.), Eine Welt oder Chaos?, Frankfurt a.M. 1996, S. 455-490.
[21] Senghaas, Kritische Friedensforschung (Anm. 9).
[22] Erklärung zur Friedensforschung; zit. ebd., S. 417.
[23] Zit. ebd.
[24] Hans-Joachim Arndt, Die staatlich geförderte Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis 1979. Wissenschaftliches Gutachten über die Förderungstätigkeit der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK), München 1981, S. 20.
[25] Vgl. Karlheinz Koppe, Im politischen Spannungsfeld gescheitert. Zur Lage der Friedensforschung und der DGFK, in: Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (Hg.), DGFK Jahrbuch 1982/83: Zur Lage Europas im globalen Spannungsfeld, Baden-Baden 1983, S. 609-635.
[26] Vgl. dazu Thorsten Bonacker, Forschung für oder Forschung über den Frieden? Zum Selbstverständnis der Friedens- und Konfliktforschung, in: Peter Schlotter/Simone Wisotzki (Hg.), Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 2011, S. 46-77.
[27] Vgl. Christoph Weller, Friedensforschung als reflexive Wissenschaft. Lothar Brock zum Geburtstag, in: Sicherheit und Frieden 35 (2017), S. 174-178, und mit Blick auf das ähnliche Problem für das Feld Technikfolgenabschätzung: Stefan Böschen/Ulrich Dewald, TA als Kontextualisierungsexpertise. Zwischen einfachem und reflexivem Modus, in: TATuP. Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis 27 (2018) H. 1, S. 34-39.
[28] Vgl. Claudia Brunner, Das Konzept epistemische Gewalt als Element einer transdisziplinären Friedens- und Konflikttheorie, in: Werner Wintersteiner/Lisa Wolf (Hg.), Friedensforschung in Österreich. Bilanz und Perspektiven, Klagenfurt 2016, S. 38-53.
[29] Vgl. Claudia Brunner, Von der Selbstreflexion zur Hegemonieselbstkritik, in: Sicherheit und Frieden 35 (2017), S. 196-201.