1/2004: Zeitgeschichte heute – Stand und Perspektiven

Aufsätze | Articles

Wie kann man die beiden getrennten deutschen Nachkriegsgeschichten integrieren? Dieser für die neuere Zeitgeschichte grundsätzlichen Frage will sich der Aufsatz stellen. Er geht von den Defiziten bisheriger Versuche gemeinsamer Narrative aus und stellt dann eine plurale Sequenzperspektive mit sieben Stufen vor, welche die wechselnden Problemkonstellationen der Jahre 1945 bis 1990 betont. Aus einem für jede der Stufen zentralen Erfahrungsbeispiel leitet der Essay schließlich wechselnde, methodisch vielfältige Analysevorschläge ab, die den verschiedenen Gegenständen angemessen erscheinen. Der Königsweg zu einer gemeinsamen deutschen Nachkriegsgeschichte ist daher nicht die Fortschreibung einer latenten Nationalgeschichte, sondern ein multiperspektivischer Ansatz, der sowohl der Eigendynamik der Teilung wie den weiter bestehenden Verflechtungen und blockübergreifenden Problemlagen gerecht wird – und nicht zuletzt auch den biografischen Erfahrungen der beteiligten Menschen.
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How can one integrate the two separate German histories of the post-war period? The article attempts to address this question, which is fundamental for the writing of contemporary history. It starts by identifying some deficits in the leading examples of common narratives and proposes a perspective of plural sequences with seven stages, which emphasizes the changing problem constellations between 1945 and 1990. Based on one example of experiences for each of the stages, the essay then suggests a variety of analytical approaches that appear suitable for the changing subject matter. The solution for the problem of constructing a joint history is therefore not the continuation of a latent national narrative, but a multiple perspective, which does justice not only to the dynamics of division, but also to the continuing ties between the two Germanies as well as the problems that transcend their borders – and last but not least to the biographical experiences of the people involved.

`Contemporary history' is inherently relevant to, indeed an integral part of, political and social processes in the present. Yet, despite a high level of politicisation of historical debates, the issue of `objectivity' or `value neutrality' cannot be addressed solely in terms of the views of the individual historian, or the wider functions fulfilled by a particular historical interpretation. Attention needs to be shifted to the conceptualisation and `emplotment' of a historical narrative within a given theoretical paradigm. Professional history entails not (merely) the imposition of creative stories, as post-modernists would have it, nor (only) the digging up of ever more `facts' about the past, as on the empiricist view. Rather, it is a puzzle-solving discipline requiring appropriate conceptual tools for the investigation of specific, theoretically constructed, questions. This article reviews recent developments in German contemporary history in the light of this framework.
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,Zeitgeschichte` ist ein konstitutiver Teil politischer und sozialer Prozesse in der Gegenwart. Doch trotz der starken Politisierung historischer Debatten kann die Frage der ,Objektivität` oder ,Wertneutralität` weder allein mit Verweis auf Ansichten des einzelnen Historikers noch mit Verweis auf allgemeine gesellschaftliche Funktionen einer historischen Interpretation diskutiert werden. Erforderlich ist vielmehr, den Blick auf die Anlage des jeweiligen historischen Narrativs innerhalb eines theoretischen Paradigmas zu lenken. Im Gegensatz zur postmodernen Sicht ist Geschichtswissenschaft nicht (nur) kreatives Geschichtenschreiben; im Gegensatz zur empiristischen Sicht ist sie aber auch kein bloßes Ausgraben neuer ,Fakten`. Eher ist die Geschichtswissenschaft als rätsellösende Disziplin zu verstehen, die sich dafür auf geeignete theoretische Konzepte stützen muss. Der Aufsatz bilanziert aus dieser Perspektive die Entwicklung der neueren deutschen Zeitgeschichtsforschung.

Europäische Zeitgeschichte beruht auf unterschiedlichen Meisterzählungen, zu denen sie in einem Wechselverhältnis steht. Sie sollte von einem geografischen Begriff von Europa ausgehen, der den Westen wie den Osten gleichermaßen umgreift und keine vorgegebenen „europäischen Werte“ annimmt. Quellenzugang, Fragestellungen und regionaler Forschungsstand variieren beträchtlich. Während die wirtschafts- und politikhistorische Integrationsforschung zu Westeuropa institutionalisiert ist und abgesicherte Ergebnisse aufweist, fehlt dies für die osteuropäische Integration noch weitgehend. In dem Aufsatz werden darüber hinaus unterschiedliche Sektoren einer vergleichenden europäischen Geschichte benannt. Hier zeichnen sich neue Wege ab, die zum Teil auch gesamteuropäische Ansätze verfolgen. Durch den Pluralismus von Integrations- und vergleichender Geschichte könnten eindimensionale Meistererzählungen differenziert werden.
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Contemporary European history starts from different master narratives. Historical research and master narratives form a mutually interdependent relationship. Contemporary European history can best be approached from a notion of Europe which comprises the East as well as the West and not from common values. In this framework the resort to sources and analytical questions still vary considerably. While research on the economic and political integration history of Western Europe is institutionalized and provides accepted results, there is only scant knowledge of the integration process of Central and Eastern European countries. The article discusses different approaches to Contemporary European History. New approaches in these fields partially fulfil the aim of offering perspectives pertaining to the whole of Europe. In utilizing pluralistic interpretations of the history of integration in conjunction with comparative history, one-dimensional master narratives may be differentiated and modified in the long run.

Anknüpfend an Hans Rothfels` klassische Definition der Zeitgeschichte als „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“ wird das Verhältnis der auf analogen Aufzeichnungsverfahren basierenden audiovisuellen Medien zur heutigen Zeitgeschichtsforschung diskutiert. Die Durchsetzung des sozialen Gebrauchs dieser Medien ist Teil des Übergangs zur Konsumgesellschaft im 20. Jahrhundert. Zu fragen ist: Wie verändert sich die Kategorie der „Mitlebenden“, wenn sie als Menschen zu denken sind, deren Realitätsbezüge und Erinnerungen in hohem Ausmaß durch den alltäglichen Gebrauch von audiovisuellen Medien bestimmt sind? Die Ausbreitung dieser Medien beendete die Hegemonie der schriftlichen Kommunikation, die auch der akademischen Disziplin „Zeitgeschichte“ zu Grunde lag. Um ihre gesellschaftliche Kompetenz zu bewahren, muss Zeitgeschichte die audiovisuellen Medien daher umfassend in ihre Praxis integrieren - von der Forschung über die öffentliche Kommunikation bis hin zur Lehre.
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Departing from Hans Rothfels` classic definition of contemporary history (Zeitgeschichte) as "epoch of the contemporaries (Mitlebende) and its scientific treatment", the article discusses the relationship between audiovisual media based on techniques of analog recording and nowadays contemporary history research. The establishment of the social usage of these media was part of the making of consumer society in the 20th century. Therefore our understanding of "contemporaries" has to be reconsidered, since these have to be conceived as human beings whose relations to reality and whose memories are highly dependent on the everyday usage of audiovisual media. The implementation of these media ended the hegemony of written communication underlying also contemporary history as an academic discipline. In order to maintain its competence within society, contemporary history will have to integrate audiovisual media into its wholesale practice, i.e. in its research, public communication and academic teaching.

Debatte | Debate

  • Jan-Holger Kirsch

    Debatte zu Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4 (1914–1949)

    Vorwort

  • Michael Geyer

    Aggressiver Individualismus und Gemeinschaftsideologie

  • Lucian Hölscher

    Die »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« auf dem Prüfstand der Kulturgeschichte

  • Merith Niehuss

    Keine Modernisierung in der Weimarer Republik?

  • Michael Wildt

    Charisma und Volksgemeinschaft

  • Benjamin Ziemann

    »Im Hexenkessel« oder Das Differenzierungsproblem der Gesellschaftsgeschichte

Quellen | Sources

Besprechungen | Reviews

Websites

Filme

  • Jean-Christoph Caron

    Ein Historienfilm kann mehr als ein Buch

    Margarethe von Trottas »Rosenstraße«

Ausstellungen

  • Lorenz Erren

    Wir können auch anders!

    Bilder von Kitsch und Tod aus Moskau, Berlin und Entenhausen

  • Kiran Klaus Patel

    Imperium sine fine

    Zur Kennedy-Ausstellung des Deutschen Historischen Museums

Neu gelesen

  • Armin Nolzen

    Franz Leopold Neumanns »Behemoth«

    Ein vergessener Klassiker der NS-Forschung

  • Gabriele Metzler

    Pathos der Ernüchterung

    Zeitdiagnostische »Stichworte« vor 25 Jahren

zu Rezensionen bei »H-Soz-Kult/Zeitgeschichte«