»Was bedeutet eigentlich Gewalt?«

Ein Gespräch mit Wolfgang Knöbl

Anmerkungen

Wolfgang Knöbl zählt zu den Protagonisten der soziologischen Gewaltforschung in Deutschland. Im April 2015 übernahm er die Leitung des Hamburger Instituts für Sozialforschung von dessen Gründer Jan Philipp Reemtsma, der das HIS seit 1984 als international renommiertes Zentrum der Gewaltforschung, Gesellschaftsbeobachtung und Sozialtheorie etabliert hatte. Nach Stationen an der Freien Universität Berlin, in New York City, Toronto und Göttingen lehrt Wolfgang Knöbl neben seiner Hamburger Tätigkeit nun Politische Soziologie und Gewaltforschung an der Leuphana Universität Lüneburg. Seine Arbeiten verbinden historische Forschungsinteressen (Polizei und Herrschaft im Modernisierungsprozeß. Staatsbildung und innere Sicherheit in Preußen, England und Amerika 1700–1914, Frankfurt a.M. 1998) mit sozialtheoretischen Leitfragen (Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit, Weilerswist 2001; zusammen mit Hans Joas: Kriegsverdrängung. Ein Problem in der Geschichte der Sozialtheorie, Frankfurt a.M. 2008). Das Gespräch führten Thomas Schaarschmidt, Winfried Süß, Peter Ulrich Weiß und Jan-Holger Kirsch am 21. Juni 2018 im Hamburger Institut für Sozialforschung.

Mit der Kampagne »Mein Freund ist Ausländer« bezog der DFB eine klare Position. Vor einem Heimspiel von Eintracht Frankfurt gegen den Hamburger SV im Dezember 1992 präsentierten Kinder verschiedener Nationalitäten dieses Transparent gegen Rassismus. (picture alliance/dpa/Dieter Roosen)
Beim Gespräch im Hamburger Institut für Sozialforschung
(von links nach rechts:
W. Süß, Th. Schaarschmidt, W. Knöbl, P.U. Weiß)
(Foto: Sabrina Broocks,
Hamburger Institut für Sozialforschung)

Winfried Süß: Wolfgang, Du bist ja einer derjenigen Sozialwissenschaftler, die sich schon sehr früh mit dem Thema Gewalt beschäftigt haben und bei denen diese Thematik eine Leitlinie ihrer Wissenschaftsbiographie bildet. Woher kam Dein Interesse an dem Forschungsfeld?

 

Wolfgang Knöbl: Es ist relativ präzise zu datieren und hat damit zu tun, dass ich als Student in den 1980er-Jahren Hans Joas an der Universität Erlangen-Nürnberg begegnet bin. Ich war am Ende meines Soziologiestudiums, Hans Joas kam 1987 gerade dort hin. Er war einer derjenigen, die recht früh beeinflusst waren von Michael Mann und Anthony Giddens. Giddens hatte damals seine ersten Arbeiten veröffentlicht, die sehr stark die Gewalt in den Mittelpunkt stellten – also: »The Nation-State and Violence«.[1] Und Joas war jemand, der als akademischer Lehrer in Erlangen damals schon versucht hat, das Gewaltthema einzubeziehen. Er hatte die Idee, man müsste dabei stärker auf den Staat fokussieren, und hatte auch schon einige Seminare gemacht, in denen es um Polizei ging, obwohl Joas selber kein Polizeiforscher war. Aber er hatte das Gefühl, dazu gebe es in der Soziologie noch viel zu wenig. Und dann war die Sache relativ einfach: Er wurde 1990 nach Berlin berufen, war dort am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien. Ich war gerade dabei, meine Magisterarbeit abzuschließen, und er hat mich mitgenommen. Wir haben dann schnell ein Themenfeld ausgemendelt. Mich haben Gewaltfragen interessiert, weil ich schon über Giddens und sein Buch »The Nation-State and Violence« die Magisterarbeit geschrieben hatte, sodass ich anschließend überlegte: Warum eigentlich keine Studie zur Polizei? Und die Dissertation ging dann tatsächlich über die Polizei in Preußen, in den Vereinigten Staaten und in England zwischen 1800 und 1914.[2] Da spielte Gewalt schon eine große Rolle, aber auch ihre Prävention und Einhegung.

Jan-Holger Kirsch: Wenn man den Titel Ihrer Dissertation liest, könnte man fast denken, dass es eine geschichtswissenschaftliche Arbeit wäre. Wie kam es, dass Sie sich entschieden haben, eher in Richtung Soziologie zu gehen, aber dieses historische Interesse trotzdem so mitgeführt haben?

Das hängt wohl damit zusammen, dass ich auch in Aberdeen studiert habe. Für mich war die Erfahrung, in Großbritannien Soziologie zu studieren, im Unterschied zur Bundesrepublik, ein richtiger Bruch, weil hierzulande »die große Theorie« im Mittelpunkt stand, also Luhmann und Habermas. Als ich nach Schottland gegangen bin, war klar, ich will nicht reine Theorie machen, man muss das irgendwie erden. Da kamen Mitte der 1980er-Jahre diese Arbeiten heraus von Anthony Giddens, Michael Mann, John A. Hall, die alle den Staat, den Zivilisationsvergleich – bei Hall sehr stark – und vor allem Machtaspekte ins Zentrum rückten. Das war eine Mischung, die es in der Bundesrepublik so nicht gab. Ich kann es nicht anders beschreiben als eine Art von Weber-Marxismus, der in Deutschland keine wirkliche Heimat gehabt hat.

Thomas Schaarschmidt: Die Schwierigkeiten, über Gewalt und Gewaltabkehr zu sprechen, fangen ja schon beim Gewaltbegriff an, der disziplinär unterschiedlich sein kann. Wir beobachten gerade im Zusammenhang der #MeToo-Kampagne noch mal den Fokus auf ganz neue Phänomene von Gewalt, die bis dahin nicht im engeren Sinne als Gewalt bezeichnet wurden. Hat sich Ihre Vorstellung, Ihr Begriff von Gewalt im Laufe der Zeit geändert?

 

Diese Frage ist für mich gar nicht so einfach zu beantworten. Als ich meine Dissertation angegangen bin, da kannte ich die Arbeiten zum Beispiel von Alf Lüdtke. Ich habe Lüdtke nicht als jemanden gesehen, der Alltagsgeschichte machte, sondern als jemanden, der ein interessantes Buch zur Polizeigeschichte geschrieben hat[3] – und habe als Soziologe von dem Material, das er mir dargeboten hat, meine Makro-Schlussfolgerungen gezogen. Den Mikro-Aspekt habe ich damals gar nicht so recht verstanden, und ich war damit, denke ich, in der Soziologie nicht der einzige. Erst in den 1990er-Jahren, als die situationistische neue Gewaltforschung losging, mit Trutz von Trotha, Jan Philipp Reemtsma, Birgitta Nedelmann und so weiter, wurde mir dann auch klar: Okay, Lüdtke schreibt ja eigentlich kein Buch über Polizei, sondern über Praktiken der Gewalt. Und das war für mich, glaube ich, eine sehr späte Einsicht. Erst dann habe ich begonnen zu fragen: Was bedeutet eigentlich Gewalt? Nun ging es tatsächlich auch um begriffliche Arbeit. Aber das hing auch damit zusammen, dass diese neuere situationistische Gewaltforschung Mitte der 1990er-Jahre einfach schon prominent vertreten war. In den USA waren einige Leute wie Jack Katz bereits auf dieser Schiene. Und dominant wurde es spätestens ab 2008, als Randall Collins diese Mikroperspektive ganz stark machte.[4] Nun ging es darum, über Gewalt generell zu diskutieren. Ich selber würde immer für einen sehr engen physischen Gewaltbegriff plädieren, weil ich nicht sehe, wie man sonst vernünftige Erklärungszusammenhänge hinbekommt. Ich könnte mir vielleicht noch vorstellen, solche Dinge wie Mobbing mit reinzunehmen. Aber der Begriff der strukturellen Gewalt, der von einigen jüngst wieder aufgenommen worden ist, das ist Teil einer Debatte, die ins Nichts führt – ich sehe keine neuen Argumente gegenüber dem, was in Bezug auf Johan Galtung in den 1980er-Jahren schon gesagt wurde.

Winfried Süß: In der Außensicht eines Historikers, der ab und an soziologische Texte liest, habe ich den Eindruck, es gibt in der soziologischen Gewaltforschung eine Entwicklung vom Fokus auf »illegitime« staatliche Gewaltausübung hin zu einer Soziologie, die sich eher für Phänomene interessiert, wie sie Elias Canetti in »Masse und Macht« beschrieben hat.[5] Also die Irritation sozialer Ordnung durch Massen, die außer Kontrolle sind, die sich selber außer Kontrolle bringen oder außer Kontrolle gebracht werden. Unsere Frage wäre jetzt: Wo steht die Gewaltforschung heute?

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich die Einschätzung für die Soziologie so teilen würde. Wenn man sich momentan Soziologiekongresse zur Gewaltforschung anschaut und auch die Publikationen, dominiert das mikrosoziologische Paradigma von Randall Collins. Ein kritisches Argument, das man gegenüber Collins stark machen kann, lautet: Je näher Du an die Phänomene herangehst, desto stärker enthistorisiert und entkontextualisiert erscheinen sie. Collins bringt immer weniger die größeren Meso- oder Makrokontexte mit hinein, und das führt dann ab einem bestimmten Punkt dazu – jetzt sehr scharf formuliert, aber tendenziell wohl richtig –, dass ein Raubmord von einem antisemitischen Massaker nicht mehr wirklich zu unterscheiden ist. Denn je genauer man hinschaut, desto mehr geht der Kontext verloren. Collins hatte ja versprochen, eine Makrosoziologie der Gewalt nachzuliefern, aber die kam nicht und kommt auch nicht. Mir scheint, es gibt vielleicht gute Gründe, warum sie nicht kommt. Einer ist, dass die situationistische Gewaltforschung ein massives Problem hat, die »Situation« zu definieren. Collins bestimmt sie sehr stark über die technischen Möglichkeiten, die er zur Verfügung hat. Er arbeitet ja bei seinen Analysen, die ich großartig finde, viel mit Videoaufnahmen, und man hat immer das Gefühl, die Gewaltsituation beginnt, wenn die Kamera eingeschaltet, und sie endet, wenn die Kamera ausgeschaltet wird. Aber so kann man eine Situation nicht eingrenzen. Man muss sie soziologisch oder historisch definieren und sich den Zugang nicht durch technische Mittel vorgeben lassen. Genau das ist das Problem, an dem sich momentan viele abarbeiten: Wie ist es möglich, eine mikrosoziologische Gewaltforschung an größere Kontexte anzuschließen? Und ich komme jetzt zu Canetti und dem »Gewaltmassenphänomen«. Die genannte Forschungslücke hat damit zu tun, dass die ganzen Studien zu sozialen Bewegungen stark von zwei Prämissen geprägt waren. In der Soziologie haben meist Leute zu sozialen Bewegungen geforscht, die aus den sozialen Bewegungen selbst stammten. Das führte häufig dazu, dass man diesen Bewegungen, aus nachvollziehbaren biographischen Gründen, ein sehr rationalistisches Verhalten unterstellte. Der andere Grund ist, dass verschiedene Phänomene, die man empirisch beobachten konnte, eigentlich nicht in eine feste Struktur einzupassen waren und sind. Die Soziologie hatte immer große Schwierigkeiten damit, fluide Zustände zu beschreiben. Der Rückgriff auf »Gewaltmassen« war ein theoretischer Clou, um zu sagen: Lasst uns doch mal aus einer soziologischen Perspektive fluide Phänomene betrachten, die man nicht als soziale Bewegungen definieren kann. Wann immer man über soziale Bewegungen redet, geht es sehr schnell um Bewegungsunternehmer, die das Ganze organisieren, um Führer und Bewegungsstrukturen – wie auch immer. Aber es gibt Phänomene, die lassen sich in diesen Kategorien letztendlich nicht fassen. Das soll jetzt nicht heißen, dass die herkömmliche Bewegungsliteratur keine gute Forschungsperspektive böte. Nur, die Soziologie ist nun mal stark geprägt durch die Vorstellung, dass die soziale Realität entweder fix ist oder in ziemlich klar definierten, robusten sozialen Prozessen gefasst werden kann. Das »in between« ist nichts, mit dem die Soziologie gut umgehen kann. Deshalb war die neuerliche Thematisierung von Gewaltmassen ein innovativer Schachzug.[6]

Winfried Süß: Vielleicht kannst Du noch einmal sagen, welche Phänomene man mit dem aktuellen Instrumentarium der Gewaltforschung ganz gut in den Griff bekommt, und wo sie nicht so gut funktioniert.

Zu analysieren ist erstens: Was ist überhaupt ein sozialer Prozess? Alle reden von der Prozesshaftigkeit der Gewalt oder von Gewaltdynamik. Aber wo beginnt ein Prozess, wo endet er, was sind die Einheiten, wer sind die Träger dieses Prozesses? Das würden wir schon ganz gerne mal wissen. Ich würde sagen, der Blick auf Prozesshaftigkeit ist ein weiterführender Weg – und die Analyse von Temporalität ein anderer. Auch unterschiedliche Temporalitäten zwischen verschiedenen Institutionen, Gruppen und Personen spielen eine wichtige Rolle. Zweiter Punkt, der in der Geschichtswissenschaft sehr viel genauer diskutiert worden ist als in der Soziologie: Narrativität. Wie erzähle ich eigentlich Gewaltprozesse? Es ist ja extrem schwierig, aus einer soziologischen Perspektive, die meist sehr statisch argumentiert, einen schnellen Prozess zu beschreiben. In der Soziologie gibt es kaum Überlegungen dazu, wie Narrativität und Prozesshaftigkeit zusammengehen. Dank Hayden White gibt es dazu natürlich schon ewig lange Debatten in der Geschichtswissenschaft. Das ist in der Soziologie vollkommen verschlafen worden, würde ich sagen. Drittens: das Verhältnis von Mikro und Makro. Was heißt das eigentlich? Ich glaube, es gibt sehr gute Gründe, Siegfried Kracauers postum erschienenes Werk »Geschichte –Vor den letzten Dingen« wirklich ernstzunehmen. Denn das zentrale Argument für die Gewaltforschung lautet ja bei Kracauer, der Simmel-Schüler war: Es ist nicht bruchlos möglich, Mikrosituationen in Makrosituationen zu übersetzen (oder umgekehrt), es wird immer einen unaufgelösten Rest geben.[7] Wenn das der Fall ist, was bedeutet das eigentlich?

Jan-Holger Kirsch: Die Narrativität interessiert uns als Historiker ja auch besonders. Was wäre Ihrer Meinung nach aus soziologischer Perspektive eine adäquate Form, über Gewalt zu schreiben?

Da sind mehrere Begriffe im Schwange: Gewaltraum, Gewaltkultur. Ich habe damit verschiedene Probleme. In der Soziologie ist es schwierig, Gewaltkultur wirklich dingfest zu machen. Mein Problem bei diesen ganzen Versuchen ist (und da versuche ich jetzt ein Argument von Paul Ricœur stark zu machen): Es gibt tote und lebendige Metaphern. In der Soziologie, die von Gewaltkultur und von Gewaltraum redet, ist mittlerweile eine tote Metapher am Werk. Also, man betrachtet Gewaltphänomene und sagt dann: Ich kann diese jetzt nicht anders erklären, deshalb ist von einem Gewaltraum auszugehen, oder von einer Gewaltkultur. Und das soll letztendlich die Erklärungsleistung sein. Es wird gar nicht mehr darüber reflektiert: Wie muss ich mir das eigentlich vorstellen? Metaphern sind immer Übersetzungshilfen, und auch Metaphern erklären irgendetwas. Aber sobald ich die Frage nach der Erklärungsleistung aufgegeben habe, weil ich immer schon das Stichwort Gewaltraum, Gewaltkultur etc. habe, ist die Metapher mehr oder minder am Ende. Von daher ist mein Plädoyer, eher zu sagen: Wir müssen mehr herumspielen mit verschiedenen Meso- oder Makrokonzepten, uns immer bewusst sein, wie problematisch die sind, und für den jeweiligen Kontext die jeweiligen Meso- oder Makrokonzepte ausprobieren. Es gibt keine Lösung, die für alle Fälle passt.

Thomas Schaarschmidt: Welche Möglichkeiten sehen Sie, Makro- und Mikroebene stärker miteinander zu verzahnen?

Mein Vorschlag, der aus der Lektüre zu Massakern kommt, wäre: Wenn ich mir Gewaltereignisse anschaue, dann tut eine historische oder soziologische Forschung gut daran, den Institutionenbegriff mit in den Blick zu nehmen. Das ist zwar schwierig, da er zweifelsohne sehr schwammig ist. Aber ich glaube, der Institutionenbegriff hat mindestens zwei Vorteile. Einer ist, dass Institutionen Handeln entsituieren. Wenn man weg will von der rein situationistischen Gewaltforschung, bietet sich der Institutionenbegriff an. Wenn wir über Massaker reden, müssen wir uns als Soziologen nicht in erster Linie auf die Motive zum Beispiel der Polizeibataillonsleute konzentrieren, sondern erst einmal genau analysieren, um welche Institutionen es sich hier handelt. Worin besteht zu einer bestimmten Zeit eigentlich der Unterschied zwischen der Polizei und dem Militär? Ein anderer begrifflicher Vorteil ist: Institutionen sind in modernen Gesellschaften zumeist (nicht immer) klar voneinander differenziert. Aber es gibt Situationen wie den Krieg, wo plötzlich Entdifferenzierungen stattfinden. Diese führen häufig zu enormen Handlungsspielräumen von einzelnen Personen, sodass die Handlungslogik der Institution aufgehoben wird. Mit einer institutionalistischen Herangehensweise könnte man zunächst einmal sehr weberianisch-typologisch fragen: Was ist die Handlungslogik einer Armee im Unterschied zur Handlungslogik einer Polizei? Wie stark haben sich in der historischen Realität diese Logiken ausbuchstabiert? Ich glaube, das ist in der Soziologie der adäquate Zugang. Klingt sehr orthodox-weberianisch, obwohl ich mich selber nicht als Weberianer bezeichnen würde! Aber man tut gut daran, Handlungslogiken in Institutionen zunächst einmal zu rekonstruieren und dann zu schauen: Wann treten die auseinander? Wann gibt es enorme Handlungsspielräume für bestimmte Leute? Wann werden Institutionen auch umfunktioniert?

Jan-Holger Kirsch: Können Sie zur Temporalität vielleicht noch etwas mehr sagen? Es handelt sich dabei ja ebenfalls um einen Grundbegriff der historischen Forschung.

Wenn man bestimmte Gewaltereignisse anschaut, hat man es mit unterschiedlichen Temporalitäten zu tun. Man wird mit der Temporalität derjenigen men on the spot konfrontiert, die möglicherweise Handlungsdruck verspüren. Man hat es aber auch mit der Temporalität der Bürokratie zu tun, die eine ganz eigene ist. Und man hat zu prüfen, wie diese unterschiedlichen Zeitverläufe und Zeiterfahrungen ineinanderspielen, um zu bestimmten Ergebnissen zu kommen. Solche Fragen sind auch zentral, wenn wir Konfliktereignisse wie den Hamburger G20-Gipfel vom Juli 2017 analysieren: Was machen die Polizisten vor Ort? Was macht die Polizeileitung? Was macht das Internet momentan? Welche Tweets laufen? Da kriegt man natürlich viel mehr raus als jeder Historiker, der auf herkömmliche schriftliche Quellen angewiesen ist.

Straßenszene bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg, 7. Juli 2017 (picture alliance/NurPhoto/Maciej Luczniewski)
Straßenszene bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg, 7. Juli 2017
(picture alliance/NurPhoto/Maciej Luczniewski)
Zu den Dynamiken der Gewalt im Kontext des G20-Gipfels siehe die umfangreiche Dokumentation des Forschungsprojekts Mapping #NoG20, an dem das Hamburger Institut für Sozialforschung beteiligt war.

Winfried Süß: Du bist einer der ganz wenigen Soziologen, die in beiden Welten der Gewaltforschung zu Hause sind, und mit den Themen sehr nah dran an dem, was Historiker machen. Was können Historiker von Sozialwissenschaftlern lernen, und was können umgekehrt Sozialwissenschaftler von Historikern lernen, außer dass sie sich für den gleichen Gegenstand in unterschiedlichen temporalen Konfigurationen interessieren?

 

Ich würde die disziplinäre Differenz ohnehin weniger betonen, als andere Leute es tun. Eine Soziologie, die keine Rückbindung an die Vergangenheit hat, ist eine relativ witzlose Angelegenheit. Da würde ich immer das kritisch gemeinte Wort von Norbert Elias stark machen, das in etwa lautet: die Flucht der Soziologen in die Gegenwart. Natürlich ist der Wille zur Typisierung und Verallgemeinerung bei Historikern weniger ausgeprägt. In der Soziologie ist er extrem stark. Gleichzeitig würde ich aber auch sagen, dass zumindest bei den klügeren Leuten in der Soziologie momentan so etwas wie ein Krisenbewusstsein erkennbar ist, weil diese ganzen Behauptungen über vermeintlich robuste Prozesse erschüttert sind – Arbeitsbegriffe, von denen immer mehr Soziologen nun selbst sagen, das sind eigentlich historische Begriffe. Also der Säkularisierungsbegriff wird massiv zerbröselt – Säkularisierung war vor 20 Jahren noch für jede Soziologin, für jeden Soziologen eine Tatsache, an der niemand vorbeikam. Wenn wir über Differenzierung reden, ist es genau das gleiche. Die Soziologen glauben zwar immer noch, moderne Gesellschaften als differenzierte Gesellschaften anschauen zu können. Ich würde aber sagen, selbst im Westen und bei uns in der Gegenwart passieren die interessantesten Dinge da, wo sich die Wertsphären oder Subsysteme überschneiden. Die Frage ist ja: Wie getrennt sind sie denn eigentlich? Es ist wie ein Mantra der Soziologen, das lautet: Moderne Gesellschaften sind immer differenzierte Gesellschaften. Ich glaube, das trägt mittlerweile nicht mehr. Das sind Mythen, die in der Disziplin gepflegt werden. Ich würde sagen, in der Soziologie sind diejenigen Leute am interessantesten, die tatsächlich auf die Geschichtswissenschaft zugehen oder komparativ arbeiten, die auch jenseits der deutschen oder europäischen Grenzen schauen, was denn eigentlich – wenn es das gibt – ein Individuum ist, was Säkularisierung dort heißt oder eben nicht heißt, was Differenzierung eben dort bedeutet.

Thomas Schaarschmidt: Was Sie bei diesen Prozessbegriffen gerade beschrieben haben, hat in der Regel ja eine stark teleologische Perspektive. Diese gibt es bei anderen Begriffen wie »Transformation« auch, bei denen wir ungefähr eine Vorstellung haben, wo es hingeht. Historiker beanspruchen manchmal, genau solche Perspektiven neu zu kontextualisieren und infrage zu stellen. Eine dieser Perspektiven ist das Narrativ der Zivilisierung hin zur Gewaltabkehr. Wie kann man das einordnen?

Ich habe eine Rezension geschrieben über Richard Bessels Buch »Violence. A Modern Obsession«.[8] Ich finde, dass er einerseits merkwürdig optimistisch ist, aber andererseits hat er mehrere Punkte, die höchst bedenkenswert sind. Bessel spricht davon, dass die Vorstellung, wir müssten besonders aufmerksam gerade auf Gewalt schauen, davon herrührt, dass wir in extrem friedlichen Gesellschaften leben. In Gesellschaften, wo Mord und Totschlag gang und gäbe sind, ist Mord keine Nachricht. Und natürlich, wir »im Westen« sind besessen von dieser Gewalt. Die Aspekte, die er nennt, wie Lerneffekte aus den beiden Weltkriegen, ökonomische Prosperität seit 1945 in vielen Teilen Westeuropas, das staatliche Gewaltmonopol, die Gleichberechtigung, die ja auch die Rollendifferenzierungen aufgehoben hat – ich glaube schon, dass man bestimmte Bedingungen ausmachen kann, die letztendlich dazu geführt haben, dass wir in relativ »zivilisierten« Gesellschaften leben. Aber was ich nicht ganz so optimistisch sehen würde wie Bessel: Wer garantiert eigentlich, dass das so weitergeht? Wir erleben ja momentan, dass bestimmte Phänomene, von denen wir dachten, sie seien nur im Globalen Süden vorhanden, immer stärker zu uns kommen. Wenn man die Anthropologen fragt, die Comaroffs »Theory from the South« folgen,[9] dann ist deren Argument: Wir lernen den Kapitalismus am besten kennen, wenn wir in die Peripherie schauen; und wartet mal ab, bis diese Phänomene uns erreichen. Das ist ein wichtiger Punkt, den man ernstnehmen muss. Ein weiterer zentraler Aspekt: Wir erleben momentan, dass bestimmte Parteien hier in Deutschland Lerneffekte zunichtemachen wollen. Alexander Gaulands Rede von der NS-Vergangenheit als »Vogelschiss« ist auch ein Versuch, Konflikte wieder führbar zu machen. Und schließlich sehen wir momentan, wie fragil die Europäische Union und der amerikanische Schutzschirm sind. Aus all diesen Gründen kann ich die Vorstellung schlichtweg nicht teilen, wir würden immer weiter in der Eliasʼschen Zivilisierungsperspektive leben, die auch bei Bessel im Hintergrund eine Rolle spielt. Ich habe eher große Sorgen, dass es sehr schnell wieder zu Zivilisationsbrüchen kommen kann, die man sich vielleicht gar nicht so schnell vorstellen konnte – wie im Jugoslawienkrieg, der viele (auch mich) sehr überrascht hat.

Peter Ulrich Weiß: Um bei Ihrer Zeitdiagnose zu bleiben: Wenn Sie sich die Gesellschaft der Bundesrepublik in den vergangenen 20 Jahren anschauen, in welchen Bereichen würden Sie eine Zunahme von Gewalt verzeichnen, wo eher eine Abnahme oder ein konstant niedriges Niveau?

Vermutlich wird man doch wohl sagen können, dass fremdenfeindliche Gewalt massiv zugenommen hat. Dagegen sehe ich nicht, dass die Bundesrepublik ein großes Problem mit der sonstigen Gewaltkriminalität hat – die Mordraten, die ja üblicherweise als die besten Daten gelten für den Vergleich von Gewalt in unterschiedlichen Gesellschaften, sind sehr niedrig. Da ist jetzt Deutschland im Kontrast zur öffentlichen Wahrnehmung kein Land, in dem Mord und Totschlag herrschen, sondern eine sehr stabile, friedliche Gesellschaft. Aufgrund der Erfahrungen der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus wurde sehr stark auf eine Entmilitarisierung der Polizei hingedrängt. Das war nicht in allen europäischen Ländern der Fall, wo es – wie in Spanien – oft mehrere unterschiedliche Polizeien gab, wie die Policía Nacional und dann eben auch die stärker militarisierte, zum Teil kasernierte Guardia Civil. Für die Bundesrepublik Deutschland trifft Bessels Argument wohl zu, dass zwei wichtige Faktoren wirksam wurden: zum einen die Lerneffekte, die ja, was man nicht verschweigen sollte, keine genuin deutschen Erfindungen sind, sondern zunächst von den Alliierten aufoktroyiert wurden. Zum anderen die enorme ökonomische Prosperität. Beides wirkte Hand in Hand. Das förderte diese Art von zivilem Umgang. Man konnte durch Gewalt in Zeiten der starken eigenen Prosperität eigentlich nur verlieren. Die Frage ist, ob das so bleibt. Was bedeutet das eigentlich für die Gewaltabkehr? Gibt es mittlerweile Gruppen, die nicht mehr wirklich rational sagen können: Gewalt ist für mich etwas, was überhaupt nicht in Frage kommt, weil ich dann alles verlieren würde? Natürlich ist Gewalt nie so rational begründet, aber man kann politische Programme auch so stricken. Wir erleben es ja momentan bei den Rechten, die sagen: Gewaltlosigkeit ist nichts, was an sich erstrebenswert ist. Wenn man aber massiv etwas zu verlieren hat, wird es schwieriger, so etwas zu behaupten.

Thomas Schaarschmidt: Uns hat immer wieder irritiert, dass das Gewaltniveau in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen abnimmt, in anderen zunimmt. Schaut man auf den bundesdeutschen Umgang mit Militär, so sehen wir eine relativ starke Zivilisierung des Militärs zu Zeiten, in denen innerfamiliäre Gewalt durchaus noch eine Rolle spielt. Auch ausländerfeindliche Gewalt hat stark zugenommen – Sie sprachen es eben schon an. Betrachtet man die Entwicklungen auf diesen verschiedenen Ebenen, ergibt sich die Frage: Wie passt das zusammen?

Ich weiß gar nicht, ob es zusammenpassen muss. Die Vorstellung, dass alle Bereiche einer Gesellschaft immer im Gleichschritt vorangehen, ist meines Erachtens falsch. Denn damit würde man ja unterstellen, dass diese unterschiedlichen Teile funktional miteinander verbunden sind. Die Gesellschaft als funktionales Ganzes zu begreifen ist typisch modernisierungstheoretisch gedacht.

Peter Ulrich Weiß: Inwiefern stellt die Friedensforschung eine analytische Referenz für die Gewaltforschung dar, beziehungsweise für die Erforschung von Gewaltursachen? Sind das im Prinzip mehr oder weniger Vorder- und Rückseite ein und derselben Problematik?

 

Aus der Perspektive der Disziplinen, die daran in erster Linie beteiligt sind, nämlich der Politikwissenschaft und der Soziologie, kann ich für die Soziologie sagen, dass das nicht immer wirklich Fleisch vom Fleische des Fachs war. Es gab schon diese Vorstellung: Die Soziologie ist etwas rein Wissenschaftliches, nicht Normatives, während die Konflikt- und Friedensforschung sozusagen einen normativen Kern hat, nämlich Frieden zu wahren und zu stiften. Das macht vermutlich die Kommunikation zwischen beiden Bereichen nicht ganz einfach. Ob eine stärkere Integration von Konflikt- und Friedensforschung einerseits, Soziologie und Politikwissenschaft andererseits denkbar wäre, ist schwer zu sagen. Momentan deuten nur ganz wenige Indikatoren darauf hin, dass es zu einer Annäherung dieser zwei Richtungen kommen könnte. Ich glaube das schlichtweg nicht.

Winfried Süß: Kommen wir noch einmal auf die Gewalteinhegung und Gewaltabkehr zurück. Im Gespräch ist ja deutlich geworden: Gewaltforschung ist ein boomender Wissenschaftsmarkt, in den viel intellektuelle Energie hineinfließt. Unser Eindruck ist, dass Forschungen zur Gewalteinhegung und Gewaltabkehr, also dazu, was in diesen Gewaltprozessen am Ende steht, deutlich weniger Aufmerksamkeit finden. Gibt es eine Erklärung dafür? Gerade vor dem Hintergrund, dass Gewalteinhegung ja das eigentlich Wünschenswerte ist. Die zweite, damit verbundene Frage: Welches analytische Potential kann darin liegen, nicht nur Prozesse der Gewaltgenese und des Gewaltverlaufs zu untersuchen, sondern besonders die Phase der Gewaltabkehr als Fokus zu nutzen?

Wir haben in der Forschungsgruppe Makrogewalt am Hamburger Institut für Sozialforschung eine Postdoktorandin, eine Ethnologin, die sich die Frage stellt: Was ist überhaupt Frieden? Sie vergleicht Nordirland und Bosnien. Welche Gewaltstrukturen sind auch und gerade in Friedensprozessen zu beobachten? Es gibt zwar einen mehr oder minder offiziellen und von allen sanktionierten Friedensschluss. Aber gleichzeitig geht die Gewalt weiter: kriminelle Gewalt, Anschläge, Gewalttaten von Gruppen, die nicht mit dem Friedensprozess einverstanden sind. Und dann geht es natürlich darum, wie ignoriert man diese Gewalt, um überhaupt noch vom Frieden reden zu können? Wer schafft es, wie und wem zu erzählen, es sei jetzt Frieden? Und zwar plausibel zu erzählen, ohne dass die Gegenerzählung dominant wird: Es ist aber doch eigentlich noch Krieg. Das ist eine ziemlich interessante Frage, weil da sehr unterschiedliche Akteure in den Blick kommen. Warum das extrem wichtig ist, hängt damit zusammen, dass wir – in Deutschland oder vielleicht in Westeuropa – so tun, als würden wir den Normalfall darstellen. Wenn man sich auf der Welt umschaut, wie viele Regionen es mittlerweile gibt, in denen vor kurzem Kriege stattfanden und wo immer die Frage gestellt werden kann, was denn eigentlich Frieden ist, dann kommt man relativ schnell zu dem Ergebnis: Wir sind nicht die Normalität, sondern die Normalität ist eigentlich die Post-Konflikt-Gesellschaft. Deswegen ist die Intuition des Themenheftes – die Frage, wie hegt man Gewalt ein oder wie kehrt man der Gewalt den Rücken – die richtige, aber auch extrem schwierig zu beantworten.

Vielen Dank, Herr Knöbl, für das Gespräch.

Transkription: Sören Drobniewski,
Lektorat: Heftherausgeber und Redaktion

Anmerkungen:

[1] Anthony Giddens, The Nation-State and Violence, Berkeley 1985.

[2] Wolfgang Knöbl, Polizei und Herrschaft im Modernisierungsprozeß. Staatsbildung und innere Sicherheit in Preußen, England und Amerika 1700–1914, Frankfurt a.M. 1998.

[3] Alf Lüdtke, »Gemeinwohl«, Polizei und »Festungspraxis«. Staatliche Gewaltsamkeit und innere Verwaltung in Preußen, 1815–1850, Göttingen 1982.

[4] Randall Collins, Violence. A Micro-Sociological Theory, Princeton 2008; dt.: Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie. Aus dem Englischen von Richard Barth und Gennaro Ghirardelli, Hamburg 2011.

[5] Elias Canetti, Masse und Macht, Gesammelte Werke Bd. 3, München 1994 (zuerst Hamburg 1960).

[6] Axel T. Paul/Benjamin Schwalb (Hg.), Gewaltmassen. Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt, Hamburg 2015.

[7] Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, Werke in neun Bänden, Bd. 4, hg. von Ingrid Belke unter Mitarbeit von Sabine Biebl, Berlin 2009 (zuerst New York 1969, dt. Frankfurt a.M. 1971).

[8] Richard Bessel, Violence. A Modern Obsession, London 2015; siehe dazu Wolfgang Knöbl, in: H-Soz-Kult, 19.1.2017, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24747>.

[9] Jean und John L. Comaroff, Theory from the South. Or, How Euro-America is Evolving Towards Africa, Boulder 2012; dt.: Der Süden als Vorreiter der Globalisierung. Neue postkoloniale Perspektiven. Aus dem Englischen von Thomas Laugstien, Frankfurt a.M. 2012.

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