Für den vierten Band der „Gesellschaftsgeschichte“ von Hans-Ulrich Wehler möchte ich drei Lesarten vorschlagen. Die erste sieht den Band einfach als eine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte unter vielen. Bei dieser Lesart stechen die Vorzüge des gesellschaftsgeschichtlichen Ansatzes hervor. Wehler belässt es nicht bei kursorischen Bemerkungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, sondern er behandelt die konjunkturelle Dynamik der Wirtschaft und das soziale Profil der verschiedenen Erwerbs- und Besitzklassen in eigenem Recht und mit großer Präzision. Andererseits zeigt gerade der Abschnitt zum Kaiserreich im Ersten Weltkrieg, dass der Erfolg des Paradigmas der Gesellschaftsgeschichte den Autor Hans-Ulrich Wehler eingeholt hat. Denn eine vergleichbar gegliederte Darstellung der sozialhistorischen Ursachen für die zur Revolution von 1918 führende Legitimationskrise des wilhelminischen Systems hat unlängst Roger Chickering vorgelegt.
Es ist angesichts der Fülle des von Wehler verarbeiteten Materials beinahe unmöglich, in eine Erörterung von Details einzutreten. Und der Mehrzahl aller Bewertungen kann man auch ohne weiteres zustimmen. Bei einigen Punkten scheint mir die von Wehler vertretene Interpretation jedoch fragwürdig. Dies gilt zum Beispiel für seine Ablehnung der von Knut Borchardt vorgebrachten Argumente zur Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise (S. 516-530). Hier scheint es weiterhin sinnvoll, im Einklang mit dem von Borchardt vorgetragenen Argument auf der analytischen Trennung von individueller Handlungs- und ökonomischer Systemrationalität zu beharren und demgemäß die Chancen einer „antizyklischen Staatsintervention“ (S. 526) gegen die Selbststeuerungskräfte der Wirtschaft skeptisch zu beurteilen. Dafür spricht nicht nur, dass die vielzitierten Erfolge keynesianischer Steuerung nach 1945 (S. 522) selbst ein erklärungsbedürftiges Phänomen darstellen, das sich exzeptionellen und kontingenten Umständen verdankt. Wie schnell Wehler die scharf markierten Grenzen zwischen individueller Selbstaufklärung und systemischer Selbststeuerung überspringt, zeigt insbesondere sein Hinweis darauf, dass bereits vor der „General Theory“ von 1936 viele der Schriften von Keynes in Deutschland „ohne Verzögerung gelesen“ wurden (S. 526f.). Aber was besagt das für die Handlungsspielräume der deutschen Wirtschaftspolitik 1930-1932? Nichts! Ist es realistisch anzunehmen, der Historikertag des Jahres 1974 habe eine grundlegende Neuorientierung von Forschung und Lehre am sozialhistorischen Paradigma beschließen müssen, nur weil Hans-Ulrich Wehler seit etwa 1970 mit überzeugenden Argumenten dafür geworben hatte und viel gelesen wurde? Und wenn man dies schon für die Wissenschaft konstatieren muss, bei der eine selbstverständliche Inanspruchnahme von Rationalität immer noch die Semantik ihrer Selbstbeschreibung prägt, wie kann man dann noch die zwanglose Konvergenz des Guten und Wahren für die Wirtschaftspolitik unterstellen?
Der Vergleich mit anderen Gesamtdarstellungen dieser Epoche muss sich auf die Frage nach dem Interpretationsrahmen konzentrieren, konkret gesagt also nach dem „Sonderweg“. Als „roter Faden“ (S. 225) ist er weiterhin präsent. Es ist vor allem das „Steigerungspotential“ des deutschen Nationalismus gewesen, das der NS-Massenbewegung als „Radikalnationalismus“ (S. 549f.) zum Durchbruch verhalf und damit Deutschland als das „einzige hochentwickelte westliche Industrie- und Kulturland“ in eine „rechtstotalitäre Diktatur“ verwandelte (S. 589). Armes Italien, so möchte man ausrufen! Dort hat man es nicht zur Industrienation gebracht, um den antiquierten Thesen der Modernisierungsforschung über den notwendigen Zusammenhang von ökonomischer Modernisierung und Demokratisierung zu genügen, und jetzt wird der Heimat von Giuseppe Verdi und Alessandro Manzoni auch noch die Kultur abgesprochen.
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Die Schwäche der Sonderwegsthese liegt nicht nur in ihren normativen Implikationen und logischen Inkonsistenzen, sondern vor allem in ihrer Missachtung der neueren Faschismusdiskussion begründet. In seiner Schilderung der sozialen Bedingungen für den Aufstieg der NS-Massenbewegung (S. 542-580) geht Wehler nicht einmal am Rande auf das wesentliche Charakteristikum ein, das die deutschen Faschisten von allen ihren politischen Gegnern unterschied, aber mit ihren Gesinnungsgenossen in Italien verband: ihre beinahe grenzenlose Bereitschaft zum Töten. Beim Faschismus handelt es sich nicht um eine Übersteigerung des Nationalismus, sondern in erster Linie um eine um Gewalthandeln zentrierte Lebensform. Gewalt stand, nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck, als alltägliche soziale Praxis, als ritueller Vollzug und als politisch-ästhetischer Mythos und Erinnerungskult im Zentrum des faschistischen Lebensstils und der Soziokultur der von ihm geprägten männerbündischen Organisationsformen.1 Bei der Frage nach der ‚Vergesellschaftung der Gewalt’ geht es somit nicht um eine konzeptionelle „Privilegierung der politischen Herrschaft“ (S. XVIII), sondern um eine sozialtheoretisch informierte Analyse der endogen, innerhalb bestimmter sozialer Konfigurationen entwickelten Bereitschaft zur Gewaltanwendung: in der Interaktion unter Anwesenden, in der Organisation von Partei und Parteiarmee, schließlich in der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation. Und auf allen diesen Ebenen zeigt sich die Spezifik der faschistischen Gewaltanwendung.
Man unterschätzt aber Wehlers Ehrgeiz, wenn man seine Bände nur als eine unter vielen möglichen Gesamtdarstellungen der neueren deutschen Geschichte liest. Nicht nur in der Frontstellung gegen die ‚neue’ Kulturgeschichte werden sie vielmehr als konzeptionell überlegener Versuch präsentiert, einen sozialtheoretisch informierten und gehaltvollen Gesellschaftsbegriff zum Angelpunkt einer historischen Längsschnittanalyse zu machen. Liest man - zweitens - den vierten Band unter dieser Perspektive, so fällt auf, dass dieser Anspruch bekräftigt, im Detail aber auch relativiert wird (S. XVIIf.). Gegenüber einer Kritik von Dieter Grimm wird konzediert, dass eigentlich das Recht neben Wirtschaft, Politik, sozialer Ungleichheit und Kultur als eine fünfte „Achse“ der Gesellschaft aufgewertet werden müsste. Ist das eine neue Einsicht? Nein. Legt man die der Wirtschaftspolitik von Heinrich Brüning untergeschobenen Rationalitätsprämissen zugrunde, hätte Wehler sie bereits seit dem ersten Band der Gesellschaftsgeschichte beherzigen müssen, denn sie liegt als überzeugendes, gedrucktes Argument seit über 20 Jahren vor.2
An dieser Stelle treffen wir auf ein konzeptionelles Kernproblem der Gesellschaftsgeschichte, das hier nur angedeutet werden kann.3 Auch wenn der Autor dies abstreitet, ist unschwer zu erkennen, dass ihr das viergliederige „AGIL“-Schema gesellschaftlicher Differenzierung zu Grunde liegt, welches Talcott Parsons entwickelt hat. Überdeutlich zeigen dies wieder die Abschnitte zur ‚Kultur’, die als der durch Institutionen wie Kirche, Schule, Universität vermittelte „gemeinsame Vorrat an normativen Grundüberzeugungen und politischen Werten“ firmiert (S. 483) - was ist dies anderes als ‚latent pattern maintenance’? Eine substanzielle, ihre Leistungen und Vorzüge ernst nehmende Kritik an der Gesellschaftsgeschichte sollte sich nicht auf das schwammige Konzept der ‚Postmoderne’ stützen oder in der kulturalistischen Kritik an der strukturfunktionalen Austreibung des ‚Menschen’ mutwillig den Gesellschaftsbegriff über Bord werfen.4 Sie sollte vielmehr die Frage verfolgen, in welcher Form eine sozialtheoretisch überzeugende Weiterentwicklung der Differenzierungstheorie nach Parsons möglich gewesen ist und welche Konsequenzen dies für die künftige Praxis der Gesellschaftsgeschichte aufwirft. Als Kandidaten dafür kommen wohl in erster Linie Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann in Betracht, und es fällt auf, dass trotz vieler vollmundiger Ankündigungen über ein hohes Deutungspotential von Bourdieu bislang historische Arbeiten fehlen, welche dessen Theorie sozialer Felder zum Angelpunkt haben.5
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Dieses und ein weiteres Grundlagenproblem der Gesellschaftsgeschichte treten schließlich auch dann zutage, wenn man sie - drittens - als ein kulturhistorisches Artefakt liest und auf ihre markanten semantischen Zuschreibungen und Metaphern hin untersucht. Bei dieser Lektüre fällt einem die Metapher vom „Hexenkessel“ auf, mit der Wehler die extremen Spannungen und Belastungen der deutschen Gesellschaft in den beiden Weltkriegen, in Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise charakterisiert (S. 342, S. 485, S. 716). Sie passt zu der mechanistischen Metaphorik von Druck und Gegendruck, mit der die inneren Konflikte der deutschen Gesellschaft an vielen Stellen beschrieben werden. Dabei wird unfreiwillig klar, dass nicht nur die deutsche Gesellschaft, sondern auch Wehlers Gesellschaftsbegriff sich aufzulösen beginnt. 1945, mit einem Fünftel der „Gesellschaftsangehörigen [!] auf Kriegszügen außerhalb der Staatsgrenzen unterwegs“, dazu 8 Mio. Zwangsarbeiter im Reich - was ist da „überhaupt noch“ unter deutscher Gesellschaft zu verstehen (S. 716)? Auf jeden Fall nicht das, was den vier Bänden zugrunde liegt, nämlich das Bild der ‚Gesellschaft’ als eines Eimers, der alle innerhalb bestimmter Staatsgrenzen lebenden Menschen umfasst, die deshalb am Beginn eines jeden Abschnittes erst einmal gezählt und versammelt werden müssen. Ein solches Konzept ist sozialtheoretisch nicht satisfaktionsfähig.
Auffallend sind ferner die vielen eindringlichen Formulierungen, mit denen Wehler den historischen Akteuren Rationalität bzw. deren Gegenteil zuschreibt. Es war zu erwarten, dass ein Gigant abendländischer Rationalität wie Max Weber „unwiderlegliche“ Argumente nicht nur gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht finden würde (S. 173), und auch der ehrwürdige Friedrich Meinecke findet des öfteren Zustimmung für seine Altersweisheiten (S. 128, S. 297f.). Um so schlimmer für jene finsteren Gestalten, die ihre Ablehnung der Ratio nicht wie Carl Schmitt hinter kunstvoll gedrechselten Begriffen verbergen, sondern in ihrer „irregeleiteten Phantasie“ (S. 103) und völligen „Verlogenheit“ (S. 413) eine gänzlich „nackte Irrationalität“ (S. 426) vertreten haben, wie etwa Ernst Jünger, dem diese drei Epitheta gelten. Aber selbst ein kluger Kopf wie Bertolt Brecht „hat sich nicht entblödet“, die NSDAP als Büttel des Großkapitals zu deuten (S. 292), während es naheliegend scheint, dass ein Taugenichts wie Hitler sich seine Weltanschauung nur auf dem „Schrottplatz abgetakelter Ideen“ (S. 507) zusammenklauben konnte. Es ist offensichtlich, dass diese Metaphern nur wenig zur Erklärung solcher Irrationalismen beitragen können. An dieser sozialtheoretischen Leerstelle müssen deshalb andere Metaphern aushelfen, wie jene der vielen „Giftstoffe“, die seit 1914 in der politischen Mentalität der Deutschen „abgelagert“ wurden (S. 342).
Solche Irrationalität wird von Wehler vornehmlich als ein Problem des falschen Bewusstseins behandelt. Dabei käme es darauf an, sie als eine spezifisch verhärtete Form der Konfliktkommunikation zu begreifen.6 Gerade die Irrationalismen eines Ernst Jünger sind Indizien für die Tiefe des Widerstreits zwischen konfligierenden Sprachspielen in der Weimarer Republik. Mit Blick auf den Rechtsradikalismus der 1920er-Jahre wären sie in erster Linie durch eine Analyse der extremen Krise der Geschlechterordnung in der Nachkriegszeit zu deuten, ein Thema, das bei Wehler nicht einmal am Rande auftaucht. Denn es war der männliche Körper, der im Zentrum des faschistischen Angriffs auf die Republik stand und ihm seine emotionale Schubkraft verlieh, und damit der Körper all jener Männer, die weder willens noch imstande waren, ihre Leiblichkeit und ihre Gefühle zu disziplinieren und zu transzendieren, um am rationalen ‚Diskurs’ aufgeklärter Staatsbürger teilzunehmen.
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Die überzogenen Rationalitätsprämissen, die an historische Akteure herangetragen werden, markieren eine harte konzeptionelle Grenze des Werkes. Es handelt sich nicht nur um eine Gesellschaftsgeschichte, sondern auch um eine retrospektive „Gesellschaftstherapie“, welche den Deutschen nahelegt, „weniger realitätsblind“ (S. 299) zu urteilen und dafür ihre überkommenen Beobachtungsschemata aufzugeben.7 Es ehrt Hans-Ulrich Wehler, dass sein Glaube an die konsensuale Kraft der aufklärerischen Vernunft ungebrochen ist, zumal dieser Glaube die überragende Gelehrsamkeit und immense analytische Kraft seines Werkes beflügelt hat. Aber im Lichte der sozial- und wissenschaftstheoretischen Diskussionen der letzten drei Jahrzehnte kann diese Option heute nicht mehr überzeugen.
1 Dazu jetzt eindringlich Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.
2 Wehler verweist auf Dieter Grimm, Die Bedeutung des Rechts in der Gesellschaftsgeschichte, in: Paul Nolte u.a. (Hg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, S. 47-57. Dieser stützt sich im Kern auf Niklas Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a.M. 1981.
3 Vgl. Benjamin Ziemann, Überlegungen zur Form der Gesellschaftsgeschichte angesichts des ‚cultural turn’, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 600-616.
4 Für die erste Tendenz Konrad H. Jarausch/Michael Geyer, Shattered Past. Reconstructing German Histories, Princeton 2003, S. 85-108. Parsons als systematischer Einsprungpunkt für eine Kritik an der Modernisierungstheorie wird dort übergangen.
5 Eine wichtige Ausnahme ist Lutz Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre: Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994. Aber auch diese Studie verfolgt nicht die Ausdifferenzierung von Handlungsfeldern als das klassische Thema der Differenzierungstheorie, sondern Strategien zur Vergrößerung von Einflusschancen in einem schon bestehenden Feld.
6 Vgl. Thorsten Bonacker, Kommunikation zwischen Konsens und Konflikt. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Rationalität bei Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Oldenburg 1997.
7 Zitat: Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992, S. 651.