„A Memorable One“

Fotografien von Robert Capa (1913–1954)

Anmerkungen

Die Frage, ob und wie Fotografien als historische Quellen über Ereignisse der letzten rund 150 Jahre genutzt werden können, ist oft gestellt worden.1 Der englische Kulturhistoriker Peter Burke hat in seiner Studie über die „Augenzeugenschaft“ von Bildern allerdings jüngst kritisiert, dass visuelle Darstellungen - seien es Gemälde, Grafiken oder auch Fotos - von Historikern immer noch zu selten dazu verwendet würden, tatsächlich „neue Antworten zu geben oder neue Fragen zu stellen“.2 Es sind zwei bereits häufig reproduzierte Aufnahmen von Robert Capa, dem wohl bekanntesten Kriegsfotografen des 20. Jahrhunderts, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen - nicht als Illustrationen von Geschichte, sondern als eigenständige Bildaussagen. Ihre „Relektüre“ dient weniger dazu, neue Antworten zu geben, als in Kenntnis des Publikationskontextes ihre Geschichte und Bedeutung neu zu entschlüsseln.

Die beiden Fotos entstanden in zwei verschiedenen Kriegen, jedoch abseits eines Kampfgeschehens, dessen spannungsgeladene Dokumentation sich üblicherweise mit dem Namen Robert Capa verbindet. 1913 als Endre Ernö Friedmann in Budapest geboren, begann Capa in Paris mit Hilfe seiner Lebensgefährtin Gerta Taro und ab 1936 unter seinem Pseudonym eine Karriere als Fotograf. Mit dem Spanischen Bügerkrieg stieß er auf jenes Thema, dem er sein Leben lang verbunden bleiben sollte: auf den Krieg. 1938 fotografierte er den Widerstand Chinas gegen die japanische Invasion, ab 1943 begleitete er die Alliierten an die unterschiedlichen Schauplätze der Befreiung Europas von der nationalsozialistischen Herrschaft. Den israelisch-arabischen Krieg von 1948 dokumentierte er genauso wie 1954 die letzten Züge des Indochinakrieges, dem er schließlich selbst zum Opfer fiel.

Die zwei ausgewählten Schwarzweißfotos zeigen jeweils eine Mutter mit ihrem Kind und gehören damit einem Werkkorpus Capas an, das den Auswirkungen des Krieges auf die Zivilbevölkerung gewidmet ist. Denn neben dem Geschehen an der Front hat Capa immer wieder Verwundete, Ausgebombte, Geflohene, Traumatisierte und Trauernde fotografiert. Als Inbegriff der Fürsorge und in Anlehnung an die christliche Allegorie der caritas proximi, der Nächstenliebe, eröffnet das Motiv von Mutter und Kind eine Dimension kriegerischen Geschehens, die über die unmittelbaren Kampfhandlungen hinausreicht. Was Capa hier zum Ausdruck bringt, ist die je ganz unterschiedliche Verletzbarkeit einer an sich Frieden ausstrahlenden Figurengruppe in Kriegszeiten. Wie fast alle seine Fotos entstanden die beiden Bilder für die Publikation in Zeitungen und Magazinen, gehören also der Gattung Pressefotografie und damit der Kategorie der öffentlichen Bilder an. Durch ihren ursprünglichen Erscheinungskontext erhielten die zwei Fotografien einen symbolischen Mehrwert, der über das Dargestellte hinausweist und sie, immer in Abhängigkeit von ihrer ästhetischen Gestaltung, zu „historischen Referenzbildern“ werden lässt.3

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Chartres, August 1944

Abb. 1: Chartres, August 1944
(Magnum Photos)

 

Eines der ersten Fotos einer Mutter mit Kind entstand 1939 in Barcelona während des Spanischen Bürgerkrieges. Motivisch knüpft daran eine Aufnahme aus Chartres von 1944 an (Abb. 1). Sie zeigt eine junge Frau mit kahlgeschorenem Kopf, die ein Baby im Arm hält und begleitet von einem Mann in Uniform eine gepflasterte Straße entlang läuft. Umgeben von einer Menschenmenge, deren Gesichter ihr neugierig und teilweise spöttisch lachend, teilweise ernst und besorgt zugewandt sind, hat die Mutter den Blick fest auf ihr Kind geheftet und scheint kaum Notiz von ihrer Umgebung zu nehmen. Capa hat sich für die Aufnahme frontal zur Menge auf die Straße gestellt: Durch die Zentralperspektive ist im Hintergrund des Bildes ein langer Zug von Menschen zu erkennen, der Mutter und Kind durch die Stadt folgt.

Das amerikanische Magazin „Life“ hatte Capa mit der Fotoberichterstattung über den Vormarsch der Alliierten nach der Invasion in Frankreich beauftragt. Am 18. August 1944 kam er im Gefolge des XX. US-Korps nach Chartres. Es ist eine femme tondue, die Capa dort fotografiert hat: Weil sie ein Kind von einem deutschen Soldaten bekommen hatte, wurde der Frau zur Strafe das Haar abrasiert.4 Nach der Befreiung der Stadt hatte sich der spontane Zorn der französischen Bevölkerung in einer épuration sauvage gegen all jene gerichtet, die mit den Deutschen in irgendeiner Form kollaboriert hatten oder dessen verdächtigt wurden. „Life“ veröffentlichte dieses Foto in seiner amerikanischen Ausgabe vom 4. September 1944, wo es zusammen mit Aufnahmen anderer Fotografen einen Artikel über eine Résistance-Kämpferin aus Chartres illustrierte. Die untere Hälfte einer Seite einnehmend, ist das Foto mit einer Textzeile versehen worden, in der die junge Frau als „women collaborationist“ bezeichnet wird.5 Auf der nächsten Seite findet sich oben ein zweites Foto von Capa, auf dem in Rückenansicht eine Frau zu sehen ist, die von einem bewaffneten Mann in einen Hof geführt wird, auf dessen Boden büschelweise Haare liegen. Im unmittelbaren Aufeinanderfolgen der beiden Fotos ist eine Narration angelegt, die jedoch in falscher Reihenfolge verläuft. Dies wird offensichtlich, wenn man die insgesamt sechs Aufnahmen betrachtet, die Capa von diesem Geschehen angefertigt hat. Fünf der Fotos wurden erstmals 1985 in chronologischer Abfolge in der Monografie „Robert Capa: Photographs“ abgedruckt, alle sechs 2001 in der umfassenden Publikation „Robert Capa: Die Sammlung“.6

Im Zusammenspiel der Bilder entsteht für die in „Life“ abgedruckte Aufnahme plötzlich ein Kontext. Die junge Frau mit dem Baby gehört zu einer ganzen Gruppe der Kollaboration Bezichtigter, die im Hof der Präfektur zusammengetrieben wurden. So sieht man die Frau auf einem Gruppenbild zwischen anderen geschorenen Frauen und einigen Männern stehen; neben ihr befindet sich eine ältere Frau mit Brille und ebenfalls rasiertem Kopf. Ein weiteres Foto der beiden Frauen, auf dem die ältere eine Nuckelflasche hält, macht deutlich, dass es sich dabei um die Großmutter des Babys handelt. Wenn man dies weiß, ist die ältere Frau auch auf dem Foto des Menschenzugs am rechten Bildrand hinter einem Mann mit Baskenmütze auszumachen; hier werden die beiden von der aufgebrachten Menge nach Hause eskortiert.7

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Diese Aufnahme ist die aussagekräftigste der Serie und wohl deshalb 1944 zur Veröffentlichung ausgewählt worden. In ihr bündeln sich die diffusen Gefühle einer durch den Krieg hervorgerufenen Situation, in der moralische Parameter neu gesetzt werden mussten: Wut vermischte sich mit Freude, Erleichterung mit Rachegefühl. Dass von der aufrecht gehenden und ihr Baby schützend in den Armen haltenden Frau aber eher ein Eindruck der Würde als der Scham ausgeht - der Capa-Biograf Richard Whelan hat sie mit einer Madonnenfigur verglichen -, evoziert Fragen nach der Legitimierung von Schuldzuweisungen, vielleicht auch die Frage nach eigenem Verschulden.8 Die schnelle Vorwärtsbewegung dieses Menschenzuges, die Capa durch die Wahl des Aufnahmestandpunkts sichtbar macht, kann als Ausdruck der Dynamik gelesen werden, von der dieser Prozess der gesellschaftlichen Neukonstituierung bestimmt ist.

Militärfriedhof Nam Dinh, Mai 1954

Abb. 2: Militärfriedhof Nam Dinh, Mai 1954
(Magnum Photos)

 

Robert Capas Namen mit dem Foto aus Chartres in Verbindung zu bringen war für die Leserinnen und Leser von „Life“ nicht einfach. Der Name fand sich lediglich kleingedruckt in den Fotonachweisen unterhalb des Inhaltsverzeichnisses vorne im Magazin. Ganz anders verhält es sich bei dem zweiten Beispiel (Abb. 2). Dieses Foto entstand am 21. Mai 1954 auf einem Militärfriedhof im vietnamesischen Nam Dinh, einem im Delta des Roten Flusses gelegenen Ort. Schräg von oben aufgenommen, ist darauf eine weinende Frau zu sehen, die, ein Kleinkind auf dem Schoß, an einem Grab hockt. Sie trägt einen runden Strohhut und hält ein Tuch an ihr von Trauer verzerrtes Gesicht. Ihr gegenüber sitzt eine zweite Person, die nur seitlich von hinten zu erkennen und offenbar damit beschäftigt ist, Räucherstäbchen in die Erde zu stecken. Mit dem Rücken zu ihr steht ein kleines Kind mit einem Stoffhut, das aus dem Bild heraus auf etwas blickt, was für den Betrachter nicht zu sehen ist. Umgeben ist die kleine Gruppe von diagonal den Bildraum durchziehenden Reihen weißer Kreuze mit Namensaufschriften.

Das Foto der Frauen am Grab wurde am 7. Juni 1954 im Magazin „Life“ veröffentlicht, in dessen Auftrag Capa die Schlussphase des Indochinakrieges mit der Kamera begleitet hatte. Knapp zwei Wochen zuvor war Capa durch eine Tretmine in der Umgebung Nam Dinhs getötet worden.9 Die Aufnahme war Teil eines Nachrufs, der unter der Überschrift „Great War Reporter and His Last Battle“ Capas berühmteste Bilder vereinte und von dem Bericht eines „Life“-Korrespondenten über den Hergang des tödlichen Unfalls begleitet wurde. An den Seiten beschnitten, um als Hochformat gedruckt werden zu können, kam dem Foto in dessen Präsentation der Charakter eines Memorials für Capa selbst zu. So war in der begleitenden Textzeile zu lesen: „Capa made trip to Nam Dinh shortly before he was killed. A candid critic of his own pictures, he described this as a memorable one.“10 Durch die Trauer der Frau um einen im Krieg gefallenen Soldaten wird das Foto zu einem zeitlich vorweggenommenen Gedenkbild, das vielleicht als Ausdruck einer Todesahnung Capas interpretiert werden kann.

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Neben diesem Foto entstanden auf dem Friedhof noch zwei weitere.11 Eines davon zeigt, aus anderem Blickwinkel fotografiert, worauf das stehende Kind seine Aufmerksamkeit gerichtet hat: Man sieht drei französische Soldaten, die an der Gräberreihe entlanglaufen. Auf dem zweiten sind nur die beiden Frauen mit dem kleinen Kind am Grab zu sehen; dieses Bild ist wohl das bekannteste der Serie und wird ebenfalls in der oben beschriebenen Lesart rezipiert. So findet sich zum Beispiel im 1997 publizierten Fotoband „Requiem“ - zusammengestellt aus Aufnahmen von Fotografen, die im Vietnamkrieg umkamen - neben dem Bild der Vermerk „Last roll of film“.12 Durch diese Kommentierung tritt nicht die Trauer einer mit ihren Kindern zurückgelassenen Soldatenwitwe in den Vordergrund, sondern das persönliche Schicksal des Fotografen.

Robert Capas Foto aus Chartres ist bei seiner Erstveröffentlichung als visuelles Dokument eines für die damalige Situation charakteristischen Emotionsgemischs eingesetzt worden. Diese berichtende Funktion konnte das zweite Foto nie übernehmen; vielmehr wurde es mit der Veröffentlichung zugleich zum „Referenzbild“ für die gefährliche Arbeit des Kriegsfotografen. Je länger allerdings die Erstveröffentlichung eines Fotos zurückliegt, umso stärker wird es aus seinem Entstehungszusammenhang herausgelöst und unterliegt in der Rezeption einer Dehistorisierung, die sich häufig in der verstärkten Auseinandersetzung mit seinen ästhetischen Dimensionen äußert. Eine Möglichkeit, öffentlichen Bildern wie den hier vorgestellten ihre Geschichte zurückzugeben, ohne die Frage ihrer formal-gestalterischen Qualität zu vernachlässigen, besteht darin, sie durch die Kombination mit anderen Fotos derselben Serie wieder in eine ursprüngliche Chronologie einzubetten - soweit dies rekonstruierbar ist. Der erwähnte Band „Robert Capa: Die Sammlung“13 zeigt, wie die serielle Abfolge verschiedener Aufnahmen bestimmte Ereignisse veranschaulicht, zugleich aber auch stilistische Vergleiche ermöglicht. Nicht zuletzt treten in einer solchen Anordnung wiederkehrende Motive hervor, die Capa besonders wichtig waren. Das Motiv der Mutter mit Kind gehörte sicherlich dazu.

Anmerkungen:

1 Als Überblick vgl. Jens Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000.

2 Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003, S. 10.

3 Vgl. Martin Hellmold, Warum gerade diese Bilder? Überlegungen zu Ästhetik und Funktion der historischen Referenzbilder moderner Kriege, in: Thomas F. Schneider (Hg.), Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, Bd. 1, Osnabrück 1998, S. 34-50.

4 Vgl. Hanna Diamond, Women and the Second World War in France, 1939-48, Harlow 1999, S. 134-142.

5 Life, 4.9.1944, S. 21.

6 Vgl. Cornell Capa/Richard Whelan (Hg.), Robert Capa: Photographs, New York 1985, S. 162-167; Richard Whelan, Robert Capa: Die Sammlung, Berlin 2001, S. 392-395.

7 Zum Ablauf des Geschehens vgl. die Beschreibung bei Alex Kershaw, Blood and Champagne. The Life and Times of Robert Capa, London 2002, S. 142.

8 Vgl. Richard Whelan, Die Wahrheit ist das beste Bild. Robert Capa, Photograph. Eine Biographie, 2. Aufl. Köln 1993, S. 303.

9 Nur in einer Bildunterschrift variierend wurde dieser Artikel in der internationalen Ausgabe des Magazins vom 28.6.1954 ein zweites Mal abgedruckt.

10 Life, 7.6.1954, S. 18.

11 Vgl. Whelan, Die Sammlung (Anm. 6), S. 556f.

12 Horst Faas/Tim Page (Hg.), Requiem. By the Photographers who Died in Vietnam and Indochina, London 1997, S. 67.

13 Whelan, Die Sammlung (Anm. 6).

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