Wohl kaum ein anderer Film hat die Vision von der Stadt der Zukunft und dem mechanisierten Menschen so geprägt wie Fritz Langs „Metropolis“. Dabei war dieser heutige Klassiker 1927 im Kino zunächst mit mäßigem Erfolg gestartet. Obwohl er mit einem für die damalige Zeit sehr hohen Aufwand produziert wurde (18 Monate Drehzeit, Budget von letztlich 6 bis 7 Mio. Reichsmark), wollten ihn nach der Premiere nur 15.000 Berliner sehen.1 Inzwischen hingegen hat sich das Filmbild der Metropole mit ihren auftürmenden Hochhäusern, dem pulsierenden Verkehr mit Autos, Bahnen und Flugzeugen in unser kollektives Gedächtnis eingeschrieben. Es ist zum Symbol geworden für die architektonische Moderne und für die Visualisierung des Begriffs „Moloch Großstadt“. „Metropolis“ gilt inzwischen als der wichtigste deutsche Stummfilm und wurde 2001 als erster Film überhaupt von der UNESCO in das Register „Memory of the World“ aufgenommen. Neben der vielfältigen Rezeptionsgeschichte hat der Film auch eine höchst interessante Überlieferungsgeschichte.2
In den 1960er-Jahren entdeckte zunächst die französische Nouvelle Vague den Regisseur Fritz Lang als Autor, vor allem in seinen amerikanischen Arbeiten. Anschließend interessierte sich auch der Neue Deutsche Film für ihn - als einen Klassiker der Weimarer Republik. Neue Popularität gewann speziell „Metropolis“ durch eine postmoderne Überarbeitung des Popmusikers Giorgio Moroder von 1984, der den Film kolorierte, auf 87 Minuten kürzte und mit moderner Musik unterlegte (u.a. von Freddy Mercury). Dadurch wurde der Film einem breiten Publikum bekannt, und Material daraus wurde in verschiedenen Musikclips verwendet (etwa von Queen und Madonna). Sehr populär wurde auch die Aufführung des Films mit orchestraler Live-Musik beispielsweise des Deutschen Filmorchesters Babelsberg 1994 bei der Berlinale oder 2000 bei der EXPO Hannover. 2001 folgte eine Neubearbeitung von Jeff Mills, der eine knapp einstündige Fassung mit Technomusik unterlegte. Von Chaplins „Moderne Zeiten“ über „Blade Runner“ oder „Star Wars“ bis zum japanischen Animationsfilm „Metoroporisu“ (2001) hat „Metropolis“ zahlreiche Filme beeinflusst. In Werbespots oder Musikclips tauchen immer wieder Architekturkonstruktionen und Elemente auf, die die symbolischen Bilder aus „Metropolis“ adaptieren. Dies zeigt, welche Bedeutung der Film für das Sinnbild Stadt hat. Dabei wurde „Metropolis“ seit der Uraufführung je nach Perspektive als kapitalistisch, bolschewistisch und sogar präfaschistisch bezeichnet.3
Für die visuelle Umsetzung und Gestaltung der Stadt wurde Fritz Lang inspiriert von New York, das ihn bei seinem USA-Besuch im Oktober 1924 nachhaltig beeindruckte. In einem Artikel für die Zeitschrift „Film-Kurier“ schrieb er fasziniert von den Leuchtreklamen: „Und dabei müsste allein der Anblick von Neuyork bei Nacht genügen, um dieses Fanal der Schönheit zum Kernpunkt eines Films zu machen. Das blitzt auf, kreist in Rot, Blau und leuchtendem Weiß, schreit in Grün dazwischen und versinkt in Schwarzes Nichts, um gleich darauf neugeboren wieder das Spiel der Farben zu erleben. Straßen, die Schächte voll Licht sind, voll drehendem, wirbelndem, kreisendem Licht, das wie ein Bekenntnis zu frohem Leben ist. Und darüber, himmelhoch über den Autos und Hochbahnen, tauchen Türme auf in Blau und Gold, in Weiß und Purpur, von Scheinwerfern aus dem Dunkel der Nacht gerissen. Reklame ragt noch höher, bis zu den Sternen, die diese an Licht und Glanz besiegen, lebend in immer neuer Variation.“4 Neben der Faszination der modernen Metropole zeigte Lang in seinem Film eine Wirklichkeit der strikt getrennten Zweiklassen-Gesellschaft mit den Herrenmenschen einerseits, die ohne Skrupel dem Luxus frönen, und malochenden, anonymen Arbeitermassen im Untergrund andererseits, die die Existenz der Stadt erst ermöglichen und sie am Leben halten. Sein Appell war eindeutig: „Mittler zwischen Hirn und Händen“ müsse „das Herz“ sein - was im Film durch die Liebe zwischen Maria, der Arbeiterführerin, und Freder, dem Sohn des Herrschers, überdeutlich symbolisiert wird.
Abbildung: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung
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Die Premierenfassung (4.189 m = 153 Min. bei 24 Bildern pro Sek.) wurde aufgrund des Misserfolges sowohl in Deutschland als auch für die amerikanische Fassung um rund 1.000 m gekürzt und völlig neu geschnitten. 30 Minuten der Premierenfassung galten lange Zeit als unwiederbringlich verloren. Im Sommer 2008 wurde nun der Fund einer erhaltenen 16 mm-Kopie der Langfassung von „Metropolis“ im Museo del Cine in Buenos Aires bekannt gemacht - eine filmhistorische Sensation.5 Der Kopie liegt die originale 35 mm-Fassung auf Nitromaterial zugrunde, die in Argentinien nach der Berliner Premiere gezeigt und in den 1960er-Jahren auf 16 mm-Sicherheitsfilm überspielt worden war. Die Kopie hat nach Jahrzehnten Kinoeinsatz zwar eine miserable Bildqualität, doch nun ist es erstmals möglich, fast die komplette Premierenfassung zu rekonstruieren. Dies ist umso wichtiger, da das gefundene Material durchaus das Verständnis der Geschichte verändert. Bisherige Nebenfiguren erhalten tragende Rollen, Schlüsselszenen des Films bekommen eine neue Bedeutung. Auf die vervollständigte Fassung kann man also gespannt sein.
Abbildung: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung
Vor dem spektakulären Fund in Buenos Aires gab es über Jahrzehnte immer wieder Versuche, sich der Premierenfassung möglichst weit anzunähern. Dabei taten sich Ende der 1960er-Jahre insbesondere das Staatliche Filmarchiv der DDR und in den 1980er-Jahren Enno Patalas als Leiter des Münchner Filmmuseums hervor. Auf der Berlinale von 2001 wurde eine neue Fassung präsentiert, die eine Länge von 3.341 m aufwies und die neuesten Erkenntnisse der „Metropolis“-Forschung berücksichtigte. Diese Version wurde 2003 auf zwei DVDs veröffentlicht. Neben dem Film gibt es eine Dokumentation von Enno Patalas über die Geschichte dieses Films und seine filmhistorische Aufarbeitung sowie eine kurze Dokumentation von Martin Koerber zur Filmrestaurierung. Die DVDs verkauften sich insbesondere in den USA und einigen europäischen Ländern hervorragend - während der Absatz in Deutschland hinter den Erwartungen zurückblieb. Diese Fassung des Klassikers, die bisher das umfassendste Filmmaterial präsentiert, diente als Grundlage für die Studienfassung, die hier vorgestellt werden soll und die ungeachtet der neu aufgetauchten Sequenzen hilfreich bleibt.
Abbildung: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung
Der „Prototyp einer kritischen Edition“ (so Anna Bohn im Booklet, S. 11) hat einen Anspruch, der über die Beschäftigung mit „Metropolis“ weit hinausreicht: Mit der variablen Verknüpfung von bewegtem Bild, Foto, Text, Ton usw. sollen die interaktiven Möglichkeiten einer DVD für die wissenschaftliche Aufbereitung und Analyse eines Films genutzt werden. Das zweijährige Projekt „DVD als Medium kritischer Filmedition“ an der Universität der Künste Berlin sollte das relativ neue Trägermedium „von einem kommerziellen Unterhaltungsformat zu einem film- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinstrument“ machen, wie es Hortensia Völckers von der Kulturstiftung des Bundes ausdrückt (Booklet, S. 4). Zugleich sollte dabei „das editorische Prinzip historisch-kritischer Buchausgaben in eine dem Gegenstand adäquate visuelle Dimension überführt“ werden (Friedemann Beyer, Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, ebd. S. 5). Abgesehen von neuen Erkenntnissen über „Metropolis“ soll die DVD also neue Standards präsentieren, wie kritische Editionen beim Film aussehen könnten. Dazu gibt es in Deutschland leider noch zu wenige Überlegungen und Veröffentlichungen. An der Universität Trier fand 2002 ein Symposium zu diesem Thema statt, bei dem verschiedene Ansätze vorgestellt und diskutiert wurden.6 Da der deutsche Markt zu klein ist, empfiehlt es sich, solche Editionen von vornherein international anzulegen.
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Der Projektleiter Enno Patalas betont in der Begleitbroschüre zur DVD die Vorteile des Mediums gerade für wissenschaftliche Zwecke (S. 7): „Der Zuschauer ist nicht mehr für zwei Stunden dem Kollektiverlebnis des im dunklen Saal aus einer verborgenen Kabine heraus über seinen Kopf hinweg projizierten bewegten Bildes ausgesetzt; er wird zum Leser, ein Einzelner, mit der Möglichkeit des Vor- und Zurückblätterns, des Auslassens und Wiederholens. [...] Neben der ‚horizontalen‘ Lektüre eines Films, von Anfang bis Ende, könnte es [d.h. das Medium DVD] eine ‚vertikale‘ anbieten, die, von Segmenten einer Fassung ausgehend, andere dokumentierte Stufen von Entstehung und Umgestaltung des Films wiedergibt, seine Werkgeschichte reflektiert, ihn erschließt als historische Erscheinung, Prozess der Darstellung wie des Dargestellten.“ Um dieses komplexe Informationsmanagement bewerkstelligen zu können, wurde ein spezielles Navigationssystem entwickelt. Sehr praktisch ist etwa die Funktion, dass ein rotes Symbol im Bild anzeigt, zu welchem Abschnitt es zusätzliche Materialien gibt. Wer möchte, kann dann in die Tiefe gehen, sieht Entwürfe oder Fotos der Dreharbeiten oder Passagen aus dem Drehbuch, das die jeweilige Szene detaillierter erläutert.7 Anschließend kann man den Film genau dort weitersehen, wo man ihn unterbrochen hat. Dieses Konzept ist in der Studienfassung sehr gut umgesetzt und sollte Anregungen auch für kommerzielle DVDs geben. Ganz verzichtet wird leider auf die Darstellung der Rezeptionsgeschichte, auf Interpretationen zu diesem Klassiker sowie seine kulturelle und politische Einordnung. In diesen Hinsichten müsste der historisch-kritische Editionsanspruch weiter ausgebaut werden.
Neben dem weitgehenden Verzicht auf Kontextinformationen und Rezeptionszeugnisse hat man sich bei der DVD-Studienfassung von „Metropolis“ bewusst dafür entschieden, den Film als Torso zu präsentieren, „als ein Werk, das nicht vollständig überliefert ist. Aufgrund der Unterbrechungen im repräsentativen Kontext des Films konfrontiert die Studienfassung den Benutzer bewusst mit den Fehlstellen, die mit dem Begriff Lacunae bezeichnet werden.“ (Booklet, S. 9) Dies sieht in der Praxis so aus, dass Lücken durch ein graues Bild „ohne imaginative Ergänzungen“ (ebd.) erscheinen. Grundlage der Edition ist die inzwischen wieder aufgetauchte und hier neu eingespielte Originalmusik der Premiere von Gottfried Huppertz, so dass sich auch die Länge der Lücken einschätzen lässt. In den Noten sind bei jedem Zwischentitel Einsatzstichworte zur Szene notiert, so genannte Cues. Wahlweise kann man sich während der Fehlstellen nun diese Cues, Textinformationen aus der Zensurkarte und/oder dem Drehbuch sowie bei einigen Passagen auch Fotos, Zeichnungen oder Entwürfe dieser Szene ansehen. Die Typografie dieser Informationen ist unterschiedlich gestaltet und repräsentiert die Verlässlichkeit der Textinformation; so werden hypothetische Einfügungen durch eckige Klammern kenntlich gemacht. Dies ist ein interessanter und radikaler Ansatz, der angeregt wurde durch die kunstwissenschaftliche Theorie der Restaurierung sowie philologische und musikwissenschaftliche Editionspraktiken. Beispielsweise werden inzwischen auch verstümmelte antike Statuen nicht mehr - wie im 19. Jahrhundert - ergänzt, sondern bewusst als Fragmente überliefert, und fehlende Sektionen bei einem Mosaik werden durch eine farblich neutrale Gestaltung solcher Flächen deutlich gemacht.
So aufschlussreich die Ergänzung des Films durch Zusatzinformationen auf verschiedenen Ebenen ist, die eine intensive Auseinandersetzung mit dem Film und seiner Entstehung erst ermöglichen, so kritisch bewerte ich persönlich die Lacunae-Lösung. Film ist ein bewegtes Medium; deshalb wirken diese grauen Bilder anders als bei einem Mosaik, einem Gemälde oder einer Statue. Sie werden regelrecht als Fremdkörper empfunden. Außerdem suggeriert diese Lösung, dass es doch so etwas wie eine nachweisbare Urfassung von „Metropolis“ geben könnte. Berücksichtigt man die komplexe Rezeptionsgeschichte mit den unterschiedlichsten Fassungen, dann erscheint ein solches Vorgehen gerade bei diesem Klassiker äußerst zweifelhaft. Auf eine Darstellung der unterschiedlichen Restaurierungsfassungen und Bearbeitungen, die sich in diesem Fall angeboten hätte, wurde leider verzichtet. „Die DVD Metropolis steht als Studienausgabe aus editionsphilologischer Sicht zwischen einer historisch-kritischen Ausgabe und einer Leseausgabe“, hält die Projektmitarbeiterin Anna Bohn selbst fest (Booklet, S. 10). Es stellt sich auch die Frage, bei wie vielen Filmen die Überlieferungslage bezüglich des Herstellungs- und Entstehungsprozesses so umfangreich dokumentiert ist wie bei „Metropolis“, d.h. inwieweit eine solche Edition tatsächlich auf andere Beispiele übertragbar ist.
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In einer Besprechung der Studienausgabe hat Helmut G. Asper kritisiert, dass der Nachweis des auf der DVD präsentierten Materials fehle - der eigentlich die Grundlage einer historisch-kritischen Herangehensweise sei -, und dass Abweichungen zwischen Drehbuch und Film nicht erläutert würden. Er nennt folgendes Beispiel: „Im ‚Zwischenspiel‘ enthält das Drehbuch eine visionäre Einstellung mit einem Erzengel (Bild 215 und 218), die mit Huppertz’ handschriftlichem Vermerk ‚50 Meter = 1 Min. 40 Sek‘ versehen ist, offenbar eine Notiz für die Länge der Musik. Deshalb darf man vermuten, dass die Szene tatsächlich gedreht wurde - allerdings fehlt sie im Film, ist jedoch nicht mit einer Leerstelle kenntlich gemacht, und es gibt auch keinen Cue aus Huppertz’ Klavierdirektion. Auf der Zensurkarte gibt es keinen Zwischentitel, dem diese Szene zugeordnet werden kann, anscheinend ist sie also noch vor der Zensur herausgeschnitten worden - von wem und weshalb? Dazu gibt es keine Antwort.“8 Dieses Beispiel zeigt, wie detailliert man nun mit dem Film arbeiten kann, aber auch, welche Defizite es dabei noch zu geben scheint.
Insgesamt ist sowohl wegen der immensen Kosten von mehreren hunderttausend Euro und unterschiedlichen Materiallagen der Sekundärquellen zu befürchten, dass diese anregende und wichtige Studienfassung nicht der erhoffte Prototyp für eine umfassende Aufarbeitung des Filmerbes werden, sondern ein Solitär bleiben wird.
1 Mit den Gründen für den Misserfolg hat sich Guntram Geser ausführlich beschäftigt, der „Metropolis“ mit Langs wesentlich erfolgreicherer Zukunftsvision „Die Frau im Mond“ vergleicht und den Erfolg im Kino in Beziehung setzt zu den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Weimarer Republik: Guntram Geser, Fritz Lang - Metropolis und Die Frau im Mond, Meitingen 1999.
2 Vgl. Martin Koerber, Notizen zur Überlieferung des Film Metropolis, in: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung/Transit Film GmbH (Hg.), Metropolis, Wiesbaden 2001, S. 18-25 (Broschüre zur Wiederaufführung einer rekonstruierten Version auf der Berlinale 2001).
3 Dazu im Detail: Thomas Elsaesser, Metropolis. Der Filmklassiker von Fritz Lang, Hamburg 2001.
4 Fritz Lang, Was ich in Amerika sah. Neuyork - Los Angeles, in: Film-Kurier, 11.12.1924. Zitiert in: Fred Gehler/Ullrich Kasten, Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, Berlin 1990, S. 207f.
5 Der Fund und seine Geschichte ist ausführlich dokumentiert in: ZEIT Magazin Leben, 3.7.2008, S. 10-33. Dort sind auch die Filmstreifen bisher verloren geglaubter Szenen abgedruckt.
6 Die Ergebnisse sind veröffentlicht in: Martin Loiperdinger (Hg.), Celluloid Goes Digital. Historical-Critical Editions of Films on DVD and the Internet, Trier 2003.
7 Neben gut 250 Szenen- und Werkfotos enthält die DVD u.a. auch das vollständige Originaldrehbuch als PDF-Dokument.
8 Helmut G. Asper, „Metropolis“ forever. Studienfassung des Stummfilmklassikers auf DVD, in: film-dienst 59 (2006) H. 13, S. 44f., hier S. 45.