Fotografien haben für die historische Forschung zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dienten sie vormals zumeist der Textillustration, werden sie inzwischen als eigenständige historische Quellen ernstgenommen. Die einschlägigen Publikationen, die sich entweder theoretisch mit der Visual History auseinandersetzen oder aber an konkreten Beispielen sich bildhafter Quellen annehmen, sind kaum mehr zu überblicken. Eine Gemeinsamkeit ist dabei: Nicht mehr nur der Bildinhalt spielt für die Geschichtswissenschaft eine Rolle; gefragt wird auch nach dem Entstehungskontext, der Überlieferung und der Rezeption der Bilder. Damit gerät zugleich die bisher übliche Aufbewahrungspraxis der Fotografien im Archiv in den Fokus: Die meist thematische Ordnung der Materialien lässt häufig keine Rückschlüsse auf diese neuen Fragen zu.
Die datenbankgestützte Erfassung und Digitalisierung der Bilder bietet hier einen Ausweg. Das digitale Abbild kann mit den unterschiedlichsten Kategorien und Suchkriterien verknüpft und, falls die Rechtelage es zulässt, auch online gestellt werden. Die Zeiten, in denen man mühsam einzelne Archive aufsuchen musste, um Bildbestände einsehen zu können, scheinen damit passé zu sein. Heute genügen wenige Klicks, um im World Wide Web eine unüberschaubare Menge an Bildern zu beinahe jedem x-beliebigen Thema angezeigt zu bekommen – allerdings, meistens auf den Bildinhalt reduziert sowie in unterschiedlichen Bild- und Erschließungsqualitäten. Die Haptik der Bildträger und viele Zusatzinformationen etwa von der Rückseite der Bilder gehen dabei verloren. Zudem ist es eine ganz irrige Annahme, dass alles relevante Fotomaterial irgendwo im Netz verfügbar sei. Digitalisiert und vor allem inhaltlich erschlossen ist bisher nur ein kleinerer Teil der fotogeschichtlichen Bestände, und so bleibt der Weg in die Archive für viele Fragen weiterhin unverzichtbar.
Doch was geschieht nun mit den für die historische Forschung so wichtigen analogen Originalen (Negativen, Kontaktstreifen, Vintage Prints) im digitalen Zeitalter? Öffentliche Einrichtungen, die Fotografien aufbewahren, erkennen paradoxerweise, seit sie ihre Bestände zu digitalisieren begonnen haben, zunehmend den Wert der Fotografie als eigenständiges dreidimensionales Artefakt mit eigener Geschichte, das es zu bewahren gilt. Der »Material Turn« ist auch für die Fotogeschichte zum Schlagwort geworden.[1]
Bei kommerziellen Einrichtungen wie Bildagenturen und Pressearchiven, die einen riesigen Schatz an kultur- und geschichtswissenschaftlich relevanten Bildquellen besitzen, sieht dies jedoch ganz anders aus: Dort werden im Zeitalter der Digitalfotografie die nicht mehr kommerziell verwertbaren, analogen Fotografien zum platz- und geldraubenden Ballast – zumal dann, wenn sie keinen direkten Zugriff nach heutigen Suchkriterien erlauben und für die praktische Redaktionsarbeit der Gegenwart damit wertlos erscheinen. Doch gerade jene Bestände sind es, die einerseits unser »Bild« vergangener Zeiten maßgeblich mitprägen und die andererseits den Einblick in die Breite der journalistischen Fotografie ermöglichen (über die immer wieder reproduzierten ikonischen Motive hinaus). Sollen diese für das Bildgedächtnis und die Forschung in vieler Hinsicht wertvollen Quellen gerettet werden, so muss die öffentliche Hand vermehrt einspringen. Dies stellt die öffentlichen Archive vor riesige Probleme – nicht nur finanzieller Art. Was die Wissenschaft zukünftig erforschen kann, darüber entscheiden in einem nicht geringen Maße die Verwahrstellen von Fotografien, seien sie nun kommerziell geführt oder öffentliche Einrichtungen. Sie bestimmen, welche Bilder der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden und in welcher Form und Erschließungstiefe dies geschieht, sei es digital im World Wide Web oder vor Ort in Form der Originale.
Unsere Debatte nähert sich mit drei Beiträgen diesem Themenkomplex, dessen Bedeutung für das fotografische Erbe und seine wissenschaftliche Auswertung kaum zu überschätzen ist. Michel Pfeiffer sieht die Kulturtechniken des Sammelns und Präsentierens durch das digitale Zeitalter in einem tiefgreifenden Umbruch. Er fordert, dass audiovisuelle Materialien in den Archiven mit gleicher Sorgfalt wie Schriftgut behandelt werden sollen. Dies ist ein drängendes Thema, denn die Archive verfügen zwar über ausgefeilte Methoden und langjährige Erfahrungen bei der Bewertung von Schriftgut, betreten bei der Bewertung großer fotografischer Bestände aber weitgehend Neuland. Doch gerade bei Digitalisierungsprojekten umfangreicher Bildbestände sind transparente Bewertungsmaßstäbe wichtig – denn nicht alle Bilder, die in öffentlichen Einrichtungen derzeit und zukünftig aufbewahrt werden, können und müssen den Weg ins World Wide Web finden.
Mirco Melone fragt, was öffentliche Einrichtungen dazu bewegt oder bewegen sollte, einst kommerziell genutzte große Pressebildarchive zu übernehmen. Was geschieht mit den Millionen analogen, früher privatwirtschaftlich hergestellten und verbreiteten Fotografien bei ihrer Wandlung zu zeithistorischen Dokumenten – einer Wandlung, die sich im Zuge der Aufwertung von »Geschichte« und »Authentizität« seit den 1980er-Jahren schon ankündigte? Welche gedächtnispolitischen Interessen und Strategien sind mit derartigen Archivübernahmen heute verbunden? Was muss die Geschichtswissenschaft bei der Beschäftigung mit Bildquellen solcher Provenienz beachten?
Jens Bove und Karolin Schmahl präsentieren ein positives Beispiel, wie mit dem analogen Fotoerbe in digitalen Zeiten verfahren werden kann. Das von der Stiftung F.C. Gundlach und der Deutschen Fotothek ins Leben gerufene »Archiv der Fotografen« in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden hat es sich zur Aufgabe gemacht, Anlaufstelle für fotografische Nachlässe zu sein. Es sucht mit Hilfe eines ständig wachsenden Netzwerks nach geeigneten Aufbewahrungsstätten für die analogen Originale und kümmert sich um die Digitalisierung der Bestände sowie um deren vollständige oder partielle Bereitstellung im Netz. Eine Besonderheit ist, dass die übernommenen Nachlässe auch die für den Kontext der Bilder so wichtigen schriftlichen Zeugnisse umfassen. Das »Archiv der Fotografen« wird im Laufe der nächsten Jahre für die historische Forschung sicher noch an Bedeutung gewinnen, zumal mit der wachsenden Zahl der Nachlässe und der weiteren Tiefenerschließung auch die Querverbindungen und Wechselbezüge zwischen den Materialien immer dichter werden.
Die Debattenbeiträge verdeutlichen, dass sich die Archive auf einen langen, in Teilen noch unbekannten Weg gemacht haben. Die Archive haben begonnen, sich neue Bewertungs- und Erschließungsmethoden zu erarbeiten, die die Möglichkeiten der digitalen Welt aufgreifen – sie sollten dies weiter ausbauen. Ein enger Austausch zwischen den Bedürfnissen der Nutzer/innen und den Archiven wäre sicher hilfreich, um gute zukunftsweisende Angebote zu entwickeln. Zum Nulltarif sind diese allerdings nicht zu haben.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Florence Declaration. Empfehlungen zum Erhalt analoger Fotoarchive, 31.10.2009, URL: <https://www.khi.fi.it/de/Declaration>; Constanza Caraffa, »Wenden!« Fotografien in Archiven im Zeitalter ihrer Digitalisierbarkeit: ein material turn, in: Rundbrief Fotografie 19 (2011) H. 3 [N.F. 71], S. 8-15.