2/2023: Jüdische Sprachkritik nach dem Holocaust

Aufsätze | Articles

This article explores the connection between genocide, language and language consciousness by tracing the strange biography of one Yiddish neologism: shabreven. During the Holocaust, the word came to mean both ›looting‹ and ›taking ownerless property‹. It stoked moral and etymological debate among Yiddish speakers in the Warsaw ghetto, while also occupying a prominent position in postwar Polish and Zionist discourses. The term shifted between different semantic, ethical and cultural fields, navigating a delicate balance between various meanings and norms. The discussions around this term help to shed light on key questions: What were the motivations for the study of Holocaust Yiddish neologisms? How did this early postwar Yiddish philological discourse differ from its parallel in German? Shabreven became both a symbol of the genocidal collapse of language and a tool for regaining victim agency in speech.

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Das verbale Erbe des Genozids.
Der Holocaust im Spiegel eines Wortes: shabreven

In diesem Aufsatz wird die Verbindung zwischen Völkermord, Sprache und Sprachbewusstsein untersucht, indem die seltsame Biographie eines jiddischen Neologismus nachgezeichnet wird: shabreven. Während des Holocausts bedeutete das Wort sowohl »plündern« als auch »sich herrenloses Eigentum nehmen«. Es rief moralische und etymologische Debatten unter den jiddischen Sprecher:innen im Warschauer Ghetto hervor; zudem nahm es in den polnischen und zionistischen Diskursen der Nachkriegszeit einen wichtigen Platz ein. Der Begriff bewegte sich zwischen verschiedenen semantischen, ethischen und kulturellen Feldern, verbunden mit einem heiklen Wandel von Bedeutungen und Normen. Die Diskussionen um diesen Begriff tragen dazu bei, Schlüsselfragen zu erhellen: Was waren die Beweggründe für die Untersuchung jiddischer Neologismen aus dem Holocaust? Wie unterschied sich dieser jiddische philologische Diskurs der frühen Nachkriegszeit von seinem Pendant im Deutschen? Shabreven wurde sowohl zu einem Symbol für den Zusammenbruch der Sprache im Genozid als auch zu einem Instrument für die wiedererlangte Handlungsfähigkeit von Verfolgten in der Sprache.

Few of Hannah Arendt’s declarations have had as enduringly a controversial legacy as the one she gave in her famous 1964 West German television conversation with Günter Gaus, proclaiming uncompromised loyalty to her first language – German – despite Hitler. The statement was misconstrued as a privileging of the language of the perpetrators and expressing a bias against Eastern European Jews. In conversation with the recent ›Taytsh turn‹ (Saul Zaritt) in Yiddish Studies, this article focuses instead on two Yiddish newspaper articles published by Arendt in 1942 and 1944 and explores what I call a ›Taytsh move‹ in Arendtʼs language politics. Taytsh, an alternative name for the Yiddish language meaning, literally, German, foregrounds (Jewish) cultures’ inherent translational mode and interconnectivity with the world that makes and sustains these cultures. Arendt reactivated the inherent unbordered nature of languages – with an awareness of the dangers of monolingualism; for the sake of overcoming reductive constructions of Jewishness and modern identity; against the atomizing forces of fascism.

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Hannah Arendts Anti-Monolingualismus – oder die Taytsh-These.
Mittels Jiddisch über Deutsch nachdenken

Wenige Statements von Hannah Arendt sind so nachhaltig umstritten wie dasjenige, das sie 1964 in ihrem berühmten Gespräch mit Günter Gaus im westdeutschen Fernsehen abgab, in dem sie trotz Hitler ihrer ersten Sprache – dem Deutschen – kompromisslose Treue bekundete. Die Aussage wurde als Privilegierung der Täter:innen­sprache und als Ausdruck einer Voreingenommenheit gegenüber osteuropäischen Jüdinnen und Juden missverstanden. In Anlehnung an den jüngsten »Taytsh Turn« (Saul Zaritt) in der Jiddistik konzentriert sich dieser Beitrag stattdessen auf zwei jiddische Zeitungsartikel, die Arendt 1942 und 1944 veröffentlichte, und untersucht, was ich als »Taytsh Move« in Arendts Sprachpolitik bezeichne. Taytsh, ein alternativer Name für Jiddisch, der wörtlich Deutsch bedeutet, stellt die den (jüdischen) Kulturen innewohnende Übersetzungsweise und die Interkonnektivität mit der Welt in den Vordergrund, die diese Kulturen schafft und aufrechterhält. Arendt reaktivierte die inhärente Unbegrenztheit von Sprachen – im Bewusstsein der Gefahren des Monolingualismus; zur Überwindung reduzierender Konstruktionen des Jüdischseins und moderner Identitäten; gegen die atomisierenden Kräfte des Faschismus.

The Eichmann trial granted the German language a degree of audibility unprecedented in the short history of the State of Israel, with the defendant, the judges, prosecutors, and witnesses frequently resorting to speaking in German. Drawing on archival materials, protocols, footage, and press reports, this article shows how the Eichmann trial brought to the surface several historical tensions around the postwar status of the German language. The various forms of German heard in the courtroom challenged notions of German as a Nazi language and contributed to a gradual mitigation of its status as a tainted language. The article concludes by reassessing Hannah Arendt’s 1963 Eichmann in Jerusalem and specifically her postulate that Eichmann’s language faithfully reflected his mindset. It is argued that Arendt’s understanding of Eichmann’s language echoed prewar ideas on German’s distinctive power.

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Eichmanns Sprache in Jerusalem.
Nationalsozialistisches und anderes Deutsch im Prozess von 1961

Der Eichmann-Prozess verlieh der deutschen Sprache einen in der kurzen Geschichte des Staates Israel beispiellosen Grad an akustischer Präsenz, da der Angeklagte, aber auch die Richter, Staatsanwälte und Zeugen häufig auf das Deutsche zurückgriffen. Anhand von Archivmaterial, Protokollen, Filmdokumenten und Presseberichten zeigt dieser Aufsatz, wie der Eichmann-Prozess verschiedene historische Spannungen rund um den Status der deutschen Sprache in der Nachkriegszeit an die Oberfläche brachte. Die unterschiedlichen Formen des Deutschen, die im Gerichtssaal zu hören waren, stellten die Vorstellungen der deutschen Sprache als Nazi-Sprache in Frage. Der Prozess trug dazu bei, die Bewertung des Deutschen als verdorbener Sprache allmählich abzuschwächen. Der Aufsatz schließt mit einer Neubewertung von Hannah Arendts 1963 erschienenem Buch »Eichmann in Jerusalem« und besonders ihres Postulats, dass Eichmanns Sprache seine Denkweise getreu widerspiegele. Demgegenüber wird hier argumentiert, dass in Arendts Verständnis von Eichmanns Sprache Vorkriegsannahmen über die besondere Macht des Deutschen nachhallten.

 

Eine aufschlussreiche Debatte um die Frage nach der Beeinträchtigung der deutschen Sprache durch die NS-Zeit fand 1963 in Walter Höllerers zwei Jahre zuvor gegründeter Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter« statt. Hier wurden drei Beiträge aus dem englischsprachigen Ausland dokumentiert, von denen George Steiners Essay »Das hohle Wunder« besonders heftige Antworten provozierte. Unser Aufsatz rekapituliert Steiners sprachkritische Intervention im Rahmen des damaligen literarischen Resonanzraums und untersucht zunächst Auffälligkeiten der unautorisierten ersten Übersetzung von Steiners Text. Im Zentrum steht dann die Kritik der um Repliken gebetenen Autorinnen und Autoren, unter denen mit Hilde Spiel, Marcel Reich-Ranicki, François Bondy und Hans Weigel mehrere jüdische Persönlichkeiten waren. Wir diskutieren, warum diese dem Befund Steiners widersprachen und ihr Vertrauen in die deutsche Sprache bekundeten. Der Aufsatz schließt mit Wolfgang Hildesheimer, dessen Blick auf das Deutsche als Tätersprache durch seine Arbeit als Übersetzer bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen geprägt war.

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German as a Dead Language?
Jewish Responses to George Steiner’s Essay ›The Hollow Miracle‹ (1960/63)

In 1963, Walter Höllerer’s journal Sprache im technischen Zeitalter (›Language in the Technical Age‹), which had been founded two years earlier, organised a revealing debate on the question of how the German language had been affected by the Nazi era. Three contributions from English-speaking countries were documented here, of which George Steiner’s essay ›The Hollow Miracle‹ provoked particularly vehement responses. Our article recapitulates Steiner’s intervention in the context of the literary field at the time and examines the peculiarities of the unauthorised first translation of Steiner’s text. The focus then shifts to the responses of the authors asked by the editor to comment on Steiner, among them the Jewish writers and critics Hilde Spiel, Marcel Reich-Ranicki, François Bondy and Hans Weigel. We discuss why they contradicted Steiner and chose to express their confidence in the postwar German language. The article concludes with a look at Wolfgang Hildesheimer, whose view of German as the language of the perpetrators was shaped by his work as a translator at the Nuremberg war crimes trials.

Essays

  • Hans-Joachim Hahn

    Kritik und Idealisierung

    Theodor W. Adornos Verhältnis zur deutschen Sprache

Quellen | Sources

  • Lynn L. Wolff

    The Power of Language

    The ›Wörterverzeichnis‹ of H.G. Adler’s Theresienstadt 1941–1945

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