Handlungsspielräume im Nationalsozialismus

Lebensgeschichten von Retterinnen und Rettern während des Holocaust

Anmerkungen

Beate Kosmala/Revital Ludewig-Kedmi, Verbotene Hilfe. Deutsche Retterinnen und Retter während des Holocaust, Buch und CD-ROM, Verlag Pestalozzianum an der Pädagogischen Hochschule Zürich und Auer Verlag, Donauwörth 2003. Systemvoraussetzungen: (Windows) ab Windows 98, empfohlen: Pentium III, Windows XP; (Macintosh) ab Mac OS 9.1, empfohlen: G4-Prozessor, Mac OS-X.

 
CD-ROM „Verbotene Hilfe“ (Screenshot)
CD-ROM „Verbotene Hilfe“ (Screenshot)
 

„Unschuldige Menschen sollten nicht wegen der Nazi-Verbrecher ihr Leben geben müssen.“ Mit diesen knappen Worten begründet die Köchin Martha Wiroth aus der hessischen Wetterau ihre Hilfe für jüdische Nachbarn, denen sie Lebensmittel zusteckte oder sogar Zuflucht gewährte. Sie erzählte dies dem Politologen Manfred Wolfson, der in den 1960er-Jahren als Erster systematisch die Beweggründe von Deutschen untersuchte, die in der Zeit des Nationalsozialismus den Mut hatten, verfolgten Jüdinnen und Juden zu helfen. Wolfson, selbst Jude, war 1939 gemeinsam mit seinem Bruder dank der Hilfe einer jüdischen Hilfsorganisation aus Deutschland entkommen und in die USA geflohen. Nach dem Krieg führte er als „Chief Research Analyst“ unter anderem während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse Recherchen über das Herrschaftssystem der Nationalsozialisten durch. Später richtete sich sein wissenschaftliches Interesse nicht nur auf Täter und Mitläufer, sondern auch auf jene, die jüdischen Nachbarn halfen und sie vor dem Zugriff der Nazis schützten, um so die drohende Deportation in die Vernichtungslager zu verhindern. Im Rahmen eines Forschungsprojektes führte Wolfson, der sich in engem Austausch mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vom Frankfurter Institut für Sozialforschung befand, zwischen 1965 und 1967 Gespräche mit 70 Retterinnen und Rettern. Aufgrund unzureichender Forschungsbedingungen war es Wolfson leider nicht möglich, diese Studie und einen zusätzlich geplanten pädagogischen Teil zu vollenden.

Beate Kosmala und Revital Ludewig-Kedmi haben sich für die vorliegende Publikation - CD-ROM und Buch - mit dem von Wolfson erhobenen Material auseinandergesetzt, um genau diesen pädagogischen Teil zu schaffen. Beide sind hierfür wissenschaftlich hervorragend ausgewiesen. Kosmala ist Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin, ist am dortigen Forschungsprojekt „Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland“ beteiligt und Mitherausgeberin des Bandes „Überleben im Untergrund. Hilfe für Juden in Deutschland 1941-1945“.1 Die diplomierte Psychologin Ludewig-Kedmi hat aus der psychosozialen Beratung einschlägige Erfahrungen mit Holocaust-Überlebenden und arbeitet zudem an einem Forschungsprojekt an der Universität St. Gallen, das sich unter dem Titel „Die politische Ethik von deutschen Rettern verfolgter Juden 1938-1945“ der Rekonstruktion und der Sekundäranalyse von Wolfsons unvollendeter Befragungsstudie widmet.

Aus der Zusammenarbeit sind zwei pädagogische Medien hervorgegangen, die nach Angaben der Autorinnen sowohl als Unterrichtsmaterial für die Schulfächer Geschichte, Ethik und Religionslehre ab etwa dem 8. Schuljahr wie auch zur außerschulischen Bildungsarbeit geeignet sein sollen. Im Zentrum des Interesses steht hier die CD-ROM. Sie enthält neun Biografien von Frauen und Männern, die Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus halfen und zum Teil Zuflucht gewährten oder die Flucht ermöglichten, sowie eine Geschichte einer Geretteten.

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In der Aufbereitung der einzelnen Fälle wird ein notwendiger doppelter Kontext hergestellt: Die Hilfe für die jüdischen Nachbarn wird nicht isoliert beschrieben, sondern im jeweiligen lebensgeschichtlichen Zusammenhang präsentiert. Den Autorinnen ist es gelungen, die von Wolfson anonymisierten Interviewpartnerinnen und -partner zu ermitteln. So ist es möglich geworden, persönliche Dokumente, Fotos, Akten, Einträge in Lexika und Darstellungen in Publikationen mit heranzuziehen. Darüber hinaus haben Kosmala und Ludewig-Kedmi die erzählten Geschichten in einen historischen Kontext gestellt. Die zusammengetragenen Dokumente werden auf der CD-ROM ergänzend zu den Portraits ebenfalls präsentiert. Ihnen kommt dabei sehr viel mehr als nur eine illustrative Funktion zu.

Unter den Überschriften „Hintergründe zum Thema“ und „Wolfsons Retterforschung“ bietet die CD-ROM historische Erläuterungen. Eine Zeittafel und ein Lexikon runden dieses Angebot ab. Die Lexikonbegriffe sind im Text als Links gekennzeichnet, die jeweils unmittelbar zum Lexikoneintrag führen. Auch vertiefende Literatur und Lesetipps sowie eine Linksammlung werden dem User offeriert. Ansonsten kann die CD-ROM ähnlich wie ein Buch gelesen werden. Nach der Entscheidung für ein biografisches Portrait wird dieses chronologisch gelesen - was auch inhaltlich sinnvoll ist. Bei Bedarf können die ergänzenden Dokumente angesehen oder die einzelnen Lexikoneinträge angesteuert werden.

Wie bereits erwähnt, sind CD-ROM und Buch vor allem für pädagogische Zwecke gedacht. Bei der Abfassung aller Texte wurde viel Wert auf Übersichtlichkeit gelegt. Die historischen Darstellungen sind knapp und leicht verständlich gehalten; auch komplizierte Sachverhalte sind schlüssig erklärt und wissenschaftliche Erkenntnisse behutsam integriert. Auch neuere Arbeiten wurden einbezogen - so etwa Ergebnisse aus der von Harald Welzer geleiteten Mehrgenerationenstudie zum familiären Erzählen über den Nationalsozialismus2 und Ergebnisse der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg“ (UEK). Die einzelnen Portraittexte sind zudem geschickt und stringent komponiert, so dass sich mit ihnen leicht zu einzelnen Fragestellungen arbeiten lässt. Bei der Entwicklung solcher Fragestellungen im Unterricht hilft die im Buch vorgenommene Auflistung wichtiger Aspekte der einzelnen Portraits.

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Vor dem Hintergrund, dass die CD-ROM besonders für die Arbeit mit Jugendlichen bestimmt ist, überraschen Design und Ästhetik. Die Hintergrundfarbe im Hauptmenü ist ein schillernder Blauton; der Hintergrund selbst ist nicht gestaltet. Am unteren Seitenrand befindet sich die Menüleiste, am oberen eine Leiste mit den Namen der Retterinnen und Retter. Im Zentrum des Bildschirms sind die Fotografien dieser Personen etwas lustlos arrangiert. Die Gestaltung der Menüseiten wirkt ebenfalls wenig geglückt. Das Textfeld (oft mit einem Foto oder Dokument ergänzt) befindet sich in der Mitte des Bildschirms und füllt lediglich einen Teil des verfügbaren Platzes aus. Der Rest des Bildschirms und damit der beinahe überwiegende Teil ist schwarz. Es ist fraglich, ob der User - ganz gleich ob Jugendlicher oder Erwachsener - so zu einer Beschäftigung mit dem Medium und seinen Inhalten ermuntert wird. Seriosität und Ernsthaftigkeit eines Themas müssen nicht zwangsläufig durch dunkle Farben in Kombination mit einer tristen und biederen Ästhetik ausgedrückt werden. Dass es anders geht, beweisen beispielsweise die CD-ROM des Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma zum nationalsozialistischen Völkermord an Sinti und Roma sowie die CD-ROM der Gedenkstätte Sachsenhausen zum Häftlingsalltag im KZ Sachsenhausen.3

Ein technisches Detail trübt die Freude an der Beschäftigung mit der hier besprochenen CD-ROM: die Qualität der Hörbeispiele. Der Ton ist zuweilen schrill und übersteuert, was vielleicht auf das Alter der Aufnahmen zurückzuführen ist. Eine Möglichkeit, die Lautstärke über eine Menüfunktion zu regeln, besteht nicht. Erst eine anspruchsvolle Audioanlage - allerdings in den seltensten Fällen mit einem PC verbunden - ermöglicht eine angenehme Hörqualität. Positiv ist in diesem Zusammenhang jedoch anzumerken, dass das Medium auch als konventionelle CD abgespielt werden kann. Das Begleitbuch, in dem die kompletten schriftlichen Texte der CD-ROM beinahe ausnahmslos abgedruckt sind (abgesehen vom Lexikon), enthält ein Verzeichnis der einzelnen Hör-Sequenzen, so dass die Möglichkeit besteht, die entsprechenden Beispiele begleitend zur Lektüre des Buches abzuspielen. Da für diese Rezension lediglich eine Beta-Version zur Verfügung stand, die technische Probleme aufwies, bleibt zu hoffen, dass die technische Qualität des Produkts inzwischen verbessert worden ist (so ließ sich die CD-ROM nicht auf jedem Rechner abspielen, obwohl die angegebenen Systemvoraussetzungen erfüllt waren). Ärgerlich sind darüber hinaus kleinere Patzer wie unterschiedliche Zahlenangaben in Buch und CD-ROM.

Das Eindrucksvollste an der CD sind fraglos die Hörbeispiele. Neun sehr unterschiedliche Retterinnen und Retter kommen hier zu Wort. Sie stammen aus verschiedenen Milieus und haben aus sehr unterschiedlichen Situationen heraus gehandelt. Alle berichten mit großer Nüchternheit und gänzlich ohne Pathos über ihr Handeln - wohl wissend, in welche Gefahr sie sich und andere damit gebracht haben, aber gerade so, als habe es für sie keine Alternative gegeben. Wir erkennen, dass es im Nationalsozialismus durchaus Handlungsspielräume gab, die couragierte Menschen genutzt haben, um andere zu schützen. Wie komplex die Situationen waren, in denen sich die Akteure befanden, wird beispielsweise dadurch deutlich, dass zum einen Menschen zu Wort kommen, die in der NS-Gesellschaft wohlintegriert lebten, und zum anderen auch solche Menschen, die selbst eher zur Gruppe der Opfer gehörten. Imponierend ist die oben zitierte Martha Wiroth. Nachdem ihr eigener Ehemann Opfer der Euthanasie geworden war, streckte sie ohne Zögern und aus klarer Überzeugung heraus anderen die Hand zur Hilfe entgegen. Diese Schilderungen ermöglichen einen ungewohnten und kaum bekannten Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus. Es sind Lehrstücke, die eine große Wirkung haben, ohne vordergründig belehrend zu sein - geeignet nicht nur für Jugendliche. Schade ist allerdings, dass dieses fesselnde Thema so wenig ansprechend „verpackt“ wurde.
 

Anmerkungen:

1 Beate Kosmala/Claudia Schoppmann (Hg.), Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit, Bd. 5: Überleben im Untergrund. Hilfe für Juden in Deutschland 1941-1945, Berlin 2002; siehe dazu die Rezension von Jana Leichsenring: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-1758.

2 Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Torsten Koch, Frankfurt a.M. 2002.

3 Zu letzterer vgl. Dietmar Sedlaczek, „Gegen das Vergessen. Häftlingsalltag im KZ Sachsenhausen 1936-1945“. Rezension der CD-ROM, in: Gedenkstätten-Rundbrief Nr. 110/2002, S. 39f.

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