Destination Vergangenheit

David Lowenthals Panorama geschichtskultureller Aneignungen (1985/2015)

Anmerkungen

[Der Beitrag entstand im Rahmen des HERA-Projekts »en/counter/points. (re)negotiating belonging through culture and contact in public space and place«.]

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Der Beitrag entstand im Rahmen des HERA-Projekts »en/counter/points. (re)negotiating belonging through culture and contact in public space and place«.
David Lowenthal, The Past is a Foreign Country,
Cambridge: Cambridge University Press 1985;
ders., The Past is a Foreign Country. Revisited,
Cambridge: Cambridge University Press 2015.
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich
die Seitenzahlen der Zitate auf die Erstausgabe.
Die Originalausgabe von David Lowenthals »The Past is a Foreign Country« (links) zeigt auf dem Cover einen Ausschnitt des Bildes »Volksfest vor dem Olympieion in Athen« des in Nürnberg geborenen Malers Georg Christian Perlberg. Es entstand 1838 nach einer Griechenland-Reise, die Perlberg vier Jahre zuvor im Gefolge Ottos, König von Griechenland (1832–1862) aus dem Hause Wittelsbach, unternommen hatte. Philhellenismus, Exotismus, Ruinenliebe sowie früher Bildungs- und Geschichtstourismus fanden in dem Gemälde Ausdruck, das heute im Besitz des Nationalen Historischen Museums in Athen ist.
Die überarbeitete Ausgabe von Lowenthals Buch (rechts) zeigt einen Ausschnitt des Bildes »Tempus edax rerum«, eine phantastische Ruinenlandschaft des niederländischen Malers und Architekten Herman Posthumus. Das Gemälde entstand 1536 und wurde erst in der Mitte der 1980er-Jahre wiederentdeckt.
Die Redewendung der »gefräßigen«, »aufzehrenden Zeit« und des »missgünstigen Alters« geht auf Ovids Metamorphosen zurück. Das Gemälde ist im Besitz der Stiftung Fürst Liechtenstein und Teil ihrer Sammlung in Wien.

»The Past is a Foreign Country« ist ein Zentralmassiv der Heritage Studies, der Cultural and Historical Geography und der Public History. Das 1985 erschienene Buch nimmt populäre Zugänge und Formen der Bewahrung und Repräsentation der Vergangenheit in den Blick; dabei spannt es den Bogen von der Gegenwart bis zurück in die Renaissance. Lowenthal zitiert mit seinem Titel den britischen Schriftsteller Leslie Poles (L.P.) Hartley (1895–1972), der seinen Roman »The Go-Between« (1953) mit den Worten begann: »The past is a foreign country; they do things differently there.« Schon die Umschlagbilder legen eine Reise in ferne Vergangenheiten nahe und wecken zugleich den mit dem (Geschichts-)Tourismus verbundenen Exotismus, der aus dem Fremden ebenso wie aus dem Vergangenen das unberührt-unverfälscht Natürliche und Authentische macht. Die Destinationen, die Lowenthal bei seiner Reise in vergangene Geschichtskulturen aufsuchte, lagen vor allem im Vereinigten Königreich, in Nordamerika und im westlichen Europa. Das Buch durchzieht die These, dass alle populären Versuche, die Vergangenheit möglichst authentisch zu bewahren, zu rekonstruieren, darzustellen oder wahrzunehmen, auf die eine oder andere Weise zum Scheitern verurteilt sind, dass sich aber gerade aus der Formbarkeit der Vergangenheit ihre identitätsbildende Kraft erschließt.

Lowenthals Buch neu zu lesen ist in verschiedener Hinsicht eine Herausforderung. Der Diskurs im Feld der Public History und der Critical Heritage Studies hat sich seit 1985 stark gewandelt, und Lowenthal selbst hat nach 30 Jahren in einer »Revisited Edition« darauf zu reagieren versucht. Zudem forderte er seine Leser*innen schon in der Einleitung der Erstausgabe mit unzähligen, aus unterschiedlichsten Medien und Zeiten stammenden Beispielen, einem überbordenden Zitatenschatz, pointierten Interpretationen, aber letztlich sparsamer Kontextualisierung und Historisierung. Praktiken der Denkmalpflege, archäologische Ausgrabungsstätten, Gothic Revival, Zeitreisen, Re-Enactments, Industriekultur, Landschaftsschutzgebiete, Zeitlichkeit der Naturgeschichte, die Differenz von Erinnerung, Geschichte und Heritage – all das und noch viel mehr bezog Lowenthal ein. Auf die ehrfürchtige, etwas verzweifelte Frage des Archäologen Yannis Hamilakis, wie man das Buch lesen solle und was man daraus lernen könne, antwortete Lowenthal 2017: Der Autor sei nicht die Instanz, die die Interpretation bestimme.1

David Lowenthal wurde 1923 in New York geboren, studierte in den 1940er-Jahren in Harvard und Berkeley Geschichte und Geographie und promovierte in Madison, Wisconsin mit einer Arbeit über den Geographen, Umweltschützer und langjährigen Botschafter der USA in Italien, George Perkins Marsh, dessen Buch »Man and Nature« (1864) zu den Klassikern der Global Environment and Sustainability Studies gehört. Lowenthal kam aus einer Familie von Akademikern, wurde 1944 kurz nach dem D-Day eingezogen und fand sich 1945 im Intelligence Photographic Documentation Project wieder, das Westeuropas Bauerbe dokumentieren sollte. Das Projekt wurde zwar niemals abgeschlossen, doch meint man, die sammelnde, kategorisierende, mit Fotografien dokumentierende Praxis noch in Lowenthals Zugriff auf die vielfältigen Formen und Funktionen des Umgangs mit Geschichte wiederzuerkennen. Beide Ausgaben des Buches enthalten jeweils gut 100 Abbildungen, von denen der Autor zahlreiche selbst fotografiert hat.

Nach dem Krieg war Lowenthal unter anderem an der University of the West Indies in Jamaica, am Londoner Institute for Race Relations und in Harvard tätig, wo er zwischen 1966 und 1969 Landscape Studies sowie Urban Environmental Perception lehrte. Seit 1972 war er Professor für Geographie am University College London (UCL), wo er noch 2017 die Eröffnungsvorlesung des neuen Centre for Critical Heritage Studies übernahm. Lowenthal erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Für die UNESCO war er an so wichtigen Diskussionen wie der Nara Conference on Authenticity beteiligt, bei der es um eine kontext- und praxisbezogene, globale und kulturspezifische Erweiterung des Authentizitätskonzepts ging. Nicht nur Geschichte und Geographie beschäftigten ihn, sondern auch Psychologie, Archäologie, Architektur- und Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Umweltgeschichte. Zeit seines Lebens – er starb 2018 mit 95 Jahren – stand er jeder akademischen Fächeraufteilung skeptisch gegenüber. Das machte ihn zu einem vielgefragten, global vernetzten Experten.

Gerade die Überschneidung von historischen und geographischen, von zeit- und raumbezogenen Interessen erklärt maßgeblich, warum Lowenthals Buch so viel Resonanz fand. Das Buch war der Versuch, eine Kartierung der Geschichtskultur, des historischen Bewusstseins sowie der Formen und Funktionen der Vergangenheitsaneignung vorzunehmen. Im Kapitel »Wanting the Past« beschäftigt sich Lowen­thal ausgehend vom Phänomen der Nostalgie mit temporalen Phänomenen dieser Aneignung, dem Stellenwert des Altertums, dem demokratisierenden Reiz des Alterswerts (»pastness«) und der in vielen Epochen zu beobachtenden Liebe für Ruinen und Patina, für Ursprüngliches und Uraltes. Ebenso widmet er sich hier Fragen der Kontinuität, der Bedeutung des Endes für historische Prozesse und Phänomenen der Dauer: »Sequential order gives everything that had happened a temporal place, assigns the past a shape, and sets our lives in an historical context.« (S. 63) Mit diesem Interesse für die Verräumlichung des Temporalen entfaltete sich das gesamte Spektrum von Geschichtsaneignungen im öffentlichen Raum, das etwas später im Zentrum der sich formierenden Heritage Studies, der Erinnerungsgeschichte und Geschichtskulturforschung stand.

Der folgende Abschnitt »Knowing the Past« vergleicht drei unterschiedliche Zugänge zur Vergangenheit, nämlich über Erinnerungen, Geschichtserzählungen und den Umgang mit historischen Relikten. Lowenthals mit Ironie dargebotene, aber auch recht relativistische Quintessenz ist, dass es keine objektive Rekonstruktion der Vergangenheit gebe. Dabei spricht er der Geschichtsschreibung mit ihren wissenschaftlichen Standards und der intersubjektiven Überprüfbarkeit ihrer Thesen aber eine Korrektivfunktion zu, wie in seinem 1996 erschienenen Buch »The Heritage Crusade« deutlicher wird.2 Heritage mache aus Geschichte hingegen Sinnstiftung. In der Bewahrung ihres Erbes suchten Menschen Halt, Identität, Zugehörigkeit oder zumindest Hinweise darauf, welche Werte der eigenen Lebensführung dienten. History und Heritage gelten Lowenthal als getrennte Sphären: Er zieht eine – nach wie vor diskussionswürdige – Grenze zwischen wissenschaftlicher, erklärender und distanzierender History einerseits und nutzer*innenfreundlicher, den Gegenwartsinteressen dienender Heritage andererseits.3 Damit unterschätzt Lowenthal freilich das identitätsstiftende Potential der klassischen Geschichtsschreibung, während sich zugleich die Frage stellt, durch welche Form der Geschichtsbearbeitung die Vergangenheit denn nun stärker »verfremdet« wird.

Der dritte Abschnitt »Changing the Past« – in der Version von 2015 heißt es »Remaking the Past« – systematisiert Veränderungsprozesse durch den Blick auf verschiedene Spielarten der »Authentisierung«4 von Vergangenheit: In Prozessen der Auswahl und Identifizierung, im Zuge von Praktiken des Ausstellens, Bewahrens, Translozierens und Neuaneignens, durch Nachahmung, Imitation oder Adaption, durch Duplikate, Kopien, Repliken, Re-Enactments und andere zitatförmige Gedenkpraktiken verändern sich nach Lowenthal nicht nur die Interpretationen, sondern bisweilen auch die Überreste der Vergangenheit – vor allem dann, wenn sie den Zeitgenossen nicht mehr adäquat erscheinen. Deutlich wird hier der postmoderne Kontext, der ihn etwa konstatieren lässt: »The copy reflects the past no less than the original.« (S. 295) Diese prinzipielle Anerkennung von Neuaneignungen der Vergangenheit, die stets etwas über das historische Bewusstsein einer Zeit offenbaren, steht aber durchaus in Konflikt mit anderen Passagen, denen man stärker eine Kritik der entstellenden Wiedergabe der Vergangenheit, des Anything goes oder einer gezielten Instrumentalisierung der Geschichte entnehmen kann: »The past is always altered for motives that reflect present needs. We reshape our heritage to make it attractive in modern terms; we seek to make it part of ourselves, and ourselves part of it; we conform it to our self-images and aspirations. Rendered grand or homely, magnified or tarnished, history is continually altered in our private interests or on behalf of our community or country.« (S. 348)

Bei seinem ersten Erscheinen 1985 stand das Buch am Beginn einer Reihe von Veröffentlichungen, die sich mit neuen Formen der geschichtskulturellen Selbstvergewisserung beschäftigten, dem – wie man heute weiß – in vielen Ländern diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs aufziehenden Geschichtsboom der Spät- bzw. Postmoderne. Noch wurde diese Rückkehr zur Geschichte weitgehend national eingeordnet und gerade in Großbritannien als eine nostalgische Heritage-Welle gebrandmarkt, bei der die Beschäftigung mit der Vergangenheit zunehmend kommodifiziert werde. In diesen Kontext gehörten neben dem Sammelband »The Invention of Tradition« (1983) von Eric Hobsbawm und Terence Ranger – dem Klassiker über konstruierte Geschichtsmythen des ausgehenden 19. Jahrhunderts – insbesondere Patrick Wrights »On Living in an Old Country« (1985), Robert Hewisons »The Heritage Industry« (1987) sowie das 1994 erschienene und in seiner Kritik etwas stärker abwägende Buch »Theatres of Memory« von Raphael Samuel, dem Begründer der britischen History-Workshop-Bewegung.

Hewison sah in der Konjunktur von Heritage – ein Begriff, der seit den 1970er-Jahren eine erstaunliche Karriere in der Kulturvermarktung erlebte – eine Reaktion auf den Niedergang Großbritanniens im Zuge der Deindustrialisierung (»Britain in a Climate of Decline«) und eine sich zunehmend an ökonomischen Vorgaben ausrichtende Kulturpolitik, während Wright die Hinwendung zur Vergangenheit als Antwort auf Modernisierungszwänge, auf die Propagierung neuer patriotischer Tugenden in der Thatcher-Zeit sowie auf Formen der Privatisierung und Partikularisierung der britischen Gesellschaft interpretierte.5 Dafür gab es zahlreiche gute Argumente, hatten sich doch etwa seit den 1970er-Jahren diverse Initiativen für die Bewahrung der Country Houses als britische Werte verkörperndes Kulturerbe eingesetzt (um gleichzeitig drohende Kapital- und Erbschaftssteuern zu verhindern). Die National Heritage Acts von 1980 und 1983 hatten zudem Körperschaften wie English Heritage geschaffen, die den Denkmalschutz neu organisierten und die direkte staatliche Anbindung von Museen lockerten. Derweil hielt der Boom von Museumsgründungen an, und der National Trust konnte in den 1980er-Jahren eine Verdopplung seiner Mitgliederzahlen auf zwei Millionen verzeichnen.

Mit seinem Buch formulierte Lowenthal innerhalb dieser Debatten eine Kritik des Heritage-Booms, die freilich zugleich die Durchsetzung des Begriffs auch im wissenschaftlichen Bereich beförderte. Was Lowenthal von den Kollegen abhob, war die Tatsache, dass seine Beispielsammlung geschichtskultureller Aneignungen wesentlich weiter zurückreichte und dass sich seine Kritik der Verzerrungen öffentlicher Geschichtskultur nicht allein auf die eigene politische Gegenwart bezog. Vielmehr verstand er die Auseinandersetzung mit Geschichte prinzipiell als produktive Identitätsarbeit. Um sich einer Vergangenheit überhaupt zu nähern, müsse man sie stets neu erzählen, verändern oder auch imitieren: »We alter the past to become part of it as well as to make it our own.« (S. 331) Mit kurzen Ausflügen zu den Theorien Sigmund Freuds und Erik Eriksons verwies Lowenthal darauf, wie wichtig die Vergangenheit als Ressource für persönliche und gruppenbezogene Identitäten sein könne, während sich andere Forscher*innen mit den (neuen) Mythen des Nationalstaates und des Patriotismus auseinandersetzten. Tatsächlich brachte ihm das die Kritik ein, seine Betrachtung der Geschichtskultur sei elitär und zeige kein Interesse für politische, klassenbezogene, ökonomische oder (post-)koloniale Fragen.6

Lowenthal verzichtete darauf, größere historische Linien nachzuzeichnen oder den gesellschaftlichen Kontexten seiner Beispiele breiteren Raum zu geben. Tatsächlich kann man behaupten, dass der geographisch informierte Blick auf die Vergangenheit und auf die so verräumlichte Geschichte dazu führte, dass große Narrative keine Rolle mehr spielten, sondern ganz unterschiedliche Vergangenheiten relativ gleichberechtigt nebeneinanderstanden. Damit kündigte sich bei Lowenthal an, was später der Spatial Turn der Geschichtswissenschaften im Anschluss an die Historical and Cultural Geography betonte: dass es in einer orts- und raumbezogenen Geschichte weniger um das Nacheinander, sondern vielmehr um das Nebeneinander von Geschichten gehe.7 Das hatte weitreichende Konsequenzen für das historische Bewusstsein: Fortschritts- und Entwicklungsgeschichten waren in diesem Modus kaum mehr möglich; der Topos der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, der stets auch der Markierung des Fortschrittlichen gegenüber dem Rückständigen und Unzeitgemäßen diente, löste sich im Spiel dessen auf, was Achim Landwehr später als »Chronoferenzen« bezeichnet hat;8 die Überreste unterschiedlicher Epochen und Stile konnten verstärkt als Ankerpunkte für unterschiedliche Identitätsangebote genutzt werden. Die Vergangenheit, so fasste Ernst Schulin 1986 in einer Rezension zusammen, war nicht mehr die in genaue Zeitfolgen gegliederte, bis in die Gegenwart reichende und von dieser weiterzuführende Geschichte, sondern werde »ein großer, in sich kaum geschiedener, aber nun von uns getrennter Raum, ein ›fremdes Land‹«.9

Dies war aber nur eine mögliche Lektüre. Denn die Vergangenheit als fremdes, unvertrautes Land anzusehen ist ein Topos, eine gängige Redewendung, die auch aufgrund ihrer interpretativen Offenheit zu den unzähligen Bezugnahmen auf Lowenthals Werk geführt haben dürfte. Tatsächlich stellt sich nach wie vor die Frage, was diese Metapher taugt, für welche Felder und für welchen Zeitraum sie Aussagekraft hat, für welche Zugriffsarten auf Geschichte, in welchen Ländern, und inwieweit sie zur Analyse der Geschichtskultur in kritischer oder auch phänomenologisch-beschreibender Weise weiterhin produktiv herangezogen werden kann. Lowenthal selbst vertrat die These, dass sich die Vergangenheit mit der Moderne von der Erfahrungswelt der Gegenwart um 1800 abgekoppelt habe und sich so als fremdes Land habe konstituieren können – eine Diagnose, die man heute eher mit Reinhart Koselleck verbinden würde.10 Demgegenüber würde »Geschichte« die Vergangenheit vertraut machen, da sie versucht, letztere mit den Problemen der Gegenwart zu verknüpfen. Unabhängig von Epochenschwellen könnte man diesbezüglich hinzufügen, dass die verschiedensten Retrokulte und die zunehmende »Kulturerbe«-Vermarktung die Vergangenheit exotisiert und verfremdet haben, um Besucher*innen und Follower anzulocken. Viele Beispiele Lowen­thals weisen aber paradoxerweise in die genau entgegengesetzte Richtung: Populäre Geschichtskultur kostümiert die Vergangenheit im Kleid der Gegenwart, während Geschichtsschreibung sie historisiert, in ihrer Fremdheit zeigt und vor allzu einfachen Anpassungen an Gegenwartsinteressen bewahrt. Die Metapher im Buchtitel kann deshalb einerseits nostalgisch ausgedeutet werden: Rückzug in eine exotische ebenso wie in eine heile Vergangenheit. Sie kann aber andererseits auch auf eine Flucht vor der Vergangenheit hindeuten. Wie immer man dies auslegen mag: Das Problem bleibt dabei, dass die behauptete Grenze zwischen einer letztlich an Wahrheit orientierten wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und einer identitätsorientierten, nutzer*innenfreund­lichen Geschichtskultur allenfalls als heuristische Unterscheidung taugt, der Tendenz nach aber vorschnell die Geschichtsschreibung von ihren Gegenwartsbezügen »entlastet«.

Diese Ambivalenzen mögen mit dazu geführt haben, dass Lowenthal 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung sein eigenes Werk nochmals heimsuchte. Erst am Ende des Buches von 1985 hatte er sich nämlich damit beschäftigt, dass in den 1980er-Jahren auch zunehmend die problematischen Aspekte der Vergangenheit öffentlich thematisiert wurden: Nicht mehr allein Folterkammern berichteten von den Schrecken der entfernten Vergangenheit, sondern etwa Holocaust-Museen auch von den zeitlich nahen. Dass Lowenthals Blick auf die Geschichtskultur insgesamt zu harmonisch war, stellten deshalb schon zeitgenössische Rezensionen fest,11 und so war die eigene Wiederbesichtigung seines Buches nach 30 Jahren nicht zuletzt der Versuch, den debattenförmigen und geschichtspolitischen (weniger allerdings den aktivistischen) Formen des Umschreibens der Geschichte etwas stärker gerecht zu werden, etwa indem er einen Abschnitt »Disputing the Past« ergänzte.12 Gerade mit Blick auf Diktatur- oder Kolonial­erfahrungen hätte man nun aber allen Versuchen, die Vergangenheit als fremdes Land zu inszenieren, auch eskapistische Tendenzen vorwerfen können. Vor dem Hintergrund des anhaltenden Geschichtsbooms und des mit ihm verbundenen Geschichts­tourismus, der aus jeder noch so nahen Vergangenheit ein – keineswegs verwerfliches – Zeitreise-Erlebnis macht, führte dies Lowenthal zu dem Urteil, dass die Vergangenheit inzwischen eher ein allzu bekanntes Terrain geworden sei (2015, S. 594ff.).13

Die zeitgenössischen Veränderungen in der öffentlichen Geschichtskultur der 1980er-Jahre erklärte sich Lowenthal weitgehend als nostalgische Rückbesinnung. Sein genuiner Beitrag zum Nostalgie-Diskurs kann darin gesehen werden, dass er dem dort traditionell verankerten Heimweh das Fernweh dazugesellte, das den modernen, geschichtstouristischen Blick auf die Vergangenheit bestimmt.14 Anregungen gibt das Buch weiterhin, um den Zusammenhang von nostalgischen Rückblicken, der ihnen eigenen Zeitlichkeit und der ästhetischen Wahrnehmung einer im Raum sichtbaren Vergangenheit zu reflektieren: Im Modus der Nostalgie, so lässt sich vermuten, wird man der Differenz der Zeiten in einem »Dazwischen« gewahr – einem von Walter Benjamin bei seiner Beschäftigung mit Aura und Spur so schön beschriebenen Spiel aus Nähe und Distanz,15 das auch die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz bewusst werden lässt. Man versucht sich ein Bild der Vergangenheit zu machen, doch im Augenblick ihres Gewahrwerdens entschwindet sie wieder. Retro wird zum Lifestyle erklärt, doch stets wird man in die Gegenwart zurückgeworfen. Man ist weder heute hier noch damals dort.


Anmerkungen:

2 David Lowenthal, The Heritage Crusade and the Spoils of History, Cambridge 1996, insb. S. 105-147.

3 Dies findet sich auch bei John E. Tunbridge/Gregory John Ashworth, Dissonant Heritage. The Management of the Past as a Resource in Conflict, Chichester 1996.

5 Letztere Position kam der Kompensationsthese nahe, die den Geschichtsboom als Reaktion auf beschleunigte Modernisierung verstand und im deutschsprachigen Raum von konservativ-liberalen Stimmen formuliert wurde; siehe etwa Hermann Lübbe, Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen, London 1982; Odo Marquard, Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur, in: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994, S. 909-918. Zur Heritage-Debatte der 1980er-Jahre in Großbritannien siehe Robert Lumley, The Debate on Heritage Reviewed, in: Roger Mildes/Lauro Zavala (Hg.), Towards the Museum of the Future. New European Perspectives, London 2002, S. 57-69; Peter Mandler, The Heritage Panic of the 1970s and 1980s in Great Britain, in: Peter Itzen/Christian Müller (Hg.), The Invention of Industrial Pasts. Heritage, Political Culture and Economic Debates in Great Britain and Germany, 1850–2010, Augsburg 2013, S. 58-69.

6 Terence Ranger, The Past is a Foreign Country (review), in: American Journal of Sociology 92 (1987), S. 1008-1009; Cole Harris, The Past is a Foreign Country (review), in: Journal of Historical Geography 14 (1988), S. 329-330.

7 Vgl. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, u.a. S. 9-13, S. 40, S. 49; ders., Narrative der Gleichzeitigkeit oder Die Grenzen der Erzählbarkeit von Geschichte, in: Merkur 65 (2011), S. 583-595.

8 Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a.M. 2016, S. 149-165.

9 Ernst Schulin, Rezension zu: David Lowenthal, The Past is a Foreign Country, Cambridge/London/New York, Cambridge University Press 1985, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 387-388. Soweit ich sehe, war dies die einzige deutschsprachige Rezension des Buches von 1985.

10 Reinhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien [1976], in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 349-375.

11 Siehe dazu etwa die in Anm. 6 genannten Besprechungen.

12 Siehe zur Neuausgabe die Lese-Eindrücke der Geograph*innen Alexander B. Murphy, Michael Heffernan, Marie Price, David C. Harvey und Dydia DeLyser, Book Review Forum: The Past Is a Foreign Country – Revisited, in: AAG Review of Books 5 (2017), S. 201-214 (mit einer Replik von David Lowenthal).

13 Zum Geschichtstourismus siehe u.a. Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Destination Culture. Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley 1998, von der hier der Titel adaptiert wird.

14 Zum nostalgischen Heimweh siehe die Einleitung dieses Themenhefts und den Essay von Juliane Brauer.

15 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1982, S. 560.

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