Wendungen nach innen?

Selektive Blicke auf die Zeitgeschichte

Anmerkungen

Virtual Library Zeitgeschichte (http://www.vl-zeitgeschichte.de)

Startseite der Virtual Library Zeitgeschichte (Dezember 2003)
Startseite der Virtual Library Zeitgeschichte (Dezember 2003)
 

In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre sahen sich die traditionellen Informationsvermittlungsinstanzen, die Bibliotheken, nicht in der Lage, ihre Mediatorenfunktion in puncto Internet wahrzunehmen. Es blieb in dieser Gründungsepoche der Eigeninitiative selbstloser NetzenthusiastInnen überlassen, für verschiedenste Disziplinen bald so genannte Fachverzeichnisse, Themenkataloge oder Fachportale aufzubauen. Ein Teil von ihnen organisierte sich in der Virtual Library (VL), dem ältesten Web-Suchdienst, ins Leben gerufen durch den WWW-„Erfinder“ Tim Berners-Lee. Sie ist der Versuch, durch eine lose Zusammenarbeit von Experten, die jeweils für ein bestimmtes Schlagwort Indices von Webressourcen erstellen, einen Universalkatalog mit akademischer Ausrichtung zu betreiben. Als Zielgruppen, zu denen sich auch die VL Zeitgeschichte bekennt, sollen vor allem WissenschaftlerInnen, Lehrende und Studierende angesprochen werden. Die VL fordert von ihren RedakteurInnen ein, nur solche Webressourcen aufzunehmen, die bestimmte Qualitätskriterien erfüllen; um in der VL Zeitgeschichte gelistet zu werden, muss daher der „wissenschaftliche Nutzen“ gegeben sein (siehe die Rubrik „Aufnahmekriterien“ der Website).

Für die Geschichtswissenschaften innerhalb der VL befindet sich der „Central Catalogue“ - seinerseits ebenfalls der erste geschichtswissenschaftliche Katalog überhaupt - auf einem Server an der University of Kansas. Er ist der Mittelpunkt von international verstreuten Websites, die jeweils ein historisches Teilgebiet erschließen, meist bezogen auf einen geografischen Raum. Wie das bundesdeutsche Beispiel „VL Geschichte“ zeigt, kann sich ein solcher „Branch“ selbstständig in weitere Teilaspekte mit jeweils eigenverantwortlichen BetreuerInnen aufteilen. Die VL Geschichte, seit 1996 im Netz, besteht derzeit aus 30 Sektionen. Auffallend spät kam die Zeitgeschichte dazu - in ihrer heutigen Form erst im Sommer 2003. Das ehrenamtlich tätige Redaktionsteam setzt sich aus ausgewiesenen „Net Historians“ zusammen (Wigbert Benz, Ralf Blank und Stephanie Marra).

1. Inhaltliches und informationstechnologisches Profil
 

Die Datenbasis der VL Zeitgeschichte besteht aus rund 670 Katalogeinträgen (Stand Mitte Oktober 2003). Zu jedem Datensatz (= Internetressource) gehört ein kurzer Kommentar, der entweder von den RedakteurInnen stammt oder aus dem Netz übernommen wurde. Andere, strenger formalisierte Metadaten, zum Beispiel „publisher“, fehlen.

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Wie haben sich nun die drei BetreiberInnen ihr zeitgeschichtliches Sondierungs-Terrain abgesteckt? Zeitlich legen sie sich auf das 20. Jahrhundert (bis zur Deutschen Einheit) fest. Als geografischer Bezugsrahmen gilt Deutschland („Angebote im Internet zur Neueren und Neuesten Geschichte Deutschlands“). Die Abfrage zeigt aber, dass die deutschsprachigen Nachbarländer (sie verfügen über keine eigenständige VL!) zumindest dort, wo es historische Berührungspunkte gibt, „mitbetreut“ werden. So finden sich etwa Datenquellen österreichischer Provenienz zu Arisierungsvorgängen in Wien. Wir stoßen außerdem auch auf englischsprachige Webpages nicht-deutscher Herkunft, die sich zum Beispiel mit allgemeinen militärgeschichtlichen Aspekten des Zweiten Weltkriegs beschäftigen. Natürlich sind solche „Rahmen-Erweiterungen“ sinnvoll. Wie intensiv bzw. nach welchen Gesichtspunkten sie vorgenommen werden, bleibt jedoch im Dunkeln, wie man mangels Erklärungen umgekehrt nur mutmaßen kann, dass in erster Linie WWW-Angebote der deutsch(sprachig)en Zeitgeschichtsforschung gesammelt werden.

Wie bei jedem Katalog dient eine hierarchische inhaltliche Struktur aus Über- und Unterbegriffen, denen die einzelnen Ressourcen zugeordnet sind, zur BenutzerInnenführung. Mit Blick auf die Vielfalt und Multidimensionalität des Fachs präsentiert sich die Struktur der VL Zeitgeschichte als auffallend wenig komplex. Es sind zumeist lediglich zwei Ebenen vorhanden. Die obere Ebene - sie besteht aus 15 Leitkategorien („Rubriken“) - wird bereits auf der Startseite eingeblendet. Es sind sieben chronologische Rubriken vorhanden (Deutsche Kaiserzeit, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, „Drittes Reich“, Holocaust, Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit). Eine (Varia-)Rubrik mit dem Titel „Themenschwerpunke“ enthält Unterkategorien, die sich wie Umweltgeschichte oder Migration nicht in das Epochenschema fügen. Die restlichen sieben Rubriken sind informationstypologisch, d.h. nach der „Textsorte“, definiert: „Institutionen“, „Quellen“, „Hilfsmittel“ und „Didaktik“ (dass dieser Bereich extra angeführt ist, erscheint angesichts der oben genannten Zielgruppen besonders begrüßenswert) sowie die Medium-spezifischen „Fachportale“, „Online-Ausstellungen“ bzw. „E-Publikationen“.

In der Praxis sind das Ordnungs- und das Navigationssystem sowohl hinsichtlich der Einstiegsebene als auch der darin enthaltenen, von ihrer Zahl her stets überblickbaren Unterkategorien leicht verständlich. Auch Neulinge finden sich darin sofort zurecht. Das nähere Hinsehen fördert gelegentlich Zuordnungs-Unstimmigkeiten zu Tage, bei denen sich das Fehlen von „cross linking“ bemerkbar macht (ein Datensatz kann nur einmal an einer Stelle in der Verzeichnisstruktur erscheinen). Abhilfe gegen die Gefahr, deshalb bestimmte Einträge zu übersehen, schafft eine einfach gehaltene Volltext-Suchfunktion. Darüber hinaus deutet die Tatsache, dass manche Unterkategorien leer sind, darauf hin, dass es sich um ein (mehr oder weniger?) vordefiniertes Klassifikationssystem handelt.

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2. Einschätzungen und Überlegungen zum Klassifikationsmodell
 

Es ist zum einen anzunehmen, dass die virtuell vorhandene Zeitgeschichte die „Aufstellungssystematik“ der virtuellen Bibliothek geprägt hat. Zum anderen soll die VL Zeitgeschichte wohl zumindest in groben Zügen die reale Zeitgeschichte widerspiegeln. Tatsächlich erscheinen die Rubriken und Kategorien der VL Zeitgeschichte als aufschlussreicher Indikator für deutsches Zeitgeschichtsverständnis und deutschen Zeitgeschichtskonsum. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die VL Zeitgeschichte als Sammlung deutscher Datenquellen über deutsche Zeitgeschichte dem geografisch/nationalstaatlich ausgelegten Konzept der Gesamt-VL unterliegt, ist die Dominanz der Binnenperspektive eklatant.1 Immer von den Zugriffskategorien ausgehend, schließt diese Art von Zeitgeschichtsvorstellung europäisch-komparative oder transnationale Bezüge schon im Ansatz aus. Den Ordnungsbegriff „Internationale Beziehungen“ sucht man vergeblich. Ebenso verhält es sich mit Europäisierung und Globalisierung. Unberücksichtigt bleibt das seit mehr als einem Jahrzehnt neue internationale System mit weitgehend veränderter Organisationsstruktur (WTO, OSZE, EU, NATO etc.). Zwar finden sich unter „Themenschwerpunkte“ als Subkategorien lobenswerterweise „Friedens- und Konfliktforschung“ sowie neben dem vielbeachteten Rechts- auch der in der Zeitgeschichtsforschung eher vernachlässigte Linksextremismus; Begriffe wie Fundamentalismus oder Terrorismus sind im Selbstverständnis der VL Zeitgeschichte aber Fremdwörter. Ein zeithistoriografischer Mauerfall im Sinne einer gegenwartsorientierten Zeitgeschichtsbetrachtung hat hier ebenso wenig stattgefunden, wie eine Zeitgeschichte im Stile eines „dynamischen Mehrebenensystems“2 erkennbar wird. Dies gestattet natürlich zuerst Rückschlüsse auf Forschungsdefizite und den daraus resultierenden Mangel an verfügbarem Material im Internet, aber auch auf die Phantasie derjenigen, die es ordnen.

Die Zusammenstellung der Rubriken und Kategorien entspricht in etwa dem Befund von Hans Günter Hockerts zu Beginn der 1990er-Jahre, als er die Zeitgeschichte in Deutschland in Form von Themenfeldern mit „drei Zeitgeschichten“ charakterisierte: die Beschäftigung mit der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus, der (alten) Bundesrepublik als zweiter und der DDR als dritter Zeitgeschichte. Schien dieser „Drei-Sprung“ ausgehend von dem alten zeitgeschichtlichen Zweier-Modell („Doppelte Zeitgeschichte“ = Weimar/Nationalsozialismus und Bundesrepublik), das Karl-Dietrich Bracher als herausragende Forscherpersönlichkeit der deutschen Zeitgeschichte repräsentierte, geradezu sensationell,3 so kann diese Einteilung und Begriffszuschreibung von Zeitgeschichten (in Deutschland oder auch anderswo) einer modernen Zeithistoriografie im 21. Jahrhundert kaum mehr genügen, von den Interessen und Bedürfnissen einer jüngeren LehrerInnen- und SchülerInnengeneration gar nicht zu reden. Die längst schon stattgehabte „vierte Zeitgeschichte“ eines politisch geeinten, aber außenpolitisch völlig anders als die alte Bundesrepublik wahrgenommenen Deutschlands, das mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen der Einheit immer noch sehr ringt, in einem neuen Europa (einem grundlegend veränderten Kontinent), ist für die VL Zeitgeschichte und ihr Zugriffsprofil eine terra incognita.

Fixiert auf „Drittes Reich“ und Holocaust bewegt sich nahezu alles um die Fluchtpunkte 1933 und 1945 und ihre „Rezeption“. So gesehen scheint es am Eingangsschalter zum Hotel dieser Art von (deutscher) „Zeitgeschichte“ nur den Weg zurück bzw. nach unten in das Tiefparterre zu geben: Zweiter Weltkrieg, NS-Staat, Erster Weltkrieg und Deutsches Kaiserreich. Die fast sechzigjährige Entwicklung nach 1945 - die an Komplexität nichts zu wünschen übrig lässt - läuft lapidar unter „Nachkriegszeit“ und ist bestenfalls noch in der ersten und zweiten Etage anzutreffen. Die VL Zeitgeschichte ist daher ein typischer westdeutscher Flachbau der Nachkriegszeit, dem über das engere deutsche Territorium herausragende Vernetzungspunkte fehlen.

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Deutsche Zeitgeschichte, jedenfalls die institutionalisierte, ist überwiegend Geschichtsschreibung aus west(staat)licher Perspektive mit implizitem Alleinvertretungsanspruch gewesen: eine Art Hallstein-Doktrin-Zeitgeschichte, die 1989/90 zur Kenntnis nehmen musste, dass es die DDR auch noch gab. Dies führte in der deutschen Zeitgeschichte zu einer noch stärkeren Wendung nach innen und erschwerte ihre Öffnung für mehr Perspektiven nach außen. Dazu passend gibt es in der VL Zeitgeschichte unter der „Nachkriegsgeschichte“ eine „Rezeption der DDR“; eine Rezeption der alten Bundesrepublik von außen fehlt aber, wie auch die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt nicht aufscheint. Jüngere deutsche KollegInnen haben bereits die Herausforderungen der Zeitgeschichte im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert erkannt.4 Eine neue, transnational vernetzte HistorikerInnengeneration muss darum aber auch über traditionelle Dokumentations- und Publikationsformen hinausgehen und das Internet als Markt und Mittler nutzen. Davon lebt die VL Zeitgeschichte.

3. Resümee
 

An den Rubriken und Kategorien der insgesamt verdienstvollen VL kann man sehen, wie rasch Zeitgeschichte altert, zumal im vergangenen Jahrzehnt nach Ende des Kalten Kriegs. Zugleich werden wir mit dem prima vista paradox anmutenden Phänomen konfrontiert, dass ein äußerst innovatives Medium in der (Zeitgeschichts-)Forschung tendenziell eher konservative bzw. traditionelle Inhalte transportiert.

Bei einem Katalog sind Auswahl und Kommentierung der Daten „Handarbeit“. Deren permanente Erweiterung plus regelmäßige Pflege - resource re-checking, link checking, weeding etc. - stellen für ein ehrenamtliches Redaktionsteam eine große Herausforderung dar. Initiativen wie die VL Zeitgeschichte sind von Pioniergeist und Experimentierfreude getragen, hinsichtlich der Arbeitszeit und Mittel sowie - daraus resultierend - ihrer informationstechnologischen Professionalisierung jedoch limitiert. Sie sehen sich mittlerweile nicht mehr allein der „Google-Konkurrenz“ ausgesetzt. Auch die etablierten Informationsvermittlungsinstanzen des Wissenschaftsbetriebs haben ihre anfängliche Zurückhaltung aufgegeben und das Internet als Aufgabengebiet entdeckt. Mit Mitteln der DFG entsteht an der Humboldt-Universität zu Berlin Clio-online, das den Anspruch hat, „zentrales Fachportal für die historischen Wissenschaften im deutschsprachigen Raum“ zu werden. Es ist zu hoffen, dass Projekte wie die VL Zeitgeschichte dennoch überleben.

Anmerkungen:

1 Sie scheint allerdings kein deutsches Spezifikum, sondern ein gesamteuropäisch verbreitetes Phänomen zu sein. Vgl. Michael Gehler, Zeitgeschichte zwischen Europäisierung und Globalisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52 (2002) H. 51-52, S. 23-35, hier S. 32 f.

2 Siehe hierzu die weiterführenden Fragestellungen in: Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung, Bochum 2001, S. 208-220.

3 Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993) H. 29-30, S. 3-19, hier S. 6 f., 19. Dieser Vorstellungswelt der älteren deutschen Zeitgeschichte immer noch sehr verhaftet: Horst Möller/Udo Wengst (Hg.), Einführung in die Zeitgeschichte, München 2003.

4 Vgl. Eckart Conze, Nationale Vergangenheit und globale Zukunft. Deutsche Geschichtswissenschaft und die Herausforderung der Globalisierung, in: Jörg Baberowski/Eckart Conze/Philipp Gassert/Martin Sabrow, Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart 2001, S. 43-65.


 

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