Kartographie als imperiale Raumgestaltung

Alexander (Sándor) Radós Karten und Atlanten

Anmerkungen

„[...] an der Wand rechts eine Karte des Gebiets, von einem deportierten früheren Offizier gezeichnet, an der linken Wand die Karte der Kommission für wirtschaftliche Planung; auf dieser Karte waren die Plätze der künftigen Fabriken, der Eisenbahnen, des Kanals, der drei Arbeitersiedlungen, der Bäder, der Schulen, der Sportplätze zu sehen, die in der Stadt errichtet werden sollten.“1

„L’Affaire Toulaêv“ nannte Victor Serge seinen 1948 in Frankreich publizierten Roman, in dem er den Terror in der Sowjetunion Stalins literarisch verarbeitete. Thema des Romans ist eine sich ins Hysterische steigernde bürokratische Untersuchung als Reaktion auf die Ermordung eines kommunistischen Politikers, die sich bald in die tiefsten Provinzen des Imperiums ausweitete. Maßgebliche Elemente des Romans sind die geopolitischen Bedingungen der Sowjetunion, ihre territoriale Ausdehnung, die Landschaft und die Topographie, die die „Verortungen“ und das Handeln der Akteure leiten und bestimmen. Ein Aspekt verdient besondere Aufmerksamkeit: Die Sowjetunion als Raum politischer Gestaltung wird nicht nur in Diskursen, Wirtschaftsplänen und theoretischen Schriften entworfen, sondern auch visuell erzeugt und genutzt. Die Karte als Repräsentation des Raumes, die einzelne Städte abbildet, aber weitaus häufiger das gesamte Staatsgebiet, liefert den Protagonisten einen „Möglichkeitsraum“,2 in den sie ihre Pläne und damit die Zukunft der Sowjetunion einschrieben.

Die nicht wenigen Hinweise auf Karten in diesem Roman werfen verschiedene Fragen nach der Bedeutung von Karten in der Sowjetunion auf, aber auch nach ihrer Rolle bei der Entstehung und Repräsentation von Imperien im Allgemeinen. Beide Aspekte sind von der historischen Forschung noch kaum untersucht worden. Dies hängt - und die Sowjetunion stellt keineswegs einen Einzelfall dar - einerseits mit einer Vernachlässigung des Raumes und seiner kartographischen Repräsentationen auch von Seiten der zeithistorischen Forschung zusammen. Obgleich Karten zur Illustration und Veranschaulichung in der Geschichtswissenschaft weit verbreitet sind, spielen Karten als historische Quellen eine bisher völlig nachgeordnete Rolle.

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Mehr als ein illustrativer Charakter kommt ihnen auch in der gegenwärtigen Debatte über Imperien in aktueller und historischer Perspektive selten zu. Das ist insofern verwunderlich, als gerade die Raumbeherrschung und die Konkurrenz um den Raum zu den zentralen Charakteristika von Imperien zählen.3 So finden sich bei Herfried Münkler zwar insgesamt elf historische Karten, die etwa die Ausdehnung des Seeimperiums der Athener, das russische Imperium und die gegenwärtige globale amerikanische Militärpräsenz abbilden. Im Text gibt es jedoch keine Verweise; und die Tatsache, dass dem Kartographen nirgendwo gedankt wird, legt die Vermutung nahe, dass der Verlag die Karten zur Veranschaulichung ergänzt hat.

Spiel(t)en Karten in der Neuzeit in Europa - und diese Einschränkung ist wichtig, solange wir so wenig über die Kartenverwendung in früheren und gegenwärtigen Gesellschaften wissen - für Herrscher und Politiker beim Aufbau eines Imperiums und als Medium der Integration der Bevölkerung eine Rolle? Obgleich Münkler über die Ausbildung von Identität, über Bildungsprogramme sowie den Ausbau von Informations- und Mediensystemen spricht, werden Karten als Instrument, um in den Köpfen der Menschen eine Vorstellung vom Imperium und seiner Bedeutung oder Bedrohung zu verankern, überhaupt nicht thematisiert. Inwieweit stell(t)en Karten ein Mittel der Mobilisierung dar, und welches Bild vermittel(te)n sie?

Dass die Bedeutung von Karten im Konstituierungsprozess von Imperien in der Neuzeit nicht gering veranschlagt werden darf, zeigen neuere Untersuchungen zum British Empire. Der Raum des Empire war seit dem frühen 19. Jahrhundert auf Weltkarten projiziert worden, lange bevor eine flächendeckende staatliche Durchdringung erreicht worden war. Durch eine monochrome Markierung in der Signalfarbe Rot oder aus Gründen der Handkolorierung in Rosa war eine Homogenität antipiziert worden, die anfänglich die christlichen Missionen und im späten 19. Jahrhundert Imperialisten wie Cecil Rhodes zur Erschließung und Inbesitznahme neuer Räume antrieb. Der Kartentypus fand weite Verbreitung über Zeitungen und andere Medien, so dass sich das Bild in den Köpfen aller Bewohner des Empire und nicht nur in Großbritannien einprägte. Als kognitive Karte oder mental map fanden Karten des British Empire Eingang in die Memoirenliteratur, Prosa und Poesie und damit in das kulturelle Gedächtnis, so dass man von einem britischen Erinnerungsort sprechen kann.4

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Vor dem Hintergrund der Ergebnisse zum Stellenwert von Karten als politischem und kulturellem Gestaltungsraum bei der Konstruktion des British Empire gewinnt die Frage nach ihrer Rolle bei dem Aufbau anderer Imperien wie etwa der Sowjetunion nach 1917 weitere Relevanz. Dass die Sowjetunion der Kartographie besondere Bedeutung beimaß, brachte sie 1934 durch die Gründung des „Instituts des großen Sowjet-Atlas“ in Moskau zum Ausdruck. Aufgabe dieses Instituts war es, den „größten Atlas“ der Welt zu schaffen.5 Ein Stab von 200 Mitarbeitern und eine Vielzahl von Wissenschaftlern waren mit dem Projekt befasst, das auf drei Bände angelegt war. Die ersten beiden Bände erschienen 1937 und fanden in Deutschland eine gemischte Aufnahme. Der dritte Band, der „Übersichts- und Wirtschaftskarten der ausländischen Staaten“ enthalten sollte, konnte wegen des Zweiten Weltkrieges nicht mehr erscheinen. Der Redakteur dieses dritten Bandes war der Kartograph Alexander (Sándor) Radó (1899-1981), der nach eigenen Angaben auch an den Arbeiten der anderen Bände beteiligt war und sich seit den frühen 1920er-Jahren mit der Herstellung und Verbreitung eines kartographischen Bildes der Sowjetunion befasste.6 Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag in der thematischen Kartographie, und das Spektrum reichte von historischen Prozessen bis hin zu wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen der damaligen Gegenwart. Dass seine Karten dabei immer auch propagandistische Funktionen erfüllten, stellte nicht nur die Kritik fest, sondern war durchaus beabsichtigt.7 Die Kunst des Kartographen lag für Radó gerade darin, die Botschaft mit geeigneten technischen Mitteln so in die Karte zu zeichnen, dass sie vom Leser verstanden werden konnte. „Durch die Kombination von Zeichengrößen und beabsichtigten Kontrastwirkungen kann im Kartenbenutzer ein ‚furchterregendes‘ oder als Gegenteil ein ‚beruhigendes‘ psychisches Gefühl geweckt werden. Deshalb muß bei der Schaffung dieser Karten mit solchen beim Kartenbenutzer unbewußt auftretenden psychologischen Wirkungen gerechnet werden.“8

Radó wollte mit seinen Karten ein Bild der jungen Sowjetunion kreieren, das darauf zielte, im In- und Ausland ihre politisch-historische Entwicklung, ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen und nicht zuletzt ihre Rolle als politisches Imperium in der Welt hervorzuheben. Da aber jede Karte durch die Standortgebundenheit des Kartographen beeinflusst wird, selbst wenn sie nicht dezidiert zum Zweck der Propaganda entsteht, spiegeln seine Karten auch die wechselvolle Politik der Sowjetunion nach der Revolution wider. Zusammen mit weiteren Karten kam ihnen sogar eine prominente Rolle in der Minderheitenpolitik zu, mit all ihren gewaltsamen Folgen unter Stalin. Bevor einzelne dieser Karten vorgestellt werden, sei kurz ein Blick auf das Leben Radós geworfen, weil es sein Werk beeinflusste und zudem charakteristisch für zahlreiche Biographien des 20. Jahrhunderts ist.

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1. Der Kartograph Alexander (Sándor) Radó:
Grenzgänger und Spion

Im Sommer 1968 fertigte der amerikanische Geheimdienst CIA ein geheimes Dossier über Alexander Radó an. Nicht ohne Bewunderung sprach sich der Autor dafür aus, Radó einen Platz im „pantheon of major intelligence figures of the times“ einzuräumen.9 Das Dossier stellt die wesentlichen Etappen im Leben Radós vor, wie sie wenige Jahre später auch in seiner Autobiographie zu lesen waren.10 Diese Memoiren, die unter dem Titel „Deckname Dora“ in West- bzw. „Dora meldet“ in Ostdeutschland erschienen, sind eines der wenigen Selbstzeugnisse, die von Radó bisher zugänglich sind. Das hängt mit seinem Leben in verschiedenen Diktaturen und einer generellen Furcht zusammen, unter diesen politischen Umständen persönliche Dokumente zu hinterlassen. Auch Radós Erinnerungen wurden in der Sowjetunion zensiert und korrigiert, sieht man einmal von den Glättungen ab, die er selbst vorgenommen hat.11

Der 1899 in Budapest geborene Alexander Radó entstammte dem vermögenden jüdischen Bürgertum. Als „Sohn bemittelter Eltern“ konnte er nicht nur das Gymnasium besuchen, sondern auch zur „Sommerfrische“ nach Italien und Österreich reisen.12 1918 wurde er einberufen, begann aber parallel dazu ein Jurastudium in Budapest und machte während der Revolution von 1918 die Bekanntschaft revolutionärer Sozialisten. Ende des Jahres trat er der Kommunistischen Partei Ungarns bei. Einer Leidenschaft seiner Kindheit folgend, begann er als Politkommissar für die ungarische „Rote Armee“ Landkarten zu zeichnen, für die es nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Armee großen Bedarf gab.13 Mit dem Ende der Räterepublik im Jahr 1919 floh Radó nach Wien und später nach Deutschland, wo er in Jena ein Studium der Kartographie begann. Unterbrochen durch mehrfache Reisen in die Sowjetunion, die er immer auch zum Kartographieren und Sammeln von Landkarten nutzte, beendete er sein Studium im Jahr 1924. In diesem Jahr erschien seine erste Karte der Sowjetunion im Braunschweiger Westermann-Verlag. Es folgten weitere Arbeiten über die Sowjetunion für zahlreiche große deutsche Atlanten. Nach eigenen Angaben war es Radó, der „für die Gebiete der UdSSR die sowjetische politische und geographische Einteilung und Terminologie“ einführte.14 Radó verfasste außerdem einen Reiseführer durch die Sowjetunion, der zu einem Standardwerk wurde, und war einer der ersten Kartographen, der die Luftfahrt für die Kartographie nutzte.15 1933 emigrierte Radó mit seiner Familie nach Paris und bereits drei Jahre später in die Schweiz. Jeden Ortswechsel verband Radó jeweils mit der Gründung einer geographischen Nachrichtenagentur, die die europäische Presse mit politischen und wirtschaftlichen Karten belieferte. Die Niederlassung in der Schweiz geschah auf Wunsch Moskaus und mit dem Ziel der Übernahme einer Spionagetätigkeit, zumal Radó „kein Neuling in der konspirativen Tätigkeit“ war.16 Unter dem Decknamen „Dora“ sammelte er militärische Informationen für die Sowjetunion und informierte sie während des Zweiten Weltkrieges etwa über die deutschen Pläne und Truppenbewegungen im Zusammenhang mit dem geplanten Angriff auf die Sowjetunion. Kurz vor der Enttarnung gelang es ihm unterzutauchen, und 1944 floh er schließlich nach Paris.

Dort endet die Geschichte von Radós Spionagetätigkeit, und das Buch „Dora meldet“ schließt mit einem Ausblick auf die Schicksale seiner Weggefährten und Mitarbeiter. Den Faden seiner eigenen Biographie knüpft Radó erst mit dem Jahr 1955 an, in dem er „nach langen und schweren Prüfungen [...] endlich in meine Heimat zurückkehren“ konnte.17 Über sein Schicksal zwischen Kriegsende und der Rückkehr nach Ungarn im Jahr 1955 erfahren wir nur, dass er „1948 infolge des Stalinschen Personenkults spurlos verschwunden war“.18 Ihm erging es so wie zahlreichen anderen Kommunisten, die in Spanien und an anderen Fronten für ihre Überzeugung gekämpft hatten. Viele von ihnen waren ebenfalls jüdischer Herkunft, doch nur wenige hatten wie er das Glück, die Straflager zu überleben.19 Die CIA wusste über den Verbleib Radós immerhin zu berichten, dass er in Moskau zu 15 Jahren Arbeitslager in Sibirien verurteilt worden war. Inwieweit es gute Beziehungen oder seine fachlichen Kenntnisse waren, die ihn in ein geophysikalisches Observatorium in die Nähe von Moskau brachten, war auch der CIA nicht bekannt. Der US-Geheimdienst wusste aber, dass Radó dort ein „prisoner with privileges“ war, der sich mit Kartenproblemen und militärischen Navigationssystemen befasste.20

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Im Zuge der Entstalinisierung konnte Radó 1955 nach Ungarn zurückkehren. Beruflich begann er eine neue Karriere in der staatlichen Kartographie, und er zeichnete fortan mit der ungarischen Variante seines Namens: Sándor. Der kommunistische Kosmopolit Radó, der 1920 der sowjetischen KP beigetreten war, setzte mit diesem Wechsel ein Zeichen des Neuanfangs unter Betonung seiner ungarischen Herkunft und Verbundenheit. In beruflicher Hinsicht knüpfte Radó in Ungarn an beide Stränge seines Lebens vor 1945 an - er setzte sowohl seine kartographischen Projekte als auch seine geheimdienstliche Tätigkeit fort. Von letzterem ging zumindest die CIA aus, die Ungarn als eine Art geographisches Spionagezentrum betrachtete. Sukzessive strukturierte Radó die ungarische Kartographie und ihre Publikationen um und machte etwa die dreisprachig erscheinende Zeitschrift „Cartactual“ zu einem vor allem im westlichen Ausland angesehenen Organ.21 1967 begann Radó mit der Erstellung von Karten für die politische Schulung und die Propagandaarbeit. Innerhalb weniger Jahre erschienen mehr als 200 verschiedene Plakatkarten und Kartenblattserien, die in Schulen, Betrieben und Bibliotheken Verwendung fanden. Die Karten informierten über ein breites Themenspektrum, das von den „Überschwemmungen in Ungarn im Jahr 1970“ bis zu den „Errungenschaften und Aufgaben der Industrieentwicklung 1971-1975“ reichte. Der Schwerpunkt lag bei nationalen Themen und den sozialistischen Staaten; einzelne Karten befassten sich aber auch mit dem nichtsozialistischen Ausland.22

Seine kartographischen Fähigkeiten und seine Sprachkompetenzen - Radó sprach mindestens sechs Sprachen fließend - beförderten sein internationales Ansehen und seine Macht.23 Mit zahlreichen Ehren ausgezeichnet starb Radó im Jahr 1981. Viele seiner Projekte wurden weit über seinen Tod hinaus fortgeführt, und in Ungarn gilt er bis heute als der Begründer der nationalen und politischen Kartographie.24 Neben seiner politischen Überzeugung, an der Radó sein Leben lang festhielt - er nutzte keine seiner zahlreichen Westreisen zur Flucht -, war es die fachliche Kompetenz, die sein Überleben und eine zweite Karriere ermöglichte. Die Biographie Radós ist insofern nicht untypisch für das 20. Jahrhundert, als es in den sozialistischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Intellektuelle gab, deren Leben durch die Diktaturen mehrfache Brüche erfahren hatte. György Konrád und Iván Szelényi, die sich intensiv mit der osteuropäischen Intelligenz und ihren Mechanismen des Machterhalts und -ausbaus befasst haben, bezeichneten diesen Intellektuellentypus als „Doppelstaatsbürger von Partei und Fach“. „Ideologische Vertrauenswürdigkeit“ und die fachliche Qualifikation sicherten langfristig die Position dieser Doppelstaatsbürger, unabhängig von politischen Konjunkturen und Richtungswechseln.25

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2. Die Atlanten und ihre politischen Botschaften

2.1. Der „Atlas für Politik Wirtschaft Arbeiterbewegung“. Im Jahr 1930 erschien in Deutschland und ein Jahr später in Japan der erste von drei geplanten Bänden eines Atlasses unter dem Titel „Atlas für Politik Wirtschaft Arbeiterbewegung“. Aus politischen Gründen blieb es jedoch bei diesem ersten Teil, der den Imperialismus zum Thema hat.26 Den Einband hatte John Heartfield gestaltet, und das Vorwort stammte aus der Feder des stellvertretenden Volkskommissars des Äußeren, Fjodor Rothstein, der auf den Zusammenhang von Geographie, Geschichte und Politik hinwies.27 Radó geht in seinen Memoiren und im Vorwort zum Reprint von 1980 auf die Entstehung des Atlasses ein; indem er ihn auf ein Gespräch mit Lenin zurückführt, stellt er sich und sein Werk in eine unmittelbare Traditionslinie zur Russischen Revolution. Diese Verbindung unterstreicht er zusätzlich durch den Hinweis, dass ihm Lenin bei der Kartensuche geholfen habe.28

Unterteilt in sechs Kapitel stellt der Atlas auf schwarz-weißen und farbigen Karten politische und wirtschaftliche Themen und Entwicklungen vor. Zahlreiche dynamische Karten markieren mit dicken roten und schwarzen Pfeilen unterschiedliche Beziehungen und Bewegungen zwischen einzelnen Staaten. Die Sowjetunion springt dem Betrachter auf vielen Karten förmlich entgegen, weil sie durch ein kräftiges Rot hervorgehoben wird. Rot ist nicht nur eine Signalfarbe, die Bedeutung markiert und hervorhebt, sondern auch die symbolische Farbe des Sozialismus und Kommunismus.

Wie bereits erwähnt, war Rot bzw. Rosa außerdem die Farbe, die Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert in der Kartographie zur Hervorhebung des British Empire nutzte. Radó war sich der Wirkung von Farben bewusst und kannte möglicherweise sogar die Karten des Empire; zudem hatte sich die Zuordnung von Rot und Empire nicht nur in Großbritannien durchgesetzt. Indem Radó die Sowjetunion in diesem grellen Rot und monochrom markierte, betonte er sie nicht nur, sondern zeigte den Betrachtern vielmehr, dass das neue Imperium seinen Raum und Platz in der Welt beanspruche und die Konkurrenz mit den alten Imperien aufnehme. Die farbliche Hervorhebung wurde durch die Wahl der Projektion verstärkt, denn die von Radó bevorzugte Mercatorprojektion begünstigte die Flächengröße der Sowjetunion. Die kartographischen Mittel und die Absicht, „plakatartig“ zu wirken, fielen den Rezensenten des Werkes auf, die teilweise äußerst detailliert auf inhaltliche und darstellerische Fehler im Atlas eingingen. Die Rezensenten waren sich einig, dass dieser Atlas als ein „hochinteressantes Dokument für die Art sowjetrussischer Propaganda in Deutschland zu werten“ sei.29

 
Karte: 'Die Einkreisung der Sowjetunion durch den Britischen Imperialismus'

„Die Einkreisung der Sowjetunion durch den Britischen Imperialismus“
(aus: Radó, Atlas [Anm. 26], S. 91)

 

Zahlreiche Karten vermitteln auch das Bild einer isolierten Sowjetunion. Das gilt weniger für eine Karte, die explizit den Titel „Die Isolierung der Sowjetunion in Europa“ trägt, aber kaum mehr als die westlichen Nachbarn von Finnland bis zur Türkei zeigt,30 als vielmehr für solche Karten, die etwa „Das Rüsten zum nächsten Krieg“ zeigen. Eine geradezu „unbewaffnete“ Sowjetunion, die hauptsächlich ihre Grenzen verteidigt, wird dieser Karte zufolge von hochgerüsteten europäischen und asiatischen Staaten eingekreist und bedroht.31 Mit diesem Bild knüpfte Radó an ältere Wahrnehmungsmuster an, die auf Gefühlen von Bedrohung durch die Nachbarn Russlands basierten. Der Atlas, der sich heute in erstaunlich vielen Bibliotheken findet, war aber weit mehr als ein Propagandainstrument; er spiegelt auch die sowjetische Politik und ihre Konjunkturen in den ersten Jahren nach der Revolution wider. Beispiele dafür sind die Benennungen und der Umgang mit den zahlreichen Ethnien im Vielvölkerreich.

 
Karte: Die proletarische Großmacht Die Sowjetunion

„Die proletarische Großmacht - Die Sowjetunion“
(aus: Radó, Atlas [Anm. 26], S. 43)

 

Während Radó auf allen Karten - mit Ausnahme derjenigen des Zarenreichs - die Benennung „Sowjetunion“ wählt (in unterschiedlichen Schreibweisen), spricht er auf dieser Karte von „Russland“. Hier spiegelt er die russische und städtische Dominanz in der bolschewistischen Partei.32 Sie führte mit dem Sieg und der Ausdehnung der Bolschewiki bis an die Peripherie zu erheblichen Problemen. Denn es stellte sich mit aller Vehemenz die Frage nach dem Umgang mit der multiethnischen Heterogenität. Während vor allem linke Intellektuelle gegen eine „Nationalisierung des sozialistischen Projekts“ votierten,33 sprach sich Lenin für das Prinzip der Ethnizität aus, und Stalin teilte die Sowjetunion in Republiken mit unterschiedlichem Autonomiestatus ein. Diese Politik der Regionalisierung ging mit statistischen Erhebungen und Untersuchungen einher. Das Ergebnis war eine Fokussierung auf die Minderheiten, ihre Klassifizierung und Zuweisung zu bestimmten Territorien, die schließlich auf Karten dokumentiert und mit Grenzen markiert wurden. Die an diesem Prozess beteiligten Experten - „Ethnologen, Orientalisten und Statistiker“ - entwickelten im wahrsten Sinne des Wortes „Kriterien, die es ihnen erlaubten, die ethnische Landkarte neu zu vermessen und das Imperium als Verbund von Nationen zu strukturieren“.34 Die Karten schließlich machten dies sichtbar und erleichterten den zweiten Schritt, eine brutale Sowjetisierungspolitik und die erzwungene Integration in die Union.35

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Karte: Die Lösung der nationalen Frage in der Sowjetunion

„Die Lösung der nationalen Frage in der Sowjetunion“
(aus Radó, Atlas [Anm. 26], S. 157)

 

In Radós Atlas erscheinen Ethnien noch wenig relevant. Mit Ausnahme der Karte der „proletarischen Großmacht“, die auf die Republiken auch im begleitenden Text ausdrücklich hinweist, erwähnt Radó sie nicht und zeichnet vielmehr einen homogenen, nationalen Raum. Die Sowjetunion unterscheidet sich damit nicht von der Darstellung der anderen Staaten, die ebenfalls als homogene Blöcke markiert sind. Der Atlas verschweigt aber nicht generell die in der Zwischenkriegszeit virulente Nationalitätenfrage; er dokumentiert Minderheiten in zahlreichen europäischen Staaten und in Nordamerika. Dabei lässt Radó auch die Sowjetunion nicht aus.

Karte: Nationalitäten in den Vereinigten Staaten von Amerika

„Nationalitäten in den Vereinigten Staaten von Amerika“
(aus: Radó, Atlas [Anm. 26], S. 145)

 

Die beiden Karten unterscheiden sich jedoch grundlegend. Im Fall Nordamerikas präsentiert Radó keineswegs ein monochromes Bild, sondern ein Territorium, das von Reservaten der „Indianer“ - in roten Blöcken dargestellt - und Ansiedlungen der „Neger“ - in schwarzen Kreisen, die sich vor allem im Osten finden - wie ein Flickenteppich durchsetzt ist. Dass Radó sich für die Farben Rot und Schwarz entschieden hat, ist, auf einer symbolischen Ebene betrachtet, durchaus naheliegend und entspricht kartographischen Prinzipien. Auffällig ist aber, dass Rot auch die „weiße“ und asiatische Bevölkerung repräsentiert, obwohl die politische Sympathie Radós bei der „neu entstandenen schwarzen Arbeiterklasse“ lag, deren Aufgabe es sei, „nicht nur die Befreiungsbewegung der Neger in den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch der kolonial versklavten Negermassen in Afrika und in Mittel- und Südamerika zu führen“.36 In der Gesamtschau werden die Vereinigten Staaten von Amerika von Radó als ein Territorium präsentiert, das in ethnische Gruppen zersplittert ist und sich nicht als homogener Staat entwickeln kann.

Die Unterschiede zur Repräsentation der Sowjetunion könnten kaum größer sein. Hier zeigt Radó ausschließlich die politische Gliederung (Karte s.o., Abschnitt 7), während die „fast 200 Nationalitäten“, die er im Begleittext erwähnt, nicht differenziert und lokalisiert werden. Das entspricht der offiziellen Politik der Sowjetunion in den frühen 1920er-Jahren, die den „Gliedstaaten“ sehr unterschiedliche Formen von Autonomie gewährte, aber gerade erst mit der Erstellung differenzierter Karten der ethnischen Verteilung auf der Basis statistischer Erhebungen begann. Die Karte Radós dokumentiert gewissermaßen diesen Prozess der Regionalisierung, in dem sich die Sowjetunion befand. Sieht man einmal von den wenigen Karten zur Nationalitätenfrage ab, repräsentiert Radó die Sowjetunion als einen monochromen und damit homogenen politischen Raum. Indem der Atlas außerdem Bodenschätze und Industrie, Verkehrsverbindungen und militärisches Potenzial auf dem Territorium der Sowjetunion überwiegend verschweigt, erscheint diese rote Fläche ohne die Merkmale, mit denen Radó die „imperialistischen“ Staaten charakterisierte. Hier bot sich - so eine mögliche Lesart - dem „neuen Menschen“ ein breites Betätigungsfeld beim Aufbau einer kommunikativen Vernetzung, bei der Industrialisierung, kurz beim Aufbau eines Imperiums unter der Farbe und den Zeichen des Sozialismus. Erste Erfolge einer solchen Aufbauleistung konnten die Briten im Jahr 1938 zur Kenntnis nehmen, als Radó mit seinem „Atlas of To-day and To-morrow“ „a snapshot photograph of our rapidly changing world“ publizierte.37

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2.2. „The Atlas of To-day and To-morrow“. Dieser im Format etwas kleinere Atlas enthält in den sechs Kapiteln deutlich mehr Karten, die außerdem in viel ausführlicheren Texten und durch zahlreiche Statistiken erläutert werden. Im Unterschied zum deutschen präsentiert der englische Atlas ausschließlich schwarz-weiße Karten, so dass die Sowjetunion dem Leser trotz der Mercatorprojektion nicht so dominant ins Auge springt. Zudem - hier spiegeln sich die politischen Veränderungen der 1930er-Jahre - vermittelt der Atlas ein anderes Bild der Sowjetunion und ihrer Stellung innerhalb der Staatengemeinschaft. Sie wird als gleichrangige politische, militärische und ökonomische Macht exponiert. Auf einer Karte zum weltweiten militärischen Potenzial erscheint die Sowjetunion längst nicht mehr als der bedrohte, eingekreiste und wehrlose Staat wie noch in der deutschen Ausgabe. Auch wenn sie im Vergleich zu den anderen Staaten nicht über eine umfangreiche Flotte verfügte, so stellte Radó sie hinsichtlich der aktiven Armee bereits als zweitstärkste militärische Macht nach China dar.38

Neben der Gleichrangigkeit betont der englische Atlas die Eingebundenheit und Vernetzung der Sowjetunion etwa durch mehrere Kommunikations- und Verkehrskarten, die Radó in diese Ausgabe aufnahm. Die Sowjetunion ist Bestandteil eines globalen Netzwerkes von Kommunikations-, Kapital- und Güterströmen. Dass diese Vernetzung, heute als Globalisierung bezeichnet, nicht nur ein Spezifikum der Sowjetunion war, brachten die Rezensenten zum Ausdruck. Ihr Urteil über den Wert der Karten und deren Informationsgehalt fiel positiver aus als beim deutschen Vorläufer. Zwar fanden die Rezensenten wieder kleinere Fehler, erachteten die Bezeichnungen als „Norwegian“ and „Danish Empire“ als weit herbeigeholt und wiesen auf die politischen Implikationen des Atlasses hin, betonten aber im Gegenzug die besondere Bedeutung des Kartenmaterials und des Atlasses insgesamt, zumal in einer Zeit, in der die Welt schrumpfe.39 Die andere Qualität der Karten, die auf statistischem Material beruhten und zudem durch umfangreiche Statistiken ergänzt wurden, hing einerseits mit den konzentrierten Bemühungen um statistische Erhebungen in der Sowjetunion zusammen, war andererseits aber auch eine Frage des Zugangs. Radó arbeitete seit 1936 in Genf und konnte hier zusätzlich zu dem sowjetischen Material die Bibliothek des Völkerbundes nutzen. Bei der Erstellung der Karten für den Atlas war ihm außerdem die Tochter eines hohen polnischen Beamten des Völkerbundes behilflich, die selbst Kartographin war.40

Mehr als eine veränderte kartographische Darstellungsform bietet Radó auch im Umgang mit der Nationalitätenfrage, der in diesem Atlas ebenfalls ein Kapitel gewidmet ist. Zum einen findet sich auch hier wieder eine Karte zur politischen Struktur, die allerdings im Gegensatz zur deutschen Ausgabe die einzelnen Republiken grafisch deutlich voneinander abgrenzt. Russland erscheint als monochromer Block, durchsetzt von einzelnen autonomen Territorien, während die Republiken der Föderation in der Schraffur deutlich hervorgehoben und unterschieden werden. Die zugehörige Statistik enthält zudem genaue Angaben zu den jeweiligen Bevölkerungszahlen. Die Karte gibt zwar auch die offizielle Politik der 1920er-Jahre wieder, zieht im Gegensatz zur deutschen Ausgabe aber klare Grenzen zwischen den Teilrepubliken und bildet damit, obgleich es um die politische Struktur geht, einen weiteren Schritt bei der Klassifikation von ethnischen Minderheiten ab. Der Prozess von nationalen Zuschreibungen und Zuordnungen war eine Folge der sowjetischen „Indigenisierung und Nationalisierung von Herrschaft“,41 die nicht selten zuerst auf Karten dokumentiert wurde.

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Karte: Political Structure of the Soviet Union

„Political Structure of the Soviet Union“
(aus: Radó, The Atlas [Anm. 37], S. 59)

 

Nachdem unter Stalin die Politik der Sowjetisierung und eine gewaltsame Unterdrückung der Minderheiten einsetzte, zeigten diese Karten den „Feind“ im Innern; sie konnten zu seiner Verortung und zu gezielten politischen Maßnahmen genutzt werden. Aus Moskau berichten Zeitzeugen, dass es Ende der 1930er-Jahre dort geradezu eine Obsession war, Nachbarn und Kollegen nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu klassifizieren.42 Einer besonderen Gefahr waren gerade die Minoritäten ausgesetzt, die als eine Gefährdung der Homogenität des nationalen Territoriums betrachtet wurden. „Nur national homogene Landschaften waren auch moderne Landschaften“, schreibt Jörg Baberowski zu dieser Ausprägung des Stalinschen Terrors.43 Damit verweist Baberowski auf mentale Kartenbilder wie die von Radó produzierten, die die Sowjetunion schon in den 1920er-Jahren als eine homogene, moderne Landschaft gezeigt hatten. Dieser Vorstellung folgen letztlich auch die anderen Karten des englischen Atlasses, der die politische Struktur nur auf dieser Karte wiedergibt und die Sowjetunion ansonsten als monochromes Territorium repräsentiert.

Von den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts unterschied sich die Sowjetunion unter Stalin wohl im Terror, nicht aber in der Vorstellung von „homogenen Landschaften“. Auch andere Staaten hatten umfangreiche Homogenisierungsprogramme in die Wege geleitet und nationale Minderheiten politisch ausgegrenzt, von ihren Karten ausgeschlossen oder „verortet“, um eine gezielte Politik etwa der Germanisierung durchsetzen zu können. Dass Radó sich dieser Parallelen bewusst war, zeigen seine Karten zu anderen europäischen Staaten, deren Nationalitäten er in sehr differenzierten Karten festhielt.44 Bei der Darstellung der gesamten Sowjetunion folgte Radó dagegen in der Regel dem Homogenisierungsmodell und zeichnete eine monochrome Landschaft herbei, ohne dass sie überhaupt existierte. Er nutzte den „Möglichkeitsraum“ der Karte, um Strukturen, Status und Ziele der Sowjetunion als einer politischen und ideologischen Gemeinschaft festzuhalten. Die Parallelen zum British Empire sind nicht zu übersehen, wo Verbund und Homogenität ebenfalls auf Karten projiziert und antizipiert worden waren.

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3. Fazit: Überlegungen zur Rezeption und Bedeutung der Karten

Da Radó seine Atlanten im Westen publizierte, stellt sich die Frage nach dem Stellenwert und der Wirkung seiner Karten in Europa und in der Sowjetunion. Wer hat sie überhaupt gesehen und benutzt? Im Hinblick auf Europa sprechen die zahlreichen Bibliotheksbestände und die Rezensionen für eine breitere Rezeption. Wer den Atlas letztlich kaufte und las, wissen wir aber nicht genau. Im Fall der Sowjetunion ist davon auszugehen, dass Radó über gute und intensive Kontakte verfügte; er wird für eine Verbreitung des Werks in den Kreisen seiner politischen und professionellen Freunde gesorgt haben. Dass Karten eine große allgemeine Bedeutung zukam, zeigt die Einrichtung einer Kommission zur Erfassung und Untersuchung der Ethnien (KIPS/IPIN), die ihre sozialstatistischen Erhebungen auch kartographisch veranschaulichte. Einen dieser statistischen Atlanten bekam Walter Benjamin in Moskau zu Gesicht, der überhaupt nach seinem Besuch prognostizierte, dass die Landkarte „nahe daran“ sei, „ein Zentrum neuen russischen Bilderkults zu werden wie Lenin Portraits“. Denn „auf der Straße, im Schnee, liegen Landkarten von SSSR, aufgestapelt von Straßenhändlern, die sie dem Publikum anbieten“.45

Wie bereits erwähnt, wurde 1934 in Moskau das „Institut des großen Sowjet-Atlas“ gegründet. Radó war an diesem Werk beteiligt, und zahlreiche der dort abgebildeten Karten weisen deutliche Parallelen zu seinen Karten aus den 1920er- und 1930er-Jahren auf. Auch dieser Atlas zeigt eine Karte zur „derzeitigen politischen Einteilung“. Die Republiken werden dort aber nicht als selbstständige politische Einheiten repräsentiert, sondern die gesamte Sowjetunion zeigt sich in monochromem Rot.46 Die rote Farbe wählten die Kartographen auch für eine vierteilige Karte, die die Kollektivierung zwischen 1928 und 1936 abbildet. Der historische Prozess wird farblich untermauert, indem sich die Sowjetunion in der Farbgebung von Gelb über Orange bis zu Rot im Jahre 1936 verändert. Andere Karten in diesem Atlas zeigen den Ausbau einer Infrastruktur in der Sowjetunion und die weltweite Vernetzung, die ihren Ausgangspunkt immer im Zentrum Moskau hat. Deutsche Kartographen, die diesen Atlas in umfassenden Besprechungen würdigten, betonten zwar die Modernität der Karten und die zahlreichen methodischen Anregungen, kritisierten aber auch die „agitatorischen Gesichtspunkte“, die bei zahlreichen Karten im Vordergrund stünden.

Karte: Kollektivierung der Bauernwirtschaften in der UdSSR 1928-1936

Kollektivierung der Bauernwirtschaften in der UdSSR 1928-1936
(aus: Gorkin, Bol’soj sovetskij atlas mira [Anm. 5], S. 159)

 

Alle diese Karten bekamen die Menschen in der Sowjetunion in der einen oder anderen Form im Zuge der Regionalisierung und Sowjetisierung und den damit verbundenen Alphabetisierungskampagnen zu Gesicht. Dass die Karten langfristig ein Bild von der Sowjetunion und ihrer Rolle als einer der beiden Weltmächte mitprägten, zeigte sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Für viele Menschen innerhalb und vielmehr noch außerhalb der Sowjetunion gehörte das „Auftauchen“ zahlreicher Ethnien zu den überraschenden Erfahrungen, die mit ihrer Vorstellung vom einheitlichen Sowjetmenschen in einem homogenen Staat nicht zusammenpassten. Die jungen Staaten, die im Zuge dieser Auflösung entstanden, mussten und müssen zum Teil bis heute ihren Ort in der Welt noch finden. Relationen wie „Osten“ und „Westen“ haben sich förmlich verschoben, und ein Blick auf die aktuelle Karte lässt in vielen Staaten die Frage nach der Zugehörigkeit zu Europa in einem anderen Licht erscheinen. Im Verbund der alten Sowjetunion war dies ein selbstverständlicher Bestandteil sowjetischer Identität. Die hier vorgestellten Karten veranschaulichten das bis in die 1980er-Jahre vorherrschende Paradigma, das die Ideologie und die imperiale Macht der Sowjetunion mit dem Zentrum in Moskau betonte.47 Zu fragen wäre allerdings, inwieweit gerade die Diskrepanz zwischen „zukunftsorientierten“ und idealisierten Repräsentationen einerseits und alltäglichen Erfahrungen andererseits zur politischen Auflösung des Sowjetimperiums beigetragen hat.

Als einziges Medium sind Karten geeignet, die räumliche Ausdehnung in ihren realen Bezügen und als Projektionsraum geopolitischer, zivilisatorischer oder anderer Ambitionen zu veranschaulichen. Das gilt gleichermaßen nach außen wie nach innen. Veranschaulichungen sind ein Bestandteil der „imagined communities“,48 eine Charakterisierung, die sicherlich auch für Imperien ihre Gültigkeit hat. Zu den Bausteinen dieser Gemeinschaften gehören spätestens seit dem 19. Jahrhundert der Raumbezug und die Raumvorstellung, die sowohl auf historische Wurzeln als auch in die Zukunft verweisen.

Anmerkungen: 

1 Victor Serge, Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew, Hamburg 1950, S. 116.

2 David Gugerli/Daniel Speich, Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002, S. 84.

3 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 11ff. Inzwischen liegen einige Arbeiten vor, die das Kartographieren von Imperien untersuchen - in vielen Fällen jedoch, ohne die Karten selbst als Quellen zu betrachten. Vgl. Matthew H. Edney, Mapping an Empire. The Geographical Construction of British India, 1765-1843, Chicago 1997; Francine Hirsch, Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Ithaca 2005. Im Vordergrund stehen die Karten bei Thomas J. Bassett, Cartography and Empire building in Nineteenth-Century West Africa, in: The Geographical Review 84 (1994), S. 316-335.

4 Ute Schneider, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004, S. 120ff. Dazu demnächst Zoe Laidlaw, Das Empire in Rot. Karten als Ausdruck des britischen Imperialismus, in: Christof Dipper/Ute Schneider (Hg.), Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt 2006 (im Druck). Siehe auch William O’Reilly, Zivilisierungsmission und das Netz des British Empire. Sprache, Landvermessung und die Förderung des Wissens 1780 - 1820, in: Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 101-124.

5 Aleksandr Fedoroviéc Gorkin (Hg.), Bol’soj sovetskij atlas mira, Moskva 1937; Bruno Krömke, Der Große Sowjet-Weltatlas, in: Zeitschrift für Geopolitik 19 (1942), S. 332-335; H.[ans] Spreitzer, Der Große Sowjet-Weltatlas, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1940, S. 69-74.

6 Sándor Radó, Dora meldet, Berlin (Ost) 1974, S. 89.

7 Jeremy Black sieht wegen des propagandistischen Charakters vor allem in Radós erstem Atlas aus dem Jahre 1930 ein marxistisches Pendant zu nationalsozialistischen geopolitischen Propagandakarten. Zu ihren Aussagen und ihrem Stellenwert bei der Ausbildung eines territorialen Konzeptes und kognitiver Karten ist damit nichts gesagt. Auf die Funktion von Propagandakarten bei der Ausbildung von „Territorialkonzepten“ und ihre prägende Kraft hinsichtlich räumlicher Vorstellungen hat Guntram Herb in verschiedenen Untersuchungen hingewiesen. Siehe auch Jeremy Black, Maps and History. Constructing Images of the Past, New Haven 1997, S. 125f.; Guntram Henrik Herb, Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918-1945, London 1997; ders., Von der Grenzrevision zur Expansion: Territorialkonzepte in der Weimarer Republik, in: Iris Schröder/Sabine Höhler (Hg.), Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt a.M. 2005, S. 175-203.

8 Sándor Radó, Die Karte als Mittel der politischen Bildung, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 118 (1974), S. 75ff., Zitat S. 76.

9 Louis Thomas, Alexander Rado, in: Studies in Intelligence 12 (1968), S. 41-61. Zu dem Bild des „Meisterspions“ hat nicht zuletzt Arthur Koestler beigetragen, der dem ehemaligen Parteigenossen und Kollegen in seiner Biographie ein Kapitel unter dem Titel „Einem Meisterspion zum Gedenken“ widmete. Das gesamte Kapitel steht unter der Vermutung Koestlers, dass Radó, der sich in einem sowjetischen Lager befand, nicht mehr am Leben sei (Arthur Koestler, Die Geheimschrift. Bericht eines Lebens 1932 bis 1940, Wien 1955, S. 318-326).

10 Sándor Radó, Deckname Dora, Stuttgart 1971; ders., Dora meldet (Anm. 6).

11 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 230.

12 Radó, Dora meldet (Anm. 6), S. 28f.

13 Ebd., S. 36ff.

14 Alex Radó, Politische und Verkehrskarte der Sowjet-Republiken, Braunschweig 1924; ders., Dora meldet (Anm. 6), S. 88.

15 Ders., Dora meldet (Anm. 6), S. 90f., S. 100-109; ders., Führer durch die Sowjetunion, Moskau 1925; ders., Avio Führer: Führer für Luftreisende, Bd. I: Flugstrecke Berlin - Hannover, Berlin 1929.

16 Ders., Dora meldet (Anm. 6), S. 17.

17 Ebd. , S. 514.

18 Ebd. , S. 76.

19 Zum „Nach-Krieg“ in der Sowjetunion siehe Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 240ff.

20 Thomas, Rado (Anm. 9), S. 48.

21 Ebd., S. 60; Pál Kaszai/Gábor Gercsák, Mass media maps in Hungary. National Report (1997), online unter URL: http://lazarus.elte.hu/gb/hunkarta/press.htm

22 Siehe die Kartenbeispiele in: Radó, Die Karte (Anm. 8), Tafel 7-9.

23 Rudolf Habel, Professor Dr. Sándor Radó 70 Jahre, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 113 (1969), S. 318f.

24 Kaszai/Gercsák, Mass media maps (Anm. 21), o.S.

25 György Konrád/Iván Szelényi, Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht, Frankfurt a.M. 1978, S. 292. Zu ähnlichen Karrieren in der DDR siehe Ute Schneider, Hausväteridylle oder sozialistische Utopie? Die Familie im Recht der DDR, Köln 2004, S. 49ff.; Ralph Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999, S. 316ff.

26 Alex Radó, Atlas für Politik Wirtschaft Arbeiterbewegung, Bd. 1: Imperialismus, Wien 1930. Die DDR publizierte 1980 ein Reprint des Werkes mit einem Vorwort von „Alex Radó (Prof. Dr. Sándor Radó)“.

27 Eine Abbildung des Atlasses und einzelner Karten findet sich online unter URL: http://imaginarymuseum.org/MHV/PZImhv/RadoAtlasfurPolitik.html

28 Radó, Dora meldet (Anm. 6), S. 60f.

29 Hermann Lautensach, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 77 (1931), S. 218 (Zitat); Herbert Rosinski, Das Fiasko des Wirtschaftsatlas I: Rado, in: Die Volkswirte 30 (1931), S. 23ff.

30 Radó, Atlas (Anm. 26), S. 93.

31 Ein Vergleich zwischen der bei Münkler abgebildeten Karte zur militärischen Präsenz Amerikas (Imperien [Anm. 3], S. 276f.) und der Radóschen Karte ergibt ein interessantes Bild der Bedeutung und Wahrnehmung militärischer Macht in imperialen Kontexten. Zur Karte siehe Radó, Atlas (Anm. 26), S. 29. Abbildung unter URL: http://imaginarymuseum.org/MHV/PZImhv/RadoAtlasfurPolitik.html

32 Baberowski, Der rote Terror (Anm. 19), S. 73.

33 Ebd., S. 74.

34 Jörg Baberowski, Stalinismus und Nation: Die Sowjetunion als Vielvölkerreich 1917-1953, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 199-213, Zitat S. 205.

35 Hirsch, Empire of Nations (Anm. 3), S. 21-62, S. 145-187. Zum Zusammenhang von Statistik und Kartographie siehe Ute Schneider, „Den Staat auf einem Kartenblatt übersehen!“ Die Visualisierung der Staatskräfte und des Nationalcharakters, in: Dipper/Schneider, Kartenwelten (Anm. 4), S. 11-25.

36 Radó, Atlas (Anm. 26), S. 144.

37 Ders., The Atlas of Today and Tomorrow, London 1938.

38 Ebd., S. 23.

39 Rezensionen ohne Autorenangaben in: Nature 143 (1939), S. 8; G.R.C., in: The Geographical Journal 93 (1939), S. 179.

40 Radó, Dora meldet (Anm. 6), S. 120.

41 Baberowski, Der rote Terror (Anm. 19), S. 75.

42 Ebd., S. 196.

43 Ebd., S. 195-198, hier 198.

44 Radó, The Atlas (Anm. 37), S. 162ff.

45 Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch, Frankfurt a.M. 1980, S. 76, S. 135.

46 Gorkin, Bol’soj sovetskij atlas mira (Anm. 5), Karten 78-80.

47 Gertjan Dijkink, National Identity and Geopolitical Visions. Maps of Pride and Pain, London 1996. S. 95-108; Hannes Adomeit, Russia as a „great power“ in world affairs: images and reality, in: International Affairs 71 (1995), S. 35-68. Siehe dazu auch die Karte und den Artikel von Johannes Voswinkel, An Russlands Rändern bröckelt es, in: ZEIT, 25.5.2005, S. 11.

48 Interessanterweise hat Anderson erst die erweiterte Neuauflage seines grundlegenden Buchs um ein Kapitel zu „Zensus, Landkarte und Museum“ ergänzt: Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin 1998, S. 163-187.

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