Kritik und Idealisierung

Theodor W. Adornos Verhältnis zur deutschen Sprache

  1. Totalitäre Sprache, Erfahrungsverlust und die Unwahrheit des Ganzen
  2. Korrespondenz über das Sprachideal
  3. Schweigen und Sprachlosigkeit
  4. Historischer Bruch, »kritische Selbstbesinnung« und »Jargon«
  5. Sprache und Denken »nach Auschwitz«: Auf verlorenem Posten

Anmerkungen

Ganz im Freud’schen Sinne war die deutsche Sprache für Theodor W. Adorno das von Anfang an Vertraute, das vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, der Erfahrung von Verfolgung und Exil sowie dem Wissen um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden jedoch zum Unvertrauten wurde. Gerade deshalb, so könnte man meinen, hielt Adorno beharrlich am Ideal eigener, »authentischer«1 Sprachverwendung als Muttersprachler fest, als sei seine Sprache ein autonomer Bereich. Zugleich richtete sich seine Sprachkritik aber gleichsam »objektiv« auf den mit formelhafter Sprachverwendung einhergehenden gesellschaftlichen Erfahrungsverlust. Unter dieser spannungsreichen Doppelperspektive reflektierte Adorno sein Verhältnis zur deutschen Sprache und die Funktion von Sprache als Medium des Denkens in einer Vielzahl von Texten. Während in einigen davon das Deutsche als Muttersprache vor allem ein identitätsstiftendes Moment bedeutet und als biographische Klammer nach der Zäsur von Exil und Holocaust eine Verbindung zur Kindheit herstellt, steht einem solchen emphatischen Verständnis des Deutschen die Analyse entleerter, formelhafter Sprachverwendung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gegenüber. So deutet sich an, dass der Remigrant Adorno in der verwalteten Welt nach dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) in der deutschen Sprache sprachmächtig agieren konnte, während er zugleich einen allgemeinen Erfahrungsverlust konstatierte. Der Spannung, ja dem Changieren Adornos zwischen radikaler Sprachkritik einerseits und Idealisierung der deutschen Muttersprache andererseits möchte ich hier in fünf Schritten nachgehen.

Theodor W. Adorno (1903–1969) im Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt a.M., 31. Januar 1969 (Max Scheler [1928–2003]/Süddeutsche Zeitung Photo)
Theodor W. Adorno (1903–1969) im Institut für Sozialforschung
an der Universität Frankfurt a.M., 31. Januar 1969
(Max Scheler [1928–2003]/Süddeutsche Zeitung Photo)

1. Totalitäre Sprache, Erfahrungsverlust und
die Unwahrheit des Ganzen

Zu den Texten, in denen Sprachkritik nicht oder nur wenig mit Reflexionen auf den eigenen Sprachgebrauch verbunden ist, gehören das noch im US-amerikanischen Exil veröffentlichte Gemeinschaftswerk mit Max Horkheimer, die »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente« (1944/47), sowie die nach Adornos Ankunft in Deutschland veröffentlichten »Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben« (1951), deren kurze Prosastücke ebenfalls aus dem Entstehungszeitraum der »Dialektik der Aufklärung« stammen. »Das blinde und rapid sich Wiederholende designierter Worte«, lautet eine pointierte Formulierung, verbinde »die Reklame mit der totalitären Parole«; zusammengeschlossen erscheinen hier Warenwerbung, totalitärer Sprachgebrauch und Erfahrungsverlust: »Die Schicht der Erfahrung, welche die Worte zu denen der Menschen machte, die sie sprachen, ist abgegraben, und in der prompten Aneignung nimmt die Sprache jene Kälte an, die ihr bislang nur an Litfaßsäulen und im Annoncenteil der Zeitungen eigen war.«2 In diesen Sätzen aus dem »Kulturindustrie«-Kapitel des zweifellos berühmtesten und zugleich, wie Jürgen Habermas urteilte, »schwärzeste[n]« Buches der Kritischen Theorie3 findet sich als ein Grundmotiv der Sprachkritik Adornos und Horkheimers das der »Kälte« einer von instrumenteller Vernunft beherrschten Sprache. Deren Gebrauch als Träger von Reklame an Litfaßsäulen ebenso wie im Anzeigenteil der Zeitungen erscheint als später Augenblick einer Verfallsgeschichte von Sprache. In einer versöhnten Gesellschaft dagegen wäre diese dazu da, die Menschen und ihre Erfahrungen miteinander zu verbinden. Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und zugleich auch der Erfahrung mit der US-amerikanischen Massenkultur der 1930er- und frühen 1940er-Jahre hielten Adorno und Horkheimer hier den Zustand einer aus ihrer Sicht radikal verdinglichten Sprache fest, der die Menschen in spätkapitalistischen Gesellschaften von einem früheren Zustand, in dem die Sprache noch eine Schicht von Erfahrung besessen habe, entfremdet zeige. Die Reflexion über Sprache dient dabei der Kritik einer alles dem Tausch- und Konkurrenzprinzip unterwerfenden Gesellschaftsform, in der die Massen- oder Unterhaltungskultur »seit je die Brüchigkeit der Gesellschaft sich reproduzierte«.4

Eine zweite Passage aus dem »Kulturindustrie«-Kapitel verbindet den angesprochenen Erfahrungsverlust mit dem Medium des Rundfunks, von dem die Nationalsozialisten gewusst hätten, dass es »ihrer Sache Gestalt verlieh wie die Druckerpresse der Reformation«.5 Schon weil die Rundfunkrede überall hin dringe, ersetze das ihren Inhalt.6 Dieses Verdikt ist auch deshalb interessant, weil neben dem Vortragssaal gerade das Rundfunkstudio zu Adornos »wichtigsten Wirkungsstätten« gehörte, wie Michael Schwarz gezeigt hat.7 Bereits Anfang der 1930er-Jahre hielt Adorno seine ersten Radiovorträge im Frankfurter Sender.8 Dem Rundfunk als Medium bescheinigte er dennoch eine fatale Wirkung auf die deutsche Sprache: »Im deutschen Rundfunk Fleschs und Hitlers sind sie [d.h. Stereotypen] an dem affektierten Hochdeutsch des Ansagers zu erkennen, welcher der Nation ›Auf Wiederhören‹ oder ›Hier spricht die Hitlerjugend‹ und sogar ›der Führer‹ in einem Tonfall vorsagt, der zum Mutterlaut von Millionen wird. In solchen Wendungen ist das letzte Band zwischen sedimentierter Erfahrung und Sprache durchschnitten, wie es im neunzehnten Jahrhundert im Dialekt noch seine versöhnende Wirkung übte.«9

Diese Stelle, die nicht allein den Nationalsozialismus, sondern bereits den demokratischen Rundfunk der Weimarer Republik mit der Totalisierung von Sprache in Verbindung bringt, verweist auf eine offenkundige Ambiguität von Adornos sprachphilosophischer Reflexion »nach Auschwitz«. Denn neben Hitler wird hier auch der Rundfunkpionier Hans Flesch (1896–1945) bzw. der mit seinem Eigennamen aufgerufene Rundfunk der Weimarer Republik verantwortlich gemacht für Erfahrungsverlust, Phrase und entleerte Sprache. Flesch, den Solveig Ottmann in einer Studie von 2013 neben Fritz Walter Bischoff und Ernst Schoen als »modernste[n] und progressivste[n] Kopf« im noch jungen Medium bezeichnet hat,10 holte unter anderem Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Paul Hindemith zum Rundfunk. Unter seinem Nachfolger Ernst Schoen als Intendant des Frankfurter Senders, nachdem Flesch 1929 zur »Funk-Stunde« nach Berlin gewechselt war,11 machte Adorno dann seine ersten eigenen Erfahrungen mit dem Radio.

Am 15. August 1932 wurde Flesch, der von der politischen Rechten schon lange angefeindete Verfechter eines »bedingungslos demokratischen Rundfunks«, im Rahmen einer »Rundfunkreform« unter Reichskanzler Franz von Papen als Intendant der »Funk-Stunde« entlassen. Im August 1933 inhaftierte man ihn zusammen mit anderen Vertretern des Weimarer Rundfunks – zunächst in Oranienburg, später in Moabit. Auf Kaution entlassen, wurde Flesch im November 1934 erneut angeklagt, und zwar im Rahmen eines nationalsozialistischen Schauprozesses gegen den »Systemrundfunk« der Weimarer Zeit. Eine weitere Haftstrafe musste Flesch nicht verbüßen; er durfte aber nach dem Prozess keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachgehen. Seit April 1945 galt er als verschollen, und Ende 1945 wurde er für tot erklärt.

»Es gibt kein richtiges Leben im falschen« (Minima Moralia). Gedenktafel für Adorno, eingeweiht 1994, an seinem Wohnhaus der Jahre 1949–1969 im Kettenhofweg in Frankfurt a.M., Bronzetafel mit Portrait, 50 x 103 cm, gestaltet von Günter Maniewski
»Es gibt kein richtiges Leben im falschen« (Minima Moralia).
Gedenktafel für Adorno, eingeweiht 1994,
an seinem Wohnhaus der Jahre 1949–1969 im Kettenhofweg in Frankfurt a.M., Bronzetafel mit Portrait, 50 x 103 cm, gestaltet von Günter Maniewski
(Wikimedia Commons, Frank Behnsen, FFM Adorno-Gedenktafel, CC BY-SA 3.0 DE)

Wenn Adorno in seinem vielzitierten Bonmot aus den »Minima Moralia« das »Ganze« das »Unwahre« nennt,12 dann gilt der so bezeichnete Unheilszusammenhang auch für die liberale Demokratie. Denn diese, Anfang der 1940er-Jahre im US-amerikanischen Exil unter dem Eindruck erster Nachrichten von den systematischen Massenmorden an den Jüdinnen und Juden Europas entstandenen Sprachreflexionen vollziehen keinen radikalen Bruch mit den sozialistischen Prämissen der in den 1930er-Jahren von Horkheimer programmatisch entworfenen Kritischen Theorie. Allerdings erhält die Analyse »totalitärer«13 Sprache in der Moderne mit der beginnenden Reflexion auf den Antisemitismus und den Holocaust gleichwohl eine sich allmählich verändernde Perspektive. Nur sind gerade die frühen Texte aus der Zeit kurz nach den ersten Nachrichten vom Genozid an den europäischen Jüdinnen und Juden sowie während der ersten Nachkriegsjahre zum Teil weiterhin von einer scharfen Polemik gegen den bürgerlich-liberalen Teil der Emigration und gegen die massenkulturelle deutsche Kultur seit Mitte der 1920er-Jahre gerichtet.

Im Abschnitt 35 der »Minima Moralia«, überschrieben als »Rückkehr zur Kultur«, vertritt Adorno die These, die deutsche Kultur habe »[i]n ihrer Breite« regelrecht »nach ihrem Hitler« gelechzt, mit dem Zusatz: gerade da, »wo sie am liberalsten war«.14 Seine Kritik richtet sich dabei explizit gegen die großen Verlags- und Zeitungshäuser Mosse und Ullstein – beide waren in den 1870er-Jahren von den jüdischen Verlegern Rudolf Mosse und Leopold Ullstein gegründet worden – sowie gegen die »Frankfurter Zeitung«, nicht etwa gegen die rechte Presse oder die Nationalsozialisten. Namentlich genannt wird zudem der Schriftsteller und Biograph Emil Ludwig (1881–1948), um zu demonstrieren, dass Hitler keineswegs »die Kultur« ausgerottet habe. Vielmehr zeige ein Blick auf die literarische Produktion solcher Emigranten wie Ludwig, was jetzt bei einem Wiederaufbau der Kultur zu befürchten stehe, nämlich: »die Einführung der Broadwaymethoden auf dem Kurfürstendamm, der von jenem schon in den zwanziger Jahren sich nur durch geringere Mittel, nicht durch bessere Zwecke unterschied«.15 Dass der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der »Minima Moralia« nicht mehr lebende liberale Erfolgsautor Ludwig, der wegen des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland schon während der letzten Jahre der Weimarer Republik in die Schweiz emigriert war,16 aus ästhetischen Gründen und auf Grund seines kommerziellen Erfolgs im Exil mit »Kulturfaschismus« in Zusammenhang gebracht wird, verweist auf Adornos seinerzeit noch sozialistisch geprägten Faschismusbegriff, der vorerst keine Analyse des nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus zu leisten versuchte.

2. Korrespondenz über das Sprachideal

In seinem Briefwechsel mit Siegfried Kracauer (1889–1966), den der 14 Jahre jüngere Adorno nach dem Ersten Weltkrieg in Frankfurt am Main kennengelernt hatte, findet sich, beginnend mit ihrem Austausch über die »Minima Moralia«, auch eine mehrjährige und kontrovers geführte Diskussion über die deutsche Sprache. Obwohl Kracauer in einem Brief vom 4. Juli 1951 an Adorno ankündigt, seine Kritik – nachdem er zuvor einiges an den »Minima Moralia« gerühmt hatte – einer mündlichen Diskussion vorzubehalten, nennt er drei Punkte, auf die sich seine Einwände beziehen. Zum ersten betreffen diese Adornos Verständnis von Utopie, zum zweiten seine Dialektik. Kracauer geht Adornos »Durcharbeitung der Gegenwart« nicht weit genug, was er am Beispiel der Massenkultur hervorhebt, die ihm »undurchdrungen« erscheint.17 Drittens richtet sich Kracauer gegen die für ihn »penetrant« wirkende Rechtfertigung von Adornos Stil. In seinem Antwortschreiben vom 19. Juli 1951 greift Adorno die angedeuteten Einwände Kracauers auf: »Auch daß meine Bemerkungen dazu [d.h. zur Massenkultur] einen Erdenrest des Undialektischen tragen, würde ich Dir konzedieren; nur freilich, wenn hier die Dialektik auf die leiseste Nachsicht mit dem Gegenstand hinausläuft, würde ich bockig werden.« Vor allem aber bezieht sich Adorno auf Kracauers Stilkritik, um seinen Anspruch an den sprachlichen Ausdruck zu bekräftigen: »Und mit Bezug auf die Sprache bin ich es jetzt schon – wenn ich gegen die Sache sprachlich etwas habe, dann ist es, daß sie meinem eigenen Sprach­ideal noch nicht rein genug nachkommt, und nicht etwa das Prinzip.«18

Im Briefwechsel artikuliert Adorno neben dem hohen Anspruch an den eigenen Stil und den eigenen Sprachgebrauch zugleich einen Anspruch auf die deutsche Sprache. Deren Enteignung durch den Nationalsozialismus weist er ebenso zurück wie er die Sprache als sein Ausdrucksmittel reklamiert: »Ich komme nun einmal nicht von meinem Aberglauben los«, so schreibt Adorno im selben Brief vom 19. Juli 1951, »daß wir die entscheidenden Dinge nur in der eigenen Sprache sagen können, und bilde mir ein, zu dieser Meinung ein gewisses Recht zu haben, nachdem sie mir schwer als Saure-Trauben-Theorie ausgelegt werden kann.«19 Mit der Verwendung des Wortes »Aberglauben« verweist er darauf, dass die Behauptung, »nur in der eigenen Sprache« ließen sich »die entscheidenden Dinge« ausdrücken, kaum ausschließlich argumentativ begründet werden könne. Dagegen dürfte mit der »Saure-Trauben-Theorie« gemeint sein, dass er nicht mit dem Fuchs aus der Äsop zugeschriebenen Fabel zu verwechseln sei, der die zu hoch hängenden Trauben bloß deshalb als »sauer« bezeichnet, weil sie ihm unerreichbar sind.20 Übertragen auf die Sprachkenntnisse des Philosophen hieße das, wegen seiner guten Englischkenntnisse wäre Adorno im Grunde sehr wohl in der Lage gewesen, »die entscheidenden Dinge« auf Englisch auszudrücken, wenn es dabei nur um die unmittelbare Sprachkompetenz gegangen wäre. Das aber bestreitet er ja gegenüber Kracauer, indem er die »eigene Sprache« als exklusives Vermögen kennzeichnet.

In einem Brief vom 23. Februar 1955 erkundigt sich Adorno nach Kracauers gegenwärtiger Textproduktion und fragt ihn, ob er seine Filmtheorie auf Deutsch schreibe und an eine deutschsprachige Veröffentlichung denke. Dem fügt er hinzu: »Du weißt, wie starrsinnig ich in dieser Hinsicht bin, trotz des Geschehenen, das uns nur eben nicht dazu verführen dürfte, uns selber das nochmals anzutun, was der Hitler ohnehin uns angetan hat.«21 Wiederum einige Jahre später, am 3. Februar 1959, äußert Adorno den als »[e]goistisch« bezeichneten Wunsch, Kracauer möge die deutsche Fassung seiner Filmästhetik selbst herstellen – zum einen deshalb, weil er den Übersetzungsprozess eigener Texte aus dem Englischen für qualvoll hält, zum anderen aber, »weil ich nicht von dem Glauben ablassen kann, daß man im Ernst und mit ganzer Verantwortlichkeit nur in der Sprache sich auszudrücken vermag, in der, wie sehr auch verschüttet, alle Assoziationen der Kindheit bereit liegen«.22

Dazu passt, dass Adorno in seiner literarisch verdichteten, biographischen Skizze »Amorbach« (1966) Sprachreflexionen anstellt, die Sprache und Kindheit eng miteinander verknüpfen. Das literarisch evozierte Städtchen Amorbach, wo Adorno in seiner Kindheit einige Sommerurlaube verbrachte, erscheint in der Retrospektive als jener Lernort, dem das Kind zentrale Erfahrungen verdankt, die ihm sein Leben lang und auch im amerikanischen Exil gedankliche Orientierung boten. Einzig an einem bestimmten Ort lasse sich die Erfahrung des Glücks machen, »die des Unaustauschbaren, selbst wenn nachträglich sich erweist, daß es nicht einzig war«, so heißt es an einer Stelle, an der Adorno erklärt, Amorbach sei ihm »das Urbild aller Städtchen geblieben, die anderen nichts als seine Imitation«.23 »Amorbach«, so hat es der Kulturhistoriker Reinhard Pabst anhand von vielerlei Zeugnissen festgehalten, galt Adorno als »Synonym für das Glück«, für »›den Traum einer von Zwecken nicht entstellten Welt‹«; es war der Ort, an dem das oft von Klassenkameraden in Frankfurt verhöhnte Schulkind »ohne Angst verschieden sein« konnte.24 Amorbach erscheint in dieser Apotheose als Heimat der Kindheit frei von Misstönen, wozu auch die Abwesenheit des Nationalsozialismus gehört.

Adornos Sprachideal bleibt durchgängig der Einsprachigkeit verpflichtet. Bei einem Vortrag im Jewish Club Los Angeles vom 27. Mai 1945 hatte Adorno einem deutschen Bekannten und existenzialistischen Philosophen, der zwar namenlos bleibt, aber mit dem vermutlich Helmut Kuhn (1899–1991) gemeint sein dürfte, widersprochen, in der »neuen Sprache«, dem amerikanischen Englisch, Gedanken klarer formulieren zu können als zuvor auf Deutsch. Um der Mitteilung und Verständlichkeit willen würden die Nuancen eines Gedankens preisgegeben, die Gegenstände selbst »vergröbert und verdinglicht«, sodass nichts von ihrer Substanz übrigbleibe.25 Kracauer wiederum drückt seine Differenz in diesem Punkt am 15. Februar 1959 lakonisch so aus: »Mit dem Deutsch schreiben hast Du recht – – up to a point, wie ich Dir schon einmal schrieb.«26 Adorno dagegen erscheint Kracauers Bevorzugung des »pragmatische[n]« Englisch »gegenüber dem philosophischen Deutsch«, ebenso wie dessen Affinität zum Film, als »Symptom der Anpassung«. In seiner Kracauer-Biographie verweist Jörg Später darauf im Zusammenhang mit Adornos ambivalenter Würdigung des Freundes im Geburtstags-Radioessay »Der wunderliche Realist« vom 7. Februar 1964.27

3. Schweigen und Sprachlosigkeit

Adornos Essay »Zum Gedächtnis Eichendorffs« (1957/58) enthält eine kleine Reminiszenz an seinen Lehrer aus der Frankfurter Gymnasialzeit, der zwar nicht namentlich genannt wird, dem der Philosoph jedoch einen »bedeutenden Einfluss« auf sich zuschreibt.28 Gemeint ist der reformorientierte Lehrer und Schriftsteller Reinhold Zickel, mit dem Adorno nach dem Ende seiner Schulzeit auf dem Kaiser-Wilhelms-Gymnasium in Frankfurt-Sachsenhausen noch bis 1924 freundschaftlich verkehrte. 1950 meldete sich Zickel wieder bei dem nach Frankfurt zurückgekehrten Adorno, nachdem letzterer sich bei Verwandten Zickels nach ihm erkundigt hatte. Aus demselben Jahr sind zwei Briefe Zickels überliefert, in denen er auch zu seiner Rolle im Nationalsozialismus Stellung bezieht. Zu einem persönlichen Gespräch kam es allerdings nicht mehr. Nachdem Zickel 1953 verstorben war, bemühte sich Adorno darum, die verstreut publizierte Lyrik des Schriftstellers wieder zugänglich zu machen.

Adornos Bemühungen gipfelten in einem kurzen Essay, mit dem er eine Auswahl von Gedichten Zickels einleitete, der zusammen mit den Gedichten 1958 in der von Walter Höllerer herausgegebenen Literaturzeitschrift »Akzente« erschien.29 Hierin bezeichnet Adorno Zickel als Lehrer im doppelten Sinn, bei dem er nicht nur seit seinem zehnten Lebensjahr Unterricht erhalten habe, sondern der insbesondere um 1920 herum auch aus folgendem Grund »nachhaltig« auf ihn gewirkt habe: »Er stieß die Selbstverständlichkeit der kulturliberalen Voraussetzungen um, unter denen ich aufgewachsen war.«30 Eine für Adornos Sprachverständnis zentrale Einsicht wird dem ehemaligen Lehrer hier zugeschrieben: »Daß Sprache Widerstand ist gegen die Sprache, danke ich ihm so gut wie die Vorstellung vom Kunstwerk als einem noch im kleinsten Zug Verantwortlichen, Durchgebildeten, das auf nichts Vorgegebenes sich verlassen darf.«31 Mit Zickels Namen verband Adorno in diesem Text also eine starke Emphase für die Widerständigkeit künstlerischer, literarischer Sprache gegenüber der Entleerung des Redens und Schreibens durch die Schablonen der kommerziellen, instrumentellen Verwendung.

Angesichts dessen löste die Konfrontation mit Zickels völkischem Roman »Strom«, der 1940 im NS-Deutschland veröffentlicht worden war und von dem Adorno 1960 in Baden-Baden zufällig in einem Antiquariat ein Exemplar entdeckte, bei ihm blankes Entsetzen aus.32 Das zweibändige Machwerk kreist um den deutschen Maschinenbauer Hermann Österling als Helden, der nach dem Ersten Weltkrieg mit »Ekel« auf »das Elend seines Volkes« reagiert, sich gegen Sozialdemokratie und Revolution äußert und als »Führer« einer Freikorpsgruppe Fabriken vor Streiks schützt,33 bevor er später in Irland ein Wasserkraftwerk bauen wird. Als idealer Deutscher im Sinne der NS-Ideologie kämpft der Protagonist gegen das mit dem globalen Kapitalismus identifizierte britische Imperium an der Seite der unterdrückten Iren für deren Unabhängigkeit im Energiesektor. Dabei bediente sich Zickel antibritischer Stereotype, rassistischer Essenzialisierungen und eines völkischen Antikapitalismus, der strukturell antisemitisch war. Anstelle widerständiger Sprache und eines »durchgebildeten« Kunstwerks hatte der frühere Lehrer in der Sprache des Nationalsozialismus geschrieben. Adorno brach seine Lektüre ab und verfügte notariell, dass sein Essay von 1958 »unter keinen Umständen« wieder im Druck erscheinen dürfe.34

4. Historischer Bruch, »kritische Selbstbesinnung« und
»Jargon«

In einer Reihe von weiteren Texten Adornos verbinden sich Sprachkritik, Sprachreflexion und Sprachverwendung mit biographischen Momenten. Zu diesen zählt ein in dieser Hinsicht besonders aufschlussreicher Beitrag zu einer Sendereihe des Deutschlandfunks unter der Frage »Was ist deutsch?«, der am 9. Mai 1965 aus­gestrahlt wurde und im August desselben Jahres in einer Zeitschrift erschien.35 Während sich Adorno im ersten Teil seiner Antwort einer wiederkehrenden Denkbewegung bedient, nämlich »der philosophischen Reflexion auf die Voraussetzungen der Frage selbst« (Robert Zwarg),36 nutzt er den Mittelteil seines Beitrags für deren subjektive Reformulierung: Was habe ihn bewogen, »als Emigrant, als mit Schimpf und Schande Vertriebener, und nach dem, was von Deutschen an Millionen Unschuldiger verübt worden war, doch zurückzukommen«?37 Diese Reformulierung bezeichnet den historischen Bruch, der der Frage jegliche Harmlosigkeit nimmt und auch die subjektive Sprecherposition als eine Konsequenz geschichtlicher, von Deutschen zu verantwortender Ereignisse ausweist. Gegen das, was am notwendigsten wäre, nämlich »kritische Selbstbesinnung«, formiere sich Widerstand.38 An der Idee einer Veränderung alles Bestehenden festhaltend, entwirft Adorno am Ende seiner Ausführungen für den »Begriff« des Deutschen einen möglichen zukünftigen Sinn: »im Übergang zur Menschheit«.39 Mit beiden Stichworten, der »kritische[n] Selbstbesinnung« und der universalistischen Öffnung, formuliert der Philosoph an dieser Stelle eine Variante postkonventioneller nationaler Identität; viel stärker als in seiner Sprachkritik des Deutschen steckt darin eine politische Position.

Adorno-Denkmal auf dem Campus Westend in Frankfurt a.M., gestaltet von Vadim Zakharov. Das Werk wurde 2003 zunächst auf dem damaligen Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt-Bockenheim eingeweiht, 2016 dann an den heutigen Standort auf dem Universitätsgelände gebracht.
Adorno-Denkmal auf dem Campus Westend in Frankfurt a.M.,
gestaltet von Vadim Zakharov. Das Werk wurde 2003 zunächst auf dem
damaligen Theodor-W.-Adorno-Platz in Frankfurt-Bockenheim eingeweiht,
2016 dann an den heutigen Standort auf dem Universitätsgelände gebracht.
(Wikimedia Commons, Simsalabimbam,
Adorno-Denkmal-Campus-Westend-2016-Ffm-868, CC BY-SA 4.0)

Im Mittelteil (S. 106-110) spricht Adorno dagegen von eigenen Erfahrungen und Motiven. Dies ist signifikant, weil sich einige bereits angeführte Stellen aus anderen Texten mit dem Erfahrungsverlust instrumenteller Sprache beschäftigen, dem auch der Sprachkritiker nicht objektiv gegenüberstehe. Insofern erscheint das hier formulierte Bekenntnis zu einer biographischen Kontinuität, in der die eigenen Erfahrungen von der Kindheit an durch das Medium der Sprache bekräftigt werden, widersprüchlich. Adorno schreibt: »Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit verbracht hatte, wodurch mein Spezifisches bis ins Innerste vermittelt war. Spüren mochte ich, daß, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit einzuholen.«40 Der Kontext des gesamten Aufsatzes, der formal einen dialektischen Dreischritt vollzieht, erhellt, dass die Darstellung keineswegs nur als Verklärung der eigenen Kindheit verstanden werden soll. Dennoch überrascht das verwendete Vokabular, das etwa den während des Nationalsozialismus missbrauchten Begriff der »Treue« emphatisch und wiederholt einsetzt: »Sinn für Kontinuität und Treue zur eigenen Vergangenheit« seien nicht mit »Hochmut und Verstocktheit« gleichzusetzen, als ein Bleiben bei dem, »was man nun einmal« sei – obwohl die Gefahr durchaus bestehe. Vielmehr, so präzisiert Adorno seine Vorstellung, verlange »[s]olche Treue […], daß man lieber dort etwas zu ändern trachtet, wo die eigene Erfahrung sich zuständig weiß, wo man zu unterscheiden, vor allem die Menschen wirklich zu begreifen vermag, als daß man der Anpassung ans andere Milieu zuliebe sich aufgibt«.41

Im dritten Teil wird dem Subjektiven der eigenen Erfahrungen und der Biographie die »Objektivität« der deutschen Sprache thetisch gegenübergestellt. Zum einen könne man in einer neuerworbenen Sprache das Gemeinte niemals so präzise treffen wie in der eigenen. Zum anderen sieht Adorno eine besondere »Wahlverwandtschaft«, wie er sich mit dem Goethe-Wort ausdrückt, der deutschen Sprache zur Philosophie. Das lasse sich etwa an der extremen Schwierigkeit vergegenwärtigen, einen Text wie Hegels »Phänomenologie des Geistes« zu übersetzen.42 Die Besonderheit wird allerdings auch als Defizit betrachtet, wenn dem »geborene[n] Deutsche[n]« attestiert wird, »daß er das essentielle Moment der Darstellung, oder des Ausdrucks, in der fremden Sprache nicht voll sich erwerben« könne.43 Vor diesem Hintergrund formuliert Adorno ein Geständnis: Auch weil er, der Zurückgekehrte, nach dem Verlust eines naiven Verhältnisses zum »Eigenen« jetzt äußerste Wachsamkeit gegenüber allem Schwindel, den die Sprache befördere, mit seiner »innigste[n] Beziehung« zu ihr vereinen müsse, habe er den »Jargon der Eigentlichkeit« geschrieben.44

Der »Jargon der Eigentlichkeit« (1964 erstmals publiziert) entstand im Zusammenhang mit der »Negativen Dialektik«, aus der dieser Text seines Umfangs wegen dann ausgegliedert wurde. Im Nachwort hält Adorno fest, die »deutsche Ideologie« der Gegenwart sei »in die Sprache gerutscht«.45 Der »Faschismus« sei »einer mächtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz« entsprungen, und die Sprache habe ihm »Asyl« gewährt – so heißt es zu Beginn der Schrift.46 An späterer Stelle bezeichnet Adorno den »Faschismus« als »Winterhilfe in Permanenz«47 und verbindet die Zeit nach 1945 so mit dem Nationalsozialismus. Hier werden nicht nur Martin Heidegger, sondern auch Karl Jaspers und, en passant, noch einmal der Remigrant Helmut Kuhn48 der sprachlichen Verlogenheiten des Jargons bezichtigt. Damit kritisiert Adorno den christlichen Existenzialismus Kuhns, der im Exil zum Katholizismus konvertiert war und sich von Heideggers nihilistischer Philosophie distanzierte, ebenso wie die antinazistische Sprache von Jaspers. Auf deren Differenzen, sprachlich wie politisch, muss bei heutigen Lektüren von Adornos Streitschrift hingewiesen werden.

5. Sprache und Denken »nach Auschwitz«:
Auf verlorenem Posten

In ihrer Besprechung von Adornos »Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft« aus dem Jahr 1955 bezog die Remigrantin und heute leider vergessene Publizistin Marianne Regensburger (1921–2002) Adornos »dialektisches Vokabular« auf dasjenige »bürgerlicher Kreise« – zu präzisieren wäre: antiliberaler, konservativer Kreise – der 1920er-Jahre. Regensburger hatte 1953 kurzzeitig für das nach Frankfurt zurückgekehrte Institut für Sozialforschung gearbeitet. Sie sollte am geplanten Neubeginn der »Zeitschrift für Sozialforschung« mitwirken, wofür ihr ein Text Adornos zum Lektorat vorgelegt wurde. Wie sie es als Journalistin gelernt hatte, übersetzte sie »unverständliche Fremdworte« und korrigierte »allzu gewagte Satzstellungen« – was aber offensichtlich nicht erwünscht war, weshalb ihr rasch wieder gekündigt wurde.49 In ihrer Rezension zwei Jahre später für die »ZEIT« rügte sie Form und Stil der Kritik bei Adorno, die von ihm als »absoluter Selbstzweck« behandelt und »im Tone so grotesker Selbstgefälligkeit vorgetragen« werde, »daß man – um in des Autors eigenem Jargon zu bleiben – sich unwillkürlich auf die Seite des Opfers schlägt« – gemeint war in diesem Falle Karl Mannheim, dessen Wissenssoziologie Adorno scharf kritisiert hatte.50

Im titelgebenden Aufsatz »Kulturkritik und Gesellschaft« steht der berühmte Satz von der Kulturkritik, die »sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber« finde: »[…] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.«51 Genauso wenig wie Adornos nachträglich den »Minima Moralia« in der »Zueignung« von 1949 vorangestellte Gedanken, die im Unterschied zu den im Buch veröffentlichten philosophischen Fragmenten aus den Jahren 1944/45 auf Auschwitz Bezug nehmen und in denen allgemein die Auflösung des Subjekts und der Subjektivität als Objektivität der gegenwärtigen geschichtlichen Phase dargestellt wird, in der sich deshalb »individuelle Erfahrung« noch auf das »alte Subjekt« stütze,52 betrifft diese Aussage allerdings die Sprache und das Sprachvermögen des Kritikers. Darauf zielte Regensburger, wenn sie den überspitzten Appell formulierte, dass einer, dem das Leben so »beschädigt« erscheine wie Adorno, dem es als »barbarisch« gelte, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben«, überhaupt schweigen solle.53

Sigrid Weigel hat argumentiert, dass die bereits in dieser »Zueignung« der »Minima Moralia« behauptete »letzte Stufe der Dialektik« sowie der damit verbundene »Grenzfall der Kulturkritik« tatsächlich erst 1966 in der »Negativen Dialektik« »die Gestalt einer zentralen philosophischen Konstellation« angenommen habe.54 Hier nun erhalte die Position der Davongekommenen, in der Formulierung von der »Schuld des Lebens« angesichts der geringen Zahl von Überlebenden der Shoah als Überlebensschuld charakterisiert, den Status einer philosophischen Notwendigkeit.55 Die auch von Weigel angeführten Sätze Adornos lauten: »Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewußtsein in keinem Augenblick ganz gegenwärtig sein kann. Das, nichts anderes, zwingt zur Philosophie.«56 Mit dieser Überlegung Adornos sieht Weigel in der Nachgeschichte der Shoah den Beginn eines anderen Denkens markiert. Die Wiederkehr der verdeckten Schuld habe »die nachfolgende Diskurs- und Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus« am stärksten geprägt.57 Weigel unterscheidet hier klar zwischen dem – mit Adornos Kulturkritik-Aufsatz verbundenen – wirkmächtigen Topos eines »Sprechens nach Auschwitz« (samt seiner universellen Kategorie des »Unaussprechlichen«) und einem »Denken nach Auschwitz«, wie es Adorno in den obigen Sätzen vollziehe, das die Philosophie nun selbst als »traumatisiert« erscheinen lasse.58

Im Gegensatz zu Weigel, die hier allerdings nicht die konkrete Schreibweise Adornos analysiert, vertritt Gabriele Stilla-Bowman die These, »[d]ie aporetische Denkstruktur der Negativen Dialektik« wandle »die Erfahrung eines kindlichen Ohnmachtsgefühls angesichts versagter Wünsche und unbefriedigter Bedürfnisse um in ein Erkenntnismodell, in dem Leiden als einziger Rechtsgrund für Erkenntnis« erscheine.59 Als einem Zeitdokument sei Adornos Opus magnum der Diskurs um Schuldfähigkeit und damit verbunden einer Anerkennung der Opfer eingeschrieben, während jedoch weder die »Sprache der Opfer« noch die Stimme »des bedürftigen Kindes« zu vernehmen sei, dem im Text der das letzte Wort behaltende Erwachsene gegenüberstehe. So erscheine der Reichtum von Adornos Sprache am Ende »als ein Protokoll von Defiziten« – seine Rhetorik weise in immer neuen Variationen »auf die schlechte Praxis« hin und stehe dabei »allein im Dienst von Anklage und Ver­urteilung«.60 Stilla-Bowman zeigt, dass in Adornos »Negativer Dialektik« weder die angesprochene Sprache der Opfer in Gestalt von textlichen Zeugnissen Überlebender zur Darstellung gelangt noch eine Perspektive jenseits des Leidens eingenommen wird. Dem lässt sich zustimmen, ohne damit die Fruchtbarkeit anderer Lektüren zu bestreiten. So stellt Weigel die »Negative Dialektik« an den Anfang eines Diskurses, bei dem jedoch erst auf Umwegen und als Folge des sogenannten »Historikerstreits« Mitte der 1980er-Jahre zum einen die Unvereinbarkeit von Täter- und Opfergedächtnissen sowie zum anderen ein unlösbarer Widerspruch in der historischen Darstellung der NS-Vernichtungspolitik deutlicher Kontur gewonnen hätten – gemeint ist damit »die Gleichzeitigkeit einer Rationalität in der Durchführung der Vernichtung und einer Irrationalität und Unbegreiflichkeit in deren Motivierung und Begründung«.61

Am Schluss dieses Essays richtet sich der Fokus noch einmal auf Adornos Sprachverwendung und -reflexion. Der kritische Theoretiker erklärte seinen spezifischen, häufig angefeindeten Gebrauch der deutschen Sprache als einen authentischen Ausdruck, den er mit seinem Status als Muttersprachler begründete. Zudem hielt er mit Blick auf die eigenen Kindheitserinnerungen am Primat der Einsprachigkeit fest, den er entgegen der konstitutiven Mehrsprachigkeit der Conditio judaica noch in der Moderne gegenüber anderen Emigranten und konkret im Austausch mit Kracauer als Aspekt seiner Zugehörigkeit verteidigte. Die Invektiven gegen den demokratischen Rundfunkleiter Hans Flesch, gegen die liberalen Zeitungen während der Weimarer Republik oder gegen die Erfolgsromane Emil Ludwigs, den Adorno unter das Verdikt des »Kulturfaschismus« stellte, sowie die auch gegen den Antinazi Karl Jaspers oder den Remigranten Helmut Kuhn gerichtete Sprachkritik als »Jargon« lassen sich als Hinweise auf den eigenen prekären Sprechort »nach Auschwitz« und im »Land der Täter« deuten.

Vor diesem Hintergrund unternahm Adorno in zahlreichen Texten immer wieder aufs Neue Formulierungsversuche, um »die gemeinte Sache genau zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher [zu] schwimmen und gar sich [zu] bemühen, verzweigtere gedankliche Zusammenhänge getreu im Gefüge der Syntax aufzufangen«, von denen er wusste, dass sie – als Zumutungen empfunden – Wut erregten.62 In seinem Essay »Wörter aus der Fremde« formulierte er 1959 konjunktivisch, dass diese Wörter, richtig verwendet und verantwortlich gebraucht, »auf verlorenem Posten wie Griechen im kaiserlichen Rom einer Biegsamkeit, Eleganz und Geschliffenheit der Formulierung beistehen« müssten, »die verlorenging und an die gemahnt zu werden den Menschen ein Ärgernis« sei.63 Auf solche Weise »könnten die Fremdwörter etwas von jener Utopie der Sprache, einer Sprache ohne Ende, ohne Gebundenheit an den Bann des geschichtlich Daseienden bewahren, die bewußtlos in ihrem kindlichen Gebrauch lebt. Hoffnungslos wie Totenköpfe warten die Fremdwörter darauf, in einer besseren Ordnung erweckt zu werden.«64

»Adorno hat recht gehabt«. Wörtlich steht dort: »Adorno, der Gerechte« (Zaddik). Graffiti in Tel Aviv, 2013 (Wikimedia Commons, Nizzan Cohen, Adorno was right grafiti TLV, CC0 1.0)
»Adorno hat recht gehabt«.
Wörtlich steht dort: »Adorno, der Gerechte« (Zaddik).
Graffiti in Tel Aviv, 2013
(Wikimedia Commons, Nizzan Cohen, Adorno was right grafiti TLV, CC0 1.0)

Der wohl bedeutendste Unterschied zu den anderen in diesem Themenheft behandelten Autorinnen und Autoren liegt in der Verbindung von Adornos einsprachigem Ideal mit einer dem Deutschen zugeschriebenen besonderen Affinität zur Philosophie, die als andere Seite seiner radikalen Sprachkritik viel deutlicher zutage tritt als etwa bei Victor Klemperer, H.G. Adler oder gar bei Hannah Arendt, die ungeachtet der großen Mühen ihre Arbeiten gleichermaßen und gleichberechtigt auch auf Englisch verfasste. Paradoxerweise tritt gerade bei Adorno das mit der Sprache verbundene Identitätsmoment sehr viel stärker zutage als bei den anderen Genannten. Vielleicht liegt eine besondere Aktualität darin, dass Adornos sprachreflexive Texte so nuanciert auf den komplexen, unhintergehbaren und widersprüchlichen Zusammenhang zwischen Sprachkritik und eigenem Sprachgebrauch verweisen; darauf, dass sich Gegenwartssprache immer in der Spannung zwischen den Grenzen des Sagbaren und der Humanität oder Inhumanität der eigenen Rede bewegt.


Anmerkungen:

1 Adorno verwendet das Adjektiv »authentisch« etwa in seinen »Kleinen Proust-Kommentaren«: »Authentisch ist das Proustsche Werk, weil seine auf Rettung abzielende Intention frei ist von aller Apologie, allem Versuch, irgendeinem Seienden Recht zu geben, irgend Dauer zu verheißen.« Theodor W. Adorno, Kleine Proust-Kommentare [1958], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 202-215, hier S. 214.

2 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944/47], Frankfurt a.M. 1988, S. 175.

3 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. 12 Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 130.

4 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (Anm. 2), S. 164.

5 Ebd., S. 168.

6 Ebd.

7 Michael Schwarz, »Er redet leicht, schreibt schwer«. Theodor W. Adorno am Mikrophon, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 286-294.

8 Fokke Joel, Radio Adorno, in: ZEIT online, 15.4.2010.

9 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (Anm. 2), S. 175.

10 Solveig Ottmann, Im Anfang war das Experiment. Das Weimarer Radio bei Hans Flesch und Ernst Schoen, Berlin 2013, S. 59.

11 Ebd., S. 47.

12 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951], Frankfurt a.M. 1971, S. 57.

13 Im Geleitwort zur Neuausgabe der »Dialektik der Aufklärung« von 1969 sprechen Horkheimer/Adorno vom »erneute[n] Anwachsen des Totalitarismus« in der durch den Kalten Krieg bestimmten Gegenwart: Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (Anm. 2), S. IX.

14 Adorno, Minima Moralia (Anm. 12), S. 67.

15 Ebd., S. 68.

16 Zu Emil Ludwig und zur Funktion populärer Geschichtsschreibung bei der Verteidigung der Weimarer Demokratie vgl. Christoph Gradmann, Historische Belletristik. Populäre historische Biographien in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1993, v.a. S. 164-200; Nicolas Berg, Biografische Projektionsräume. Emil Ludwig im deutsch-jüdischen Wissenskontext, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 16 (2017) [2019], S. 303-331.

17 Siegfried Kracauer, Brief vom 4.7.1951, in: Theodor W. Adorno/Siegfried Kracauer, Briefwechsel. »Der Riß der Welt geht auch durch mich«. 1923–1966, hg. von Wolfgang Schopf, Frankfurt a.M. 2008, S. 457.

18 Theodor W. Adorno, Brief vom 19.7.1951, in: ebd., S. 460.

19 Ebd., S. 461.

20 Die Rede von den (sauren) Trauben findet öfter Verwendung: »Kurz, der Zorn über die Fremdwörter erklärt sich zunächst aus dem Seelenzustand der Zornigen, denen irgendwelche Trauben zu hoch hängen.« Theodor W. Adorno, Wörter aus der Fremde [1959], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11 (Anm. 1), S. 216-232, hier S. 217.

21 Ders., Brief vom 23.2.1955, in: ders./Kracauer, Briefwechsel (Anm. 17), S. 475.

22 Ders., Brief vom 3.2.1959, in: ebd., S. 500.

23 Ders., Amorbach [1966], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10,1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen, Ohne Leitbild, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1997, S. 302-309, hier S. 305.

24 Theodor W. Adorno, Kindheit in Amorbach. Bilder und Erinnerungen. Mit einer biographischen Recherche hg. von Reinhard Pabst, Frankfurt a.M. 2003, S. 11 (Zitat Pabst).

25 Ders., Fragen an die intellektuelle Emigration [1945], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 20,1: Vermischte Schriften I, hg. von Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 352-359, hier S. 356f.

26 Kracauer, Brief vom 15.2.1959, in: Adorno/Kracauer, Briefwechsel (Anm. 17), S. 504.

27 Jörg Später, Siegfried Kracauer. Eine Biographie, Berlin 2016, S. 561.

28 Theodor W. Adorno, Zum Gedächtnis Eichendorffs [1957/58], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11 (Anm. 1), S. 69-94, hier S. 70.

29 Ders., Gedichte von Reinhold Zickel. Zur Einleitung, in: Akzente. Zeitschrift für Dichtung 5 (1958), S. 273-281.

30 Ebd., S. 275f.

31 Ebd., S. 276.

32 Horst Stemmler, Rückblicke auf eine Freundschaft. Theodor W. Adorno und sein Lehrer Reinhold Zickel, in: Stefan Müller-Dohm (Hg.), Adorno-Portraits. Erinnerungen von Zeitgenossen, Frankfurt a.M. 2007, S. 175-210, hier S. 203.

33 Reinhold Zickel, Strom. Erster Band, Berlin 1940, S. 232, S. 234.

34 Stemmler, Rückblicke auf eine Freundschaft (Anm. 32), S. 203.

35 In einem keine zwei Seiten umfassenden Text von 1962 sind einige der hier gegebenen Antworten bereits formuliert. Auch in diesem Text zieht Adorno die Sprache zur Begründung seiner Rückkehr heran: »Verwiesen bin ich auf die Sprache, die ich als meine eigene schreiben kann, während ich Englisch in den langen Emigrationsjahren bestenfalls so schreiben lernte wie die anderen.« Theodor W. Adorno, Auf die Frage: Warum sind Sie zurückgekehrt, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 20,1 (Anm. 25), S. 394-395, hier S. 394.

36 Robert Zwarg, Adorno übersetzen, in: Arndt Engelhardt/Susanne Zepp (Hg.), Sprache, Erkenntnis und Bedeutung – Deutsch in der jüdischen Wissenskultur, Leipzig 2015, S. 123-140, hier S. 123.

37 Theodor W. Adorno, Auf die Frage: Was ist deutsch, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M. 1969, S. 102-112, hier S. 106.

38 Ebd., S. 102.

39 Ebd., S. 112.

40 Ebd., S. 107.

41 Ebd.

42 Ebd., S. 110.

43 Ebd.

44 Ebd., S. 111f.

45 Ders., Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a.M. 1964, S. 138.

46 Ebd., S. 8f.

47 Ebd., S. 65.

48 »Die unfreiwillige Parodie Heideggers durch einen Autor, der nacheinander Bücher mit den Titeln Begegnung mit dem Nichts und Begegnung mit dem Sein herausbrachte, ist gar nicht gegen diesen zu halten[,] sondern gegen das Modell, das solchen Depravationen überlegen sich wähnt.« Ebd., S. 135.

49 Marianne Regensburger, Durch ein unordentliches Leben, in: dies., Kommentare zur Zeit. 1950–2000. Mit einer Nachbetrachtung von Joachim Jauer, hg. von Joachim Heise, Berlin 2004, S. 17-30, hier S. 24f.

50 Dies., Adornos Geschäft mit dem Nichts, in: ZEIT, 12.5.1955.

51 Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft [1955], Frankfurt a.M. 1963, S. 7-26, hier S. 26.

52 Adorno, Minima Moralia (Anm. 12), S. 8.

53 Regensburger, Adornos Geschäft mit dem Nichts (Anm. 50).

54 Sigrid Weigel, Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a.M. 1997, S. 242.

55 Ebd., S. 243.

56 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik [1966], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, hg. von Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 357.

57 Weigel, Entstellte Ähnlichkeit (Anm. 54), S. 244.

58 Ebd., S. 244f.

59 Gabriele Stilla-Bowman, Darstellung und Ausdruck in der Philosophie Theodor W. Adornos. Rhetorische Strategien zwischen Subversion und Anklage, Frankfurt a.M. 2002, S. 148.

60 Ebd., S. 152.

61 Weigel, Entstellte Ähnlichkeit (Anm. 54), S. 245.

62 Adorno, Wörter aus der Fremde (Anm. 20), S. 216.

63 Ebd., S. 224.

64 Ebd.

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