100 Jahre 1918/19

Offene Zukünfte

  1. Ein globaler Moment
  2. Nationsgründungstage
  3. Ein schwieriges Jubiläum in Deutschland
  4. Akteure, Situationen, Skripte

Anmerkungen

1918/19 – Krieg und Sieg, Zusammenbruch und Niederlage, Revolution und Reform, Frieden und Neuordnung, Bürgerkrieg und Gewalt, Hunger und Spanische Grippe und noch mehr. Die Elemente können analytisch getrennt werden, und viele von ihnen sind je für sich historisch analysiert worden. Sie sind interpretiert und narrativ integriert worden etwa in Revolutionsforschung, Kriegsgeschichte, Gewaltgeschichte, Friedensforschung, Krankheits- und Seuchengeschichte. Doch die historische Dynamik von 1918/19 ergab sich aus dem Ineinander der verschiedenen Elemente, und zwar in ganz unterschiedlichen Konstellationen. 1918/19 ist daher ein herausforderndes Jubiläum für eine konzeptionell auf Entdeckungsreisen befindliche Geschichtswissenschaft:

  • räumlich: Auszug aus dem nationalstaatlichen Gehäuse, stattdessen »playing with scales«[1] vom Lokalen bis zum Globalen;
  • zeitlich: Auszug aus epochen- und fortschrittsbasierten Meistererzählungen, stattdessen »zooming in and out« und Spielen mit zeitlichen Perspektiven;[2]
  • begrifflich: Auszug aus konzeptionellen Gehäusen aufgrund abnehmender Trennschärfe von Kategorien wie »Krise«[3] oder »Revolution«,[4] stattdessen Aufmerksamkeit für eine breite Palette von Phänomenen sozialen Wandels, ausgehend von »multidimensional understandings of emergence and destabilization«.[5]

Der folgende Essay präsentiert einige Überlegungen zu den Aufgaben und Chancen, die das 100-jährige Jubiläum des Ereigniskomplexes 1918/19 für die Geschichtswissenschaft bietet.

1. Ein globaler Moment

Das Ende des Ersten Weltkriegs war ein weltgeschichtliches Datum. Nun ist die elfte Stunde des elften Tages des elften Monats, die offizielle Zäsur, gewiss nicht überall spürbar gewesen. An vielen Orten der Welt wurde nicht gekämpft und war auch 1914–1918 nie gekämpft worden. Hier mussten keine Waffen zum Schweigen gebracht werden. In anderen Regionen, vor allem in den »shatter zones«[6] Mittel- und Osteuropas, wurde nach dem 11. November einfach weitergekämpft, ging der Weltkrieg in Staatenkriege, Bürgerkriege, Unabhängigkeitskriege und Revolutionen über. In der späteren Türkei war von 1912 bis 1923 Krieg. In den Regionen der späteren Sowjetunion war die Kriegsdauer unterschiedlich. Auf die regionalen Ausprägungen des mörderischen Bürgerkriegs, der sich unmittelbar an die Revolution anschloss, hatte der Waffenstillstand vom November 1918 aber keinen nennenswerten Einfluss.

Trotz seiner vielerorts geringen direkten Auswirkungen verdient das Ende des Ersten Weltkriegs ein weltgeschichtliches Datum genannt zu werden. Denn das deutsche Waffenstillstandsangebot an den amerikanischen Präsidenten, die darauffolgende Parlamentarisierung und später Revolutionierung des Reiches sowie die schließliche Unterzeichnung des Waffenstillstands im Wald von Compiègne bestätigten weltweit die Schlüsselstellung Woodrow Wilsons und seiner 14 Punkte. Deren selbstgestecktes Ziel war nichts Geringeres als »that the world be made fit and safe to live in; and particularly that it be made safe for every peace-loving nation which, like our own, wishes to live its own life, determine its own institutions, be assured of justice and fair dealing by the other peoples of the world as against force and selfish aggression«.[7] Damit war nicht nur eine Orientierung geboten für die politische Neugestaltung der riesigen geographischen Räume in Mittel- und Osteuropa sowie in Westasien und Nordafrika, die nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches, des Osmanischen Reiches und (bereits seit 1917) des Russischen Reiches ihren politischen Rahmen verloren hatten. Auch jenseits dieser Räume beanspruchten Menschen nun Sicherheit »for every peace-loving nation« und »fair dealing«, indem sie Wilsons 14 Punkte eigensinnig interpretierten. Denn die Empires der Kriegsgewinner Frankreich und Großbritannien hatten zwar den Krieg überlebt. Doch warum sollte den Menschen dort verwehrt bleiben, was Teilen der Verlierer-Empires gelang: die Selbstständigkeit auf nationaler und demokratischer Grundlage? Erez Manela hat das 2007 »The Wilsonian Moment« genannt:[8] Nationalbewegungen in vielen Teilen der Welt griffen Wilsons Rhetorik auf und bauten daraus selbstbestimmte Zukunftsvisionen und Realisierungspläne. Doch die fanden in Versailles keine Aufnahme bzw. wurden auf spätere Verwirklichung innerhalb des Völkerbundes verwiesen. Die tiefgreifende Frustration veränderte die Nationalbewegungen außerhalb Europas dauerhaft. Der »Wilsonian Moment« ging ungenutzt vorüber.

25. September 1919: Bei einem Empfang für Major General James Harbord, den Leiter der amerikanischen Militärmission im Nahen Osten, weisen Armenier im ostanatolischen Erzurum auf die Leitideen Wilsons hin.
(Wikimedia Commons; National Archives, Washington DC; Foto: Sergeant Barnes/Public Domain)

Man kann die Zuspitzung der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte auf den Umgang mit Wilsons Rhetorik aus guten Gründen kritisieren.[9] Wichtig ist die Struktur des Arguments. Ebenso wie der Erste Weltkrieg nicht deswegen ein Weltkrieg war, weil in der ganzen Welt gekämpft wurde, sondern weil Menschen in der gesamten Welt ihr Handeln auf diese Ereigniskonstellation ausrichten und damit eigene Ziele verbinden konnten, waren auch der Zusammenbruch der Empires in Mittel- und Osteuropa, Westasien und Nordafrika sowie »Versailles« welthistorische Daten. Für kurze Zeit schien die Zukunft offen zu sein. Die Europäer hatten die Kontrolle verloren. Als zivilisatorisches Vorbild hatten sie angesichts der Unfähigkeit, einen brutalen Krieg einzuhegen und zu beenden, ausgedient. Möglicherweise keine weltweite Diskursgemeinschaft, aber doch ein an verschiedenen Orten der Welt ausgetragenes und weltweit beobachtbares Ringen um nacheuropäische Zukünfte entstand. Einige Akteure kamen nach Versailles. Manche trafen sich andernorts, korrespondierten miteinander, lasen und lernten voneinander. Das Schreiben und Reden über Nachkriegszukünfte, wenngleich angetrieben von je spezifischen Bedürfnissen und geerdet in je spezifischen Strukturen und Machtverhältnissen, verband Menschen weltweit. Weltweit war daher auch die Enttäuschung über die ausbleibende Verselbstständigung aus den Sieger-Empires heraus. Eine Serie von Unruhen und Aufständen im Frühjahr 1919 zeigt das an. Diese globale Interaktion war nie in Versailles konzentriert. »Versailles« wirkte aber wegen des dort einzulösenden Versprechens auf eine zukünftige gerechte Ordnung wie eine Art Schwungrad.

Hinter der weltweiten Interaktion standen ähnliche Erfahrungen. Junge Männer aus vielen Teilen der Erde waren auf den europäischen Kriegsschauplätzen gewesen – als Soldaten, Träger oder Touristen. Am Kriegsende war die Spanische Grippe um die Welt gelaufen, mit ca. 25 Millionen Todesopfern.[10] Viele Menschen hatten Erfahrungen von Mangel, Krankheit und Tod, von Mobilisierung und polarisierender Rhetorik, von Wir- und Sie-Gemeinschaften gemacht. Sie hatten diskutiert, wie toter Angehöriger und Freunde gedacht werden sollte, die fernab der Heimat gestorben waren und deren Körper nicht zurückkehren würden. Der Alltag der Vielen hatte sich verändert. In Europa waren Frauen in neuer Weise als Industriearbeitende und Protestierende sichtbar geworden. Nach 1918 wurde daher der Verzicht auf das Frauenwahlrecht zunehmend begründungsbedürftig. Ebenfalls in Europa führten paramilitärische Verbände den Krieg trotz des eigentlich vor 1914 bereits etablierten staatlichen Gewaltmonopols fort oder trugen zumindest die Kriegserfahrungen in die Gesellschaft hinein. Solche Verbände faszinierten vor allem Jugendliche, die am Krieg selbst nicht mehr hatten teilnehmen können.

Nun setzen sich ähnliche Erfahrungen nicht automatisch in ähnliches Handeln und ähnliche Politiken um. Das ist in der Diskussion um George L. Mosses Brutalisierungsthese[11] gezeigt worden. Auch wenn Millionen europäischer Männer während ihrer Kriegseinsätze Entsetzliches gesehen und getan hatten, waren nicht alle europäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit in gleicher Weise von einer Brutalisierung der Politik gekennzeichnet. In Westeuropa verwandelten sich die allermeisten feldgrauen, graublauen oder khakifarbenen Todesarbeiter in Bürger, die durch Wahlen, friedliche Proteste und Streiks politische Veränderungen herbeizuführen suchten. Auch die politische Kultur der Tschechoslowakei war einigermaßen pazifiziert. In anderen Gebieten Mittel- und Osteuropas herrschte dagegen eine Kontinuität der Gewalt, die jahrzehntelang nicht befriedet werden konnte. Für den unterschiedlichen Umgang mit den Kriegserfahrungen werden Differenzen zwischen Kriegsgewinnern und -verlierern verantwortlich gemacht, daneben Stadt-Land-Unterschiede sowie unterschiedliche Interpretationsangebote für Grenzerfahrungen, die die verschiedenen politischen Kulturen bereithielten oder entwickelten.

Auch wenn es keine festen Kopplungen zwischen existenziellen Erfahrungen und bestimmten Ausformungen politischen oder gewaltsamen Handelns gibt, ist die genaue Untersuchung dieser Erfahrungen wertvoll. Denn sie eröffneten den Akteuren Möglichkeitsräume neuer Art. 1918/19 war nicht nur deswegen ein globaler Moment, weil Empires zerbrochen und Interpretationsrhetoriken ausgewechselt worden waren. Akteure hatten auch existenzielle Unsicherheit erlebt und neuartiges Handeln erfahren. Politiker sahen nicht nur die Welt offen, sie besaßen auch einen größeren Werkzeugkasten, um mit den offenen Fragen umzugehen. Und sie mussten damit rechnen, dass andere Akteure diese Werkzeuge ebenfalls besaßen oder mindestens um sie wussten.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, noch einmal auf Versailles und die anderen Pariser Vorortverträge zu schauen. Sie hatten lange eine schlechte Presse: Mit einiger Bitterkeit hat David Fromkin 1989 sein Buch über die Entstehung des »Modern Middle East 1914–1922« nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches »A Peace to End all Peace« betitelt.[12] Ian Kershaw nennt Versailles noch 2016 »ein Rezept für potentielle künftige Desaster«.[13] Doch wird fairerweise eingeräumt werden müssen, dass die Aufgabe riesig war.[14] Der gesamte Herrschaftsbereich der zusammengebrochenen Empires musste neu geordnet werden, von den sich daran anschließenden Forderungen nationaler Befreiungsbewegungen weltweit ganz zu schweigen. Die europäische Pentarchie, die das lange 19. Jahrhundert hindurch Stabilität für Europa und die von Europa aus beherrschte Welt organisiert hatte, war zerbrochen. Der Völkerbund, der das Vakuum füllen sollte, war noch nicht mehr als eine Idee. Vorerst saßen alle Siegermächte am westlichen Rand des zu ordnenden Raumes. Russland, die entscheidende Macht am östlichen Ende, war nicht mehr als ein großes Fragezeichen. Die Möglichkeiten der Siegermächte, Entscheidungen etwa in Polen oder der Türkei durchzusetzen, waren militärisch wie politisch begrenzt. Im Wissen darum versuchten lokale Akteure, Fakten zu schaffen: Um die polnischen, griechischen und türkischen Grenzen wurden Kriege geführt, und auch die Franzosen und Briten selbst handelten im arabischen Raum im Vorgriff auf noch zu treffende Entscheidungen. Hinzu kam, dass alle Akteure in Versailles während des mörderischen Weltkriegs an den Rand des Abgrunds für ihr jeweiliges Gemeinwesen geraten und einer intensiven Freund-Feind-Propaganda ausgesetzt gewesen waren. Sie suchten deshalb mehr nach Sicherheit für sich als nach einer Zukunft für die Welt. In Versailles mussten unter den Bedingungen begrenzter Zeit und begrenzter Ressourcen die Ideen Wilsons mit den Sicherheitsinteressen der Sieger und den Dynamiken vor Ort überein gebracht werden. Als auch noch die USA dem Völkerbund nicht beitraten und ihre politische Rolle jenseits bzw. oberhalb der politischen Aushandlungsprozesse Europas neu definierten, war es fast schon ein Wunder, dass überhaupt Entschlüsse zustande kamen, die mindestens Orientierung gaben und nach und nach das Blutvergießen eine Zeitlang beendeten.

Karikatur im britischen Satire-Magazin
»Punch«, 10. Dezember 1919
(Wikimedia Commons;
Zeichnung: Leonard Raven-Hill/Public Domain)

Dennoch waren die Vielen, die Hoffnungen auf Wilson und »Versailles« gesetzt hatten, ernüchtert. Das Schwungrad Kriegsende hatte vieles in Gang gesetzt, aber nur weniges im Sinne der allseits gehegten Hoffnungen zu Ende bringen können. Der globale Moment produzierte vielseitige Enttäuschungen und war insofern mehr als ein Moment. Zwar funktionierte die Versailler Ordnung gemessen an den enormen Schwierigkeiten erstaunlich gut.[15] Doch die mitlaufenden Enttäuschungen boten Radikalisierungspotential, an das während der nächsten Jahrzehnte verschiedene Bewegungen an unterschiedlichen Orten der Welt anknüpfen konnten.

2. Nationsgründungstage

Versailles bedeutete »den Siegeszug des demokratischen Nationalstaats zum dominanten Verfassungstyp im Europa der frühen 1920er Jahre«.[16] Wilson hatte dieses Ziel vorgegeben. Nur parlamentarische Demokratien wurden in Versailles als Gesprächspartner akzeptiert. Außerdem drängten emanzipatorische Bewegungen, vor allem die Arbeiter- und die Frauenbewegungen, auf dauerhafte und verlässliche Beteiligung an der Macht. »Die Plötzlichkeit, mit der die Demokratie zur Normalität wurde«,[17] hat mit der Weltkriegserfahrung und der internationalen Politik danach zu tun. Doch der Siegeszug beruhte auf den vielen Unterstützerinnen und Unterstützern der Demokratie und ihrer Vernetzung.

Nun wissen wir um die Mühseligkeit und die Opfer des Neubeginns ebenso wie um dessen häufiges Scheitern. In Kiew gab es zwischen 1918 und 1920 neun Machtwechsel. Mit der Ermordung von bis zu 30.000 Griechen und Armeniern in Smyrna im September 1922, dem Massaker an muslimischen Türken in verschiedenen Orten Kleinasiens vorausgegangen waren, beginnt Robert Gerwarth seine Geschichte der Kriege nach dem offiziellen Ende des Ersten Weltkriegs.[18] In vielen Regionen Mitteleuropas folgte auf den latenten oder offenen Bürgerkrieg 1918/19 ein punktueller Bürgerkrieg 1919–1921, der mit symbolischen Terrainkämpfen in den Städten auslief, die oft erst nach 1923 und dann nur eine Zeitlang aufhörten.[19] Die Gewalt der Jahre 1917–1923 und ihre längerfristigen Auswirkungen sind neuerdings zentrale Forschungsthemen. Die Geschichte von Vertreibungen und Umsiedlungen, von Minderheitenschutz und Humanitarismus gehört in diesen Zusammenhang.[20] Zudem wurde der demokratische Nationalstaat spätestens mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise an den Rand Europas gedrängt. Er überlebte vor allem im Westen und Norden des Kontinents.

Aber trotz der teils katastrophalen Umstände lohnt es sich, darauf zu schauen, dass Mitte der 1920er-Jahre der Faschismus nur in Italien gesiegt hatte und der Kommunismus nur in der Sowjetunion. Zu diesem Zeitpunkt war der »Wilsonian Moment« längst vorüber. Doch die Demokratie konnte »in ganz Europa auf idealistischen, enthusiastischen Rückhalt zählen […], hauptsächlich durch die sozialistische und die liberale Linke«.[21] Die Projekte und Zukunftsvisionen, die Hoffnungen und Ängste, die Chancen und Grenzen dieser Jahre gehen nicht in einem »linear narrative to disaster in the early twentieth century« auf,[22] wobei in der neueren Literatur die Chancen und Grenzen unterschiedlich eingeschätzt werden.[23]

Spannend wird daher sein, wie die verschiedenen heutigen Staaten, die ihre Unabhängigkeit auf das Ende des Ersten Weltkriegs zurückführen, mit ihren 100-jährigen Jubiläen umgehen. Natürlich werden sie gegenwärtige politische Spannungslinien und Identifikationsbedürfnisse in den Mittelpunkt stellen und die Geschichte hierzu instrumentalisieren wollen. Aber die Geschichte selbst ist widerborstig und zwingt zu Anpassungen. Wenn etwa die Finnen ihr Jubiläum 2017 unter dem Motto »Together« feiern, heißt es einleitend auf der Homepage: »The newly born state was willed into being by the Finns after a long struggle. In spite of hard times, the Finnish people have for almost a hundred years engaged in the building of their country and making decisions together.«[24] Der finnische Bürgerkrieg 1918, bei dem mehr als ein Prozent der Bevölkerung zu Tode kam, kann hier ebenso wenig ganz verdeckt werden wie die konfliktreiche Innenpolitik der 1920er- und 1930er-Jahre.

»Finland’s big year 2017«
(http://suomifinland100.fi/info/?lang=en; Screenshot vom November 2017)

Andere Länder zwischen Aserbeidschan und der Tschechoslowakei, zwischen Finnland und der Türkei werden 2018/19 eigene Schwerpunkte setzen. Es wird Tourismusprogramme und Ausstellungen, Bildbände und Konferenzen geben. Es wird Forschungen zu Nationalgeschichten und Demokratiegeschichten geben, die je spezifische Perspektiven einnehmen. Manche Leserinnen und Leser dieses Textes werden sich aktiv daran beteiligen. Natürlich ist es legitim, dass heutige Gemeinwesen nach ihrer Geschichte suchen bzw. suchen lassen – und dabei auch etwas finden. Doch Demokratiegeschichten sind »in besonderem Maße anfällig für nationale Legendenbildungen und erbauliche Erzählungen einerseits, Fundamentalkritik und Denunziationen andererseits«.[25] Für die Geschichtswissenschaft wird 2018/19 Gelegenheit sein, das Verfertigen nationaler Sinnstiftungen live zu beobachten. Die Aufgabe der professionellen Historiographie, engagiert und kritisch, identitätsstiftend und mythenentlarvend zugleich zu sein,[26] wird wieder einmal große Bedeutung gewinnen.

Hilfreich kann dabei eine vergleichende Betrachtung der nationalen und demokratischen Erzählungen sein. Weil jede dieser Geschichten Schwerpunkte setzen und dabei mit je spezifischen historischen Widerborstigkeiten fertig werden muss, können die Geschichten sich gegenseitig ergänzen und implizit befragen. Heilsam wird auch ein Blick auf diejenigen Nationen sein, die ihr 100-jähriges Jubiläum nicht feiern können, weil ihnen ein Nationalstaat verwehrt blieb und sie heute nicht einmal mehr als Nationskandidaten erinnert werden. Wahrscheinlich gibt es mehr gescheiterte oder versandete Nationsbildungen als erfolgreiche. Im Donau-Karpaten-Raum wurde 1917–1919 öffentlich auch über die Bildung einer Szekeler Republik, einer Huzulischen und einer Banater Republik nachgedacht,[27] und deren nationale Ansprüche sind, von heute aus betrachtet, auch nicht weniger begründet als diejenigen von – sagen wir – Luxemburg oder Liechtenstein. Wilsons Nationsbegriff war für die ost- und ostmitteleuropäische Situation einfach nicht geeignet, wo Mehrsprachigkeit, das Zusammenleben unterschiedlicher Sprachgruppen und Kulturen sowie das Ineinander sozialer und ethnischer Segregation die Regel waren. Wilson hatte Anfang 1918 im zehnten seiner vierzehn Punkte die Zukunft des Habsburgerreiches noch offen gelassen: »The peoples of Austria-Hungary, whose place among the nations we wish to see safeguarded and assured, should be accorded the freest opportunity to autonomous development«,[28] hieß es dort. Doch nach der Niederlage der Mittelmächte konnte es für den Donau-Karpaten-Raum ebenso wenig eine Gesamtlösung geben wie für den Westen des zusammengebrochenen Zarenreiches. Weil Wilsons Kriterien nicht griffen, entschied die Macht der regionalen und lokalen Sieger, die allerdings mit den Versailler Akteuren synchronisiert werden musste.

Die Sieger kamen im Gewand des demokratischen Nationalstaats daher. Doch wie in anderen Erdteilen lohnt auch in Europa ein Blick auf diejenigen, die dieses Gewand ebenfalls gern getragen hätten, es sogar eine Zeitlang probierten, um dann doch Rumänen, Ukrainer oder Ungarn zu werden. Der Siegeszug des demokratischen Nationalstaats prägte die frühen 1920er-Jahre. Weil aber Demokratie und Nation von vornherein verschränkt waren, war dieser Siegeszug nicht für alle eine gute Nachricht.

3. Ein schwieriges Jubiläum in Deutschland

Deutschland könnte eine der um Kriegsende und »Versailles« kreisenden Nationalgeschichten haben, die sich für 2018/19 ankündigen. Doch der deutsche Fall ist anders. Es gab den deutschen Nationalstaat 1918 bereits seit einem knappen halben Jahrhundert. Wie sehr sein Bestand gefährdet war, wurde einer Bevölkerung nicht klar, die ihr Militär nach wie vor in Feindesland wusste und die Niederlage zunächst nicht als solche spürte. Auch wenn in Frankreich kurzzeitig die Auflösung des Reiches erwogen wurde, empfand niemand in Deutschland dessen Weiterbestehen als Grund zum Feiern. Die »innere Liquidierung des Krieges«[29] erschien nicht als die große Leistung, die sie war. In den Augen der Allermeisten war die Nation nicht gerettet, sondern von außen – nach Ansicht der politischen Rechten auch von innen – verletzt worden. Der demokratische Nationalstaat ohne Monarchie, entstanden aus der Novemberrevolution 1918, bestätigt in den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung vom Januar 1919 und manifest in der Verfassung, die am 11. August 1919 unterzeichnet wurde, ruhte nicht auf einem dauerhaften Konsens. Die Revolution war nicht sehr populär. Bezeichnenderweise wurde nicht der Revolutions-, sondern der Verfassungstag zum zentralen politischen Feiertag der republiktreuen Kräfte. Das Ergebnis der Revolution schien vorzeigbar zu sein, nicht der Prozess selbst.

Dabei hätten die Revolutionäre allen Grund zum Stolz gehabt. Trotz der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Kiel Anfang November 1918, bei denen die Aufständischen ihrer Sache durchaus nicht sicher sein konnten, lief die Revolutionswelle danach ebenso erfolgreich wie unblutig durch die deutschen Städte. Monarchen und Fürsten dankten ab oder wurden beiseitegeschoben, ohne dass sich eine Hand für sie gerührt hätte. Arbeiter- und Soldatenräte wirkten mit den Verwaltungen zusammen, um das Heer zu demobilisieren und Versorgung und öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Bei den Januarwahlen 1919 errangen die demokratischen Kräfte aus SPD, DDP und Zentrum eine Dreiviertelmehrheit. Doch die im Januar schon laufenden gewaltsamen Auseinandersetzungen der zweiten Revolutionswelle verschatteten die Erfolge der ersten Revolutionsmonate ebenso wie die Enttäuschung über die Waffenstillstandsbedingungen und später die Versailler Friedensregelungen.[30] Im Nachhinein wurde die Revolution kleingeredet. Doch sollte diese Überlagerung nicht darüber hinwegtäuschen, dass von Oktober bis Dezember 1918 auch in Deutschland bis hinein ins konservative Lager viele Menschen Hoffnungen auf eine bessere nachrevolutionäre Zukunft hegten.[31] Der in der Literatur immer wiederkehrende Hinweis darauf, dass Deutschland nach dem Ende des Kriegs vergleichsweise glimpflich davongekommen sei, gibt wahrscheinlich eine durchaus verbreitete Stimmung Ende 1918 wieder. Danach verdüsterte sich das Bild.

Versammlung auf dem Marktplatz in Reutlingen,
11. November 1918
(Stadtarchiv Reutlingen, S 105/1 –
Fotosammlung Keim, Nr. 142.69)

Angesichts der föderalen Tradition Deutschlands und seiner vielen Zentren ist es kein Wunder, dass die Revolution von 1918, wie diejenige von 1848/49,[32] weder in Berlin begann noch dort endete. Ihre Dynamik ergab sich aus der Interaktion verschiedener Zentren. Diese Interaktion war störanfällig, die Agierenden und Interagierenden kannten sich nicht gut und mussten Entscheidungen aufgrund unvollständiger Informationen und oft fehlerhafter Annahmen treffen. »Anxiety and fear, hope and idealism, as well as mistaken interpretations due to lack of experience and knowledge, all counted towards crystallizing not only individual subjectivity but the collective subjectivity of the revolution itself.«[33] Insofern ist es sehr wertvoll, dass wir in nächster Zeit viel lernen werden über Revolutionsverläufe in den verschiedensten deutschen Regionen. Ein Netzwerk von Museen in Deutschland, der Schweiz und Frankreich wird die »Zeitenwende am Oberrhein« ins Bild setzen.[34] Das Landesarchiv Baden-Württemberg digitalisiert »Quellen zur Demokratiegeschichte im deutschen Südwesten 1918–1923«.[35] Das Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltete im Januar 2017 ein »Werkstattgespräch Demokratie/Geschichte 1918/19« »mit dem Ziel, die Netzwerkarbeit geschichtswissenschaftlich und erinnerungspolitisch arbeitender Initiativen und Projekte zu unterstützen und voranzutreiben«.[36] Es wird viele weitere Initiativen geben, die uns helfen, Aktiv- und Passivräume, Zonen des Lärms und »Zonen der Stille«[37] besser zu verstehen. Nur im Lokalen können wir die beinahe unmerkliche Verschiebung der Stimmungen und der Machtverhältnisse im Zeitablauf untersuchen, die dann in zeichenhaften Ereignissen wie dem Kapp-Putsch manifest wurden. Nur im Lokalen können wir die Bedeutung von »anxiety and fear, hope and idealism, as well as mistaken interpretations« minutiös analysieren, aus deren Ineinander sich die Dynamik des polyzentrischen Revolutionsverlaufs ergab. Andererseits wird sich beim Vergleich lokaler und regionaler Analysen innerhalb Deutschlands ein ähnlicher Effekt zeigen wie bei den Nations- und Demokratiegeschichten international: Narrative zirkulieren historisch wie historiographisch, Helden- und Schurkengeschichten werden gebaut und weitergetragen. Die kritische Funktion der Geschichtswissenschaft wird auch hier von einiger Bedeutung sein.

Strittig ist die Frage des zeitlichen Rahmens. Klassischerweise wird der Beginn der Revolution mit den Kieler Matrosenaufständen vom Oktober/November 1918 angesetzt. Für das Ende werden verschiedene Vorschläge gemacht: Mai 1919 (Ende der Räterepublik in Bayern), August 1919 (Weimarer Reichsverfassung), März/April 1920 (Kapp-Putsch und Ruhrkampf). Im Einklang mit der internationalen Diskussion haben Klaus Weinhauer u.a. vorgeschlagen, noch breiter von einer unruhigen Zeit 1916–1923 auszugehen.[38] Damit wird der Fokus auf den demokratischen Umschwung geopfert, um den deutschen Fall in die internationale Forschung über Kriegsmüdigkeit, Kriegsübergänge und Konsolidierungen einbringen zu können und von dieser Forschung zu profitieren. Aller Voraussicht nach wird die lokal- und regionalgeschichtliche Jubiläumsforschung einen solchen Weg nicht gehen. Wie vor 20 Jahren in Bezug auf 1848/49 wird es auch hier ein starkes Motiv geben, die deutsche Demokratiegeschichte zu stärken und das Erbe der Revolutionäre aufzugreifen. Das ist sicher gut so. Doch die merkwürdige Unzufriedenheit mit der Revolution, die Beobachtungsbedingungen und Handlungsspielräume der Akteure lassen sich nur in einem internationalen Kontext erschließen, der vom Kriegsmüdigkeitsjahr 1917 bis zur Stabilisierung der Verhältnisse in Europa 1924 reicht. Forschungen, die diesen Zeitraum in den Blick nehmen, sollten allerdings sensibel bleiben für Momente wie den Hoffnungsraum Ende 1918, dessen Analyse erst die Enttäuschung vieler Akteure im Frühjahr und Sommer 1919 verständlich macht.

Deutschland hat damit in spezifischer Weise Anteil an dem globalen Moment 1918/19 wie an seinem mythengebärenden Potential. Das zeigen auch die deutschen Forschungstraditionen, die um die Handlungsspielräume besonders der sozialdemokratischen Akteure in der ersten und zweiten Revolutionswelle, die Charakteristik der Rätebewegung und die formierende Kraft der Erstentscheidungen des November 1918 kreisen. Diese seit einem halben Jahrhundert mehr oder weniger intensiv geführten Debatten haben ein geringeres Elektrisierungspotential als die Kriegsschuldfrage, die Christopher Clark für das Jahr 1914/2014 erfolgreich wieder aufgreifen konnte.[39] Sie sind auch nicht ohne weiteres europäisierbar, weil die »unvollendete Revolution« anders als die Kriegsschuldfrage nicht eigentlich ein europäisches Problem darstellt. Innovationsträchtig sind diese Forschungen dennoch, weil sie helfen können, die Weltwahrnehmungen und damit zusammenhängenden Entscheidungsgrundlagen der Akteure genauer zu beschreiben.

Keith Michael Baker und Dan Edelstein haben vor kurzem vorgeschlagen, Revolutionen seit dem späten 18. Jahrhundert als »scripts« zu begreifen, die »frameworks for political action« bereithalten. »Scripts generate events.«[40] Revolutionäre »scripts« spielten in der Tat während der deutschen Revolution 1918/19 eine wichtige Rolle. Friedrich Ebert »griff nach der revolutionären Geste, um die Revolution zu verhüten«,[41] schrieb Max von Baden in seinen Erinnerungen. Der revolutionäre Reichskanzler wusste um die marxistische Tradition revolutionären Denkens ebenso wie um Abläufe früherer Revolutionen. Der revolutionäre Bürgerkrieg in Russland war nicht nur für die vorrevolutionären Eliten Europas ein Schreckbild.[42] Daraus zogen Ebert und auch die anderen Handelnden 1918/19 ihre Schlüsse. Um Rahmungen zu beschreiben, die »anxiety and fear, hope and idealism« mitbestimmten und die Anzahl der Handlungsalternativen einschränkten, sind die deutschen Forschungsleistungen von großer Bedeutung. Um 1918/19 zu verstehen, ist es sicher von Vorteil, die ineinanderlaufenden Ereignistypen nicht künstlich zu trennen. Doch in den Köpfen der Handelnden wirkten Vorverständnisse von Einzelereignissen durchaus kanalisierend. Auch weil diese Skripte national und international zirkulierten und in sozial, kulturell und räumlich begrenzten Erfahrungsräumen durchgearbeitet wurden, sind lokale und regionale Untersuchungen vor dem Hintergrund europäischer und globaler Konstellationen wichtig.

4. Akteure, Situationen, Skripte

Wie ordnen wir die auf uns zukommende Informationsflut aus globalen, europäischen, nationalen und regionalen Projekten und Feiern, aus Konferenzen, Jubiläumsbänden und Bestsellern? Jürgen Mittag hat in einem Sammelband von 2013 zum »Kontext von Arbeiterbewegung und Ruhrgebiet in der Revolution 1918 bis 1920«[43] implizit eine Sortierung der Untersuchungsstrategien nach politischer, Sozial- und Kulturgeschichte sowie der Untersuchungsräume nach wirtschaftlich-sozialen Kriterien vorgeschlagen. Diese klassischen Sortierungen sind aus der Mode gekommen. Wenn Handlungsalternativen der Akteure nicht aus Strukturen, sondern aus emotional grundierten und über Skripte geformten Weltwahrnehmungen entwickelt werden, wenn soziale Differenzierung nicht als sozialstatistisch beschreibbare Entität verstanden wird, sondern als situativ herzustellende und intersituativ[44] lose gekoppelte Strukturierungsleistung der Akteure, verlieren traditionelle und pragmatisch vernünftig erscheinende Sortierungen ihren Sinn.

Strukturbasierte Sortierungen können freilich nicht einfach ersetzt werden. In Jörn Leonhards Weltkriegspanorama spielt »Erschöpfung« eine zentrale Rolle. Dass Menschen der Schützengräben und Steckrüben müde wurden, leuchtet unmittelbar ein. Doch die »Erschöpfungskrisen«[45] des Jahres 1917 konnten durch eine »Remobilisierung« überwunden werden, deren Folgen noch das Verhalten der Siegermächte in Versailles prägten. Erschöpfte müssen offenbar nicht aufgeben, sondern können neu motiviert werden – 1917, 1918 und auch später im 20. Jahrhundert. Körperliche Zustände, Emotionen und Gefühle sind nur lose mit dem Handeln verknüpft. Ähnliche Argumentationsfiguren lassen sich bauen für die neuen Männlichkeitsbilder aus den Schützengräben, die die Kriegsjugendgeneration in unterschiedlicher Weise prägten,[46] für die Kriegsversehrten, die sich in einer Welt bewegten, in der die Unglücke auch an den Körpern anderer Menschen sichtbar waren, die sich aber in sehr unterschiedlicher Weise in die Nachkriegsgesellschaften einbrachten.[47] Empfindungen, Gefühle und Hoffnungen, das zeigen diese Beispiele, bestimmten die Geschichte des Weltkriegsendes nicht allein. Sie wurden historisch wirksam durch Interpretationsmuster, die ihrerseits ständig umgeformt, »rescripted«[48] oder neu gefunden wurden. Die Geschichte des Kriegsendes wird nach 100 Jahren aus der Perspektive der Akteure, ihrer Emotionen und ihrer Weltwahrnehmungen erzählt werden, zugleich aber aus der Geschichte von Situationen, Anschlusssituationen und den Deutungsrahmen, die in ihnen Orientierung vermittelten.

»Streit der Bettler um den besten Platz« (Originaltitel)
(Foto: Walter Ballhause [1911–1991], Hannover 1930;
Walter-Ballhause-Archiv)

Natürlich gibt es auch die großen Bögen, in die der Erste Weltkrieg eingespannt wird: »High Modernity« 1880–1970,[49] die »Klassische Moderne« 1880–1930,[50] der europäische oder auch Weltbürgerkrieg 1914–1945.[51] Von der mit dem Ersten Weltkrieg beginnenden globalen Auseinandersetzung zwischen den drei großen ideologischen Welten des Liberalismus, des Kommunismus und des Faschismus ist in vielen neueren Arbeiten die Rede. Doch angesichts akteurs- und situationszentrierter Forschungsanstrengungen scheint die drängendste Aufgabe nicht darin zu bestehen, die existierenden »Zeitschichten« oder »Zeitbögen«[52] mit neuem empirischen Material auszustaffieren oder ihnen neue Bögen hinzuzufügen. Wir müssen die Reichweite der Hoffnungsmomente und Potentiale der letzten Monate des Jahres 1918 und der mittleren 1920er-Jahre durch Studien ausloten, die die nationalen und Kontinentalgrenzen überschreiten. Methodisch fehlen Generalisierungen auf mittlerer Ebene, die die von Jürgen Mittag noch einmal ins Spiel gebrachten klassischen Sortierungen ersetzen können, um die an vielen Stellen entstehenden neuen Erkenntnisse aufzunehmen. Das intersituativ Gemeinsame, das die Hoffnungen, Ängste und Weltwahrnehmungen Verbindende muss auf den Begriff gebracht werden, um die Geschichte der Nachkriegszeit bottom up neu zu schreiben. Ein solches Vorhaben wird auf die Schwierigkeit stoßen, dass 1918/19 – anders als 1914 – ein Schwungrad für sehr viele Geschichten weltweit darstellt, die oft unverbunden blieben. Sie können wie die wahrscheinlich gerade jetzt entstehenden Jubiläumsnationalfeiern und -geschichten verglichen, aber jenseits ihres gemeinsamen Ursprungs inhaltlich nicht immer verknüpft werden. Möglicherweise ist Daniel Schönpflugs Werk »Kometenjahre«, ein quellenorientiertes, mit europäischem Schwerpunkt global ausgerichtetes, akteurszentriertes Panorama, dem Gegenstand 1918/19 besonders angemessen – auch wenn es stärker analytische, systematisierende Zugänge nicht ersetzen kann.[53]

1918/19 wurden verschiedenste Hoffnungen gehegt und zu realisieren versucht. Doch die meisten Hoffnungen endeten in einer Enttäuschung, die auch die erfolgreichen staatlichen, zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen Neugründungen der Jahre nach 1917 belastete. Gleichwohl war bis Mitte der 1920er-Jahre die Partie für den demokratischen Nationalstaat offen. Es lohnt sich, diesen offenen Zukünften ebenso Beachtung zu schenken wie ihren meist unglücklichen Folgen. Dabei helfen kann die aufmerksame gegenseitige Beobachtung von weltweiter geschichtswissenschaftlicher Forschung, nationaler Selbstvergewisserung und regionaler Demokratietraditionsfundierung. Die deutsche Forschung zur Revolution von 1918/19 habe sich nach der Hochphase der 1970er-Jahre erschöpft, ist vielerorts zu lesen. Verschiedene neuere Arbeiten zeigen, dass diese Erschöpfung ein Ende findet.[54] Die große Aufgabe liegt in der konzeptionellen Verknüpfung jenseits etablierter Zeitbögen, Ereignisklassen und Strukturmuster. 1918/19 ist daher ein adäquat herausforderndes Jubiläum für die Geschichtswissenschaft.

Anmerkungen:

[1] Beispielhaft James Retallack (Hg.), Imperial Germany 1871–1918, Oxford 2008.

[2] Beispielhaft Emily S. Rosenberg (Hg.), 1870–1945: Weltmärkte und Weltkriege, München 2012 (Geschichte der Welt Bd. 5, hg. von Akira Iriye und Jürgen Osterhammel).

[3] Vgl. Thomas Mergel (Hg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt a.M. 2012, S. 9-22, und den Leibniz-Forschungsverbund »Krisen in einer globalisierten Welt«.

[4] Vgl. Arne Hordt u.a., Aufruhr! Zur epochenübergreifenden Beschreibung beschleunigten sozialen Wandels in Krisenzeiten, in: Historische Zeitschrift 301 (2015), S. 31-62; Keith Michael Baker/Dan Edelstein (Hg.), Scripting Revolution. A Historical Approach to the Comparative Study of Revolutions, Stanford 2015.

[5] Elisabeth S. Clemens, Towards a Historicized Sociology. Theorizing Events, Processes, and Emergence, in: Annual Review of Sociology 33 (2007), S. 527-549, hier S. 529.

[6] Donald Bloxham, The Final Solution. A Genocide, Oxford 2009, S. 81; zit. nach Robert Gerwarth, Rechte Gewaltgemeinschaften und die Stadt nach dem Ersten Weltkrieg. Berlin, Wien und Budapest im Schatten von Kriegsniederlage und Revolution, in: Friedrich Lenger (Hg.), Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890–1939, München 2013, S. 103-121, hier S. 105.

[7] Woodrow Wilson, An Address to a Joint Session of Congress [8.1.1918], in: Arthur S. Link (Hg.), The Papers of Woodrow Wilson, Vol. 45: November 11, 1917 – January 15, 1918, Princeton 1984, S. 534-539, hier S. 536. Vgl. Manfred Berg, Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biographie, München 2017.

[8] Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, New York 2007.

[9] Vom »erfinderische[n] Konstrukt eines indischen ›Wilsonian Moments‹« spricht Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015, S. 670, Anm. 56. Vgl. auch Katja Naumanns Rezension zu Erez Manelas Buch, in: H-Soz-Kult, 20.3.2009.

[10] Siehe dazu jetzt Laura Spinney, 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, München 2018.

[11] Vgl. George L. Mosse, Der Erste Weltkrieg und die Brutalisierung der Politik. Betrachtungen über die politische Rechte, den Rassismus und den deutschen Sonderweg, in: Manfred Funke u.a. (Hg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa, Bonn 1987, S. 127-139. Vgl. den Themenschwerpunkt »Violence and Society after the First World War« im Journal of Modern European History 1 (2003) H. 1.

[12] David Fromkin, A Peace to End all Peace. The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East 1914–1922, London 1989.

[13] Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016, S. 177.

[14] Vgl. Sally Marks, Mistakes and Myths. The Allies, Germany and the Versailles Treaty, 1918–1921, in: Journal of Modern History 85 (2013), S. 632-659; Manfred F. Boemeke/Gerald D. Feldman/Elisabeth Glaser (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge 1998.

[15] Vgl. Tooze, Sintflut (Anm. 9).

[16] Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 84.

[17] Tim B. Müller/Adam Tooze, Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, in: dies. (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015, S. 9-33, hier S. 32. Vgl. Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014.

[18] Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkrieges, München 2017, S. 11-17. Vgl. Boris Barth, Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Frankfurt a.M. 2016.

[19] Robert Gerwarth, Rechte Gewaltgemeinschaften (Anm. 6).

[20] Vgl. Eric D. Weitz, From the Vienna to the Paris System. International Politics and the Entangled Histories of Human Rights, Forced Deportations, and Civilizing Missions, in: American Historical Review 113 (2008), S. 1313-1343; Bruno Cabanes, The Great War and the Origins of Humanitarianism 1918–1924, Cambridge 2014.

[21] Kershaw, Höllensturz (Anm. 13), S. 193.

[22] So mit empirischem Schwerpunkt auf Japan: Frederick R. Dickinson, Toward a Global Perspective of the Great War: Japan and the Foundations of a Twentieth Century World, in: American Historical Review 119 (2014), S. 1154-1183, hier S. 1159.

[23] Mit – gegenüber Müller und Tooze – einem größeren Schuss Pessimismus etwa Konrad H. Jarausch, Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century, Princeton 2015, S. 140-144.

[24] <http://suomifinland100.fi/info/?lang=en>. Vgl. auch <http://www.lietuva.lt/100/en> (»Restored State of Lithuania turns 100«).

[25] Müller/Tooze, Demokratie (Anm. 17), S. 33.

[26] Vgl. Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, Göttingen 1977, 2. Aufl. 1986, S. 129-131.

[27] Vgl. die Tagung »Blick ins Ungewisse. Visionen und Utopien im Donau-Karpaten-Raum 1917 und danach«, Ljubljana, 10.–12.5.2017; Tagungsbericht von Mateja Gaber, in: H-Soz-Kult, 8.7.2017.

[28] Wilson, An Address (Anm. 7), S. 537.

[29] Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987, S. 57-59.

[30] Vgl. Volker Stalmann, Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), S. 521-541; Mark Jones, Founding Weimar. Violence and the German Revolution of 1918–1919, Cambridge 2016; dt.: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2017. Kritisch hierzu Dirk Schumann, in: H-Soz-Kult, 26.10.2017.

[31] Klaus Weinhauer/Anthony McElligott/Kirsten Heinsohn, Introduction. In Search of the German Revolution, in: dies. (Hg.), Germany 1916–1923. A Revolution in Context, Bielefeld 2015, S. 7-35, hier S. 19; Daniel Schönpflug, Kometenjahre. 1918 – Die Welt im Aufbruch, Frankfurt a.M. 2017.

[32] Vgl. Christian Jansen/Thomas Mergel (Hg.), Die Revolutionen von 1848/49. Erfahrung – Verarbeitung – Deutung, Göttingen 1998.

[33] Weinhauer/McElligott/Heinsohn, Introduction (Anm. 31), S. 19.

[36] Tagungsbericht von Anna Zachmann, in: H-Soz-Kult, 29.3.2017.

[38] Weinhauer/McElligott/Heinsohn, Introduction (Anm. 31), S. 11-14.

[39] Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914, London 2012; dt.: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.

[40] Keith Michael Baker/Dan Edelstein, Introduction, in: dies., Scripting Revolution (Anm. 4), S. 1-24, hier S. 2, S. 3.

[41] Zit. nach Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin 1984, 2., völlig durchgesehene und korrigierte Aufl. 1985, S. 41.

[42] Robert Gerwarth/John Horne, Paramilitarismus in Europa nach dem Ersten Weltkrieg. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013, S. 7-27, hier S. 16f.; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, passim.

[43] Jürgen Mittag, Von der verratenen zur vergessenen Revolution? Einleitende Anmerkungen zum Kontext von Arbeiterbewegung und Ruhrgebiet in der Revolution 1918 bis 1920, in: Karl Christian Führer u.a. (Hg.), Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918–1920, Essen 2013, S. 19-43, hier S. 20-22.

[44] Stefan Hirschauer, Intersituativität. Teleinteraktionen und Koaktivitäten jenseits von Mikro und Makro, in: Bettina Heintz/Hartmann Tyrell (Hg.), Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen, Stuttgart 2015 (Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie), S. 109-133, hier S. 118-125; Ewald Frie/Boris Nieswand, »Bedrohte Ordnungen« als Thema der Kulturwissenschaften. Zwölf Thesen zur Begründung eines Forschungsbereichs, in: Journal of Modern European History 15 (2017), S. 5-15.

[45] Leonhard, Die Büchse der Pandora (Anm. 42), S. 797. Das folgende Zitat S. 862 und öfter.

[46] Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation (Anm. 16), S. 56.

[47] Vgl. Deborah Cohen, The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914–1939, Berkeley 2001; Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923, Paderborn 2008.

[48] Baker/Edelstein, Introduction (Anm. 40), S. 16-18.

[49] Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 5-20.

[50] Vgl. August Nitschke u.a. (Hg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1990; Peukert, Weimarer Republik (Anm. 29).

[51] Vgl. Walther L. Bernecker, Europa zwischen den Weltkriegen 1914–1945, Stuttgart 2002; Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt a.M. 1987.

[52] Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Konturen von »Ordnung« in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts, in: Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 41-64; ders., Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 321-348.

[53] Schönpflug, Kometenjahre (Anm. 31).

[54] Vgl. neben Weinhauer/McElligott/Heinsohn, Germany 1916–1923 (Anm. 31), auch Julian Aulke, Räume der Revolution. Kulturelle Verräumlichung in Politisierungsprozessen während der Revolution 1918–1920, Stuttgart 2015.

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