Zeitgeschichte aus Spuren ermitteln

Ein Plädoyer für ein Denken vom Objekt aus

Anmerkungen

Zeitgeschichte - verstanden als Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts - ist im Bereich der Ausstellungen in der Regel darauf angewiesen, dass es zu dem gewählten Thema Objekte gibt. Das gilt für Sonderausstellungen ebenso wie für die Teile einer Dauerausstellung. Ein eigener Ausstellungstyp sind solche Veranstaltungen, die - wie vergrößerte Bücher - einen Denkraum schaffen, in dem man entlang der Zeitleiste Ereignisse kennenlernen kann. Im Gegensatz zum Buch sind sie soziale Orte - Plätze, an denen Menschen miteinander ins Gespräch kommen können, an denen sie sich gemeinsam etwas intellektuell aneignen. Wie für eine gute Unterrichtsstunde sollte dabei ein Medienwechsel stattfinden zwischen Texten, vergrößerten Fotografien, Filmen - seien es Wochenschauen oder mitgeschnittene Reden von Politikern, Dokumentar- oder Spielfilme.

Zeitgeschichtliche Ausstellungen mit dokumentarischem Charakter sind häufig Wanderausstellungen. Deshalb ist der Anteil der dreidimensionalen Objekte gering; oft fehlen sie völlig. Technisch sind solche Ausstellungen logistischen Prioritäten untergeordnet. Methodisch folgen sie den Gesetzen eines Lehrbuches: Die vorgestellten Fakten müssen wissenschaftlich gesichert sein, doch ebenso wichtig ist die Vermittlung. Bilder, meist Fotografien, spielen eine hervorragende Rolle, aber meist illustrieren sie nur den Text, haben die Funktion von Belegen. In viele zeitgeschichtliche Ausstellungen schleicht sich zudem die Auffassung von der fotografischen Kamera als einem Augenzeugen ein. Der appellative Charakter von Fotos ist besonders stark - das hat die erste Fassung der „Wehrmachtsausstellung“ plastisch belegt. Der Satz „Partisanen wurden erhängt“ ist viel erträglicher als die Fotografie von Erhängten. Das wird gern damit begründet, dass ein Bild mehr als tausend Worte sage. Doch ein Bild sagt nichts; es zeigt etwas. Und anders als bei verbalen Aussagen ergreift ein Bild die Betrachtenden direkt auf der symbolischen Ebene. „Sagen“ unterstellt ein Nacheinander in der Zeit, signalisiert eine narrative Struktur. Das Bild ist jedoch mit allen seinen Komponenten sofort präsent. Die mit den Augen wandernde Betrachtung ergründet den anfänglichen Schrecken oder das anfängliche Wohlgefallen, differenziert und vertieft.1

Zeitgeschichtliche Ausstellungen, die mit Texten und Fotos auf Stellwänden arbeiten, sollten im Idealfall - mindestens mit einem Beispiel - zeigen, dass auch bei Fotografien das Wie genauso wichtig ist wie das Was. Dazu ist gleichermaßen der Kontext des Fotos zu klären wie der Kontext des Ereignisses. Bei einem Foto aus dem Zweiten Weltkrieg etwa ist in jedem Einzelfall zu fragen, wer es in welchem Zusammenhang hergestellt hat - ob es aus einer deutschen Propagandakompanie stammt oder von einem sowjetischen Fotografen, ob es in dem privaten Album eines Soldaten gefunden oder etwa in einer Illustrierten gedruckt wurde. Selbstredend trifft dies alles nicht nur für Fotos zu, sondern für jedes andere Bildmaterial - und ebenso für dreidimensionale Objekte. Aber Fotos sind nun einmal das beliebteste Medium für zeitgeschichtliche Ausstellungen. So gibt es zwei Möglichkeiten, Bilder der Selektion auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau 1944 zu zeigen: das bekannte Album der SS oder aber ein Buch mit Zeichnungen, das in der Mauer des Krankenbaus in Birkenau gefunden worden ist.2 Von der Tagespresse über Ausstellungen bis hin zu Buchpublikationen werden Fotos aus dem SS-Album gezeigt. Die Zeichnungen, die ebenfalls seit langem publiziert vorliegen, sind weniger bekannt und scheinen als Dokument nicht zuverlässig genug, obwohl die beliebtere Bildserie für die SS gemacht wurde, die andere das Vermächtnis von Gefangenen darstellt. Wer Fotos zeigt, vermeint die Sache selbst zu zeigen; wer Fotos anschaut, vermeint die Sache selbst anzuschauen. Dass dies ein Irrtum ist, weiß indes jeder und jede, der oder die Fotos aus dem Verkehr zieht, weil er oder sie „nicht gut getroffen“ sei - was bedeutet, dass der kurze Moment nicht für das Ganze stehen solle, dass die Person von sich sagt, sie sehe grundsätzlich anders aus, als in diesem Bruchteil einer Sekunde. Auf Fotos in zeitgeschichtlichen Ausstellungen ist dies übertragbar.

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Wenn wir uns an den Formen der Topik aus Johann Gustav Droysens „Historik“ orientieren, so sind diese dokumentierenden Ausstellungen als „erzählende Darstellungen“ zu betrachten.3 Sie beginnen mit Voraussetzungen, mit der Schilderung der Lage zu einem gewissen Zeitpunkt, um daraus die Ereignisse zu entwickeln, die das Kernthema der Präsentation sind. Die Bilder suggerieren, man könne in dem Erzählfluss die Atmosphäre des Geschehens besser erfassen, man werde zum Teilhabenden, wie mit einem Time-Tunnel in die Vergangenheit zurückversetzt.

Demgegenüber wäre die museale Ausstellung, die um Objekte zentriert ist, zentriert sein muss, mit Droysen als „untersuchende Darstellung“ zu bezeichnen. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist die Jubiläumsausstellung zum 100-jährigen Bestehen des Ruhrlandmuseums in Essen aus dem Jahr 2004 mit dem Titel „Die Gegenwart der Dinge“.4 Unter den Kapitelüberschriften „alt - selten - wertvoll - fremd - schön“ wurden darin zahlreiche Objekte aus den verschiedenen Abteilungen des Hauses gezeigt - der Geologie, Archäologie, Geschichte und Fotografie. Andere Sammlungen wie die Grafik oder die Ethnologie waren ebenfalls vertreten. Ein Jubiläum, das 100 Jahre zurückblickt, zielt auf die Gegenwart, befragt die Geschichte auf das hic et nunc hin. So wurde ein Gegenstand ausgestellt, der Brandspuren von den Bombenangriffen der Kriegszeit trug, eine Cola-Flasche, die vom Wind aufgeraut worden war. Allen Objekten war gemeinsam, dass sie die Gegenwart in einem bestimmten Zustand erreicht haben, der ihnen auch noch abzulesen war. Die Objekte bezogen sich nicht auf sich selbst - die Cola-Flasche etwa als Designbeispiel einer bestimmten Zeit -, sondern signalisierten dem Betrachter die Spuren bis zum heutigen Zeitpunkt.
 

Abb. 1: Schwefel-Salmiakstufe. Halde der ehemaligen Zeche Osterfeld, Oberhausen; rezent (20. Jh.); 34 cm x 28 cm x 10 cm
(Foto: Ruhrlandmuseum Essen, Naturwissenschaftliche Sammlungen/Geologie,
ehem. Sammlung Busch, Inv.-Nr. RE 549.231.000 A 0031, 1984)

Wie so häufig im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert sind die Bedeutungen der Dinge nicht direkt zu erkennen - die Bedeutung ist in die Funktion gerutscht. Das macht ein Ausstellungsstück aus „Die Gegenwart der Dinge“ deutlich, eine Schwefel-Salmiakstufe (Abb. 1). Die zeithistorische Bedeutung dieses Exponats kann nur der mit Bergbau und Chemie Vertraute erkennen. Der Katalog erläutert: „Die kristallinen Kostbarkeiten sind beim Brand einer Halde entstanden, und die dabei ablaufenden Prozesse sind dem Ausströmen vulkanischer Gase und Dämpfe durchaus vergleichbar.“ Bis in das 20. Jahrhundert hinein sind viele Vergiftungen bekannt, die bei Menschen auftraten, die in der Nähe der Halden wohnten. Das Objekt thematisiert die eminenten Gesundheitsschäden der Zeit der Industrialisierung. Der Katalogtext versucht Anschauliches und Wissenschaftliches zusammenfassend zu deuten: „Der großen Faszination, die von den fragilen kristallinen Wuchsformen und der stark leuchtenden Farbe ausgeht, steht eine hochgradige Giftigkeit genau der Dämpfe und Gase gegenüber, die diese Schönheit entstehen ließen. In diesem Fall: The beauty is the beast.“5
 

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Abb. 2a: Walter Miehe: Die Lüneburger Stadtspitze.
Das Gemälde wurde 1945 eingerollt versteckt, 1960 wieder aufgefunden.
(Foto: Museum für das Fürstentum Lüneburg)

Ein anschauliches Beispiel dafür, dass ein Objekt - hier ein Ölgemalde - nicht auf sich selbst verweist, befindet sich im Magazin des Museums für das Fürstentum Lüneburg. Es zeigt fünf Herren in SA-Uniform um einen Tisch versammelt: Gauleiter Staatsrat Telschow, den Stellvertretenden Gauleiter Heinrich Peper, den Gauamtsleiter für Kommunalpolitik Oberbürgermeister Wilhelm Wetzel und den Kreisleiter Lüneburg-Land Adolf Heincke. Die fünfte, stehende Person ist ein namentlich nicht bekannter Adjutant. Im Hintergrund erkennen wir eine Porträtbüste Adolf Hitlers. Das Gemälde stammt von Walter Miehe, der 1939 den Ratskeller in Celle mit Szenen der Stadtgeschichte ausmalte. Das 117 cm x 178 cm große Bild ist auf Keilrahmen aufgezogen, die Oberfläche ist gesichert.
 

Abb. 2b: Detail aus 2a

Der damalige Museumsleiter hat 1985 Folgendes in Erfahrung gebracht und in einer Aktennotiz festgehalten: „Das Bild wurde nach der Brandstiftung im Stadtarchiv etwa 1960 bei den dort vorgenommenen Erneuerungs- und Umbauarbeiten in einem Hohlraum von etwa 50 cm Tiefe unter dem Fußboden aufgefunden. Dort war es, vom Rahmen gelöst und eng gerollt, offenbar in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs verborgen worden.“ Glücklicherweise hat der Oberstadtdirektor dem Museumsleiter eine Restaurierung des Bildes untersagt. So sehen wir heute senkrecht durch die gemalte Fläche die Bruchspuren verlaufen, die bei der eiligen Sicherung im Kriechkeller 1945 entstanden sind. Wäre das Bild restauriert worden, wäre seine sichtbare Geschichte verlorengegangen. Lediglich die Bemerkungen zur Provenienz im Inventarbuch hätten darauf verwiesen. Das restaurierte Bild würde nicht mehr belegen als das Aussehen der fünf Personen, und vielleicht erführe man auf einer Schrifttafel etwas über ihre Taten. So aber blickt das Publikum auf eine Ruine und fragt - untersuchend im Droysenschen Sinne -, warum ein Bild in diesem Zustand ausgestellt wird. Die Geschichte ist eine kleine Kriminalgeschichte, in die das Porträt der fünf Herren durchaus eher gehört als in eine Kunstgeschichte.
 

Abb. 3: Johann Vincenz Cissarz: Hitler, 1940/41, 1945 übermalt
(Foto: Historisches Museum Frankfurt a.M.)

Ein vergleichbares Bild befindet sich im Historischen Museum Frankfurt am Main: ein Hitlerporträt, das 1945 eiligst übermalt wurde.6 Beide Beispiele verweisen auf viele Aspekte. Einerseits wussten diejenigen, die übermalt und versteckt haben, dass die Sieger den Besitz solcher Bilder negativ bewerten würden. Andererseits waren sich die Akteure nicht sicher, ob die Porträtierten nicht doch wieder zu Amt und Würden gelangen könnten, so dass sie es vorzogen, die Bilder aufzubewahren - statt sie einfach aus dem Fenster zu werfen.

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Das Konzept, Objekte mit ihren Spuren als Dokumente der Zeitgeschichte zu konservieren, ist nicht immer einfach durchzuhalten. Oft muss bei Abwägung der Güter eine Dokumentation genügen. Das Säureattentat auf die „Nachtwache“ Rembrandts verdient kaum als historische Tat festgehalten zu werden. Schwieriger wird es schon bei der so genannten Rockeby-Venus des Diego Velasquez in der National Gallery in London. Am 10. März 1914 hatte die Suffragette Mary Richardson dem Bild mit einem Beil einige Schnitte beigebracht, um gegen die Verhaftung von Emmeline Pankhurst zu protestieren, die tags zuvor eingekerkert worden war. Der Kampf dieser klugen, mutigen und kreativen Frauen für die Menschenrechte würde durchaus ein solches Denkmal verdienen. Andererseits ist das Gemälde von einer besonderen Schönheit, auf die zu verzichten es weniger leicht fällt als auf die fünf braunen Lüneburger des Walter Miehe. Wäre das Gemälde des Diego Velasquez in beschädigtem Zustand erhalten worden, wäre der wichtige politische Kampf um die Rechte von Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts täglich Thema in einem der bedeutendsten Museen der Welt. Unter dieser Fragestellung ist es erhellend, Inventare nach Bild- oder Objektzerstörungen zu durchsuchen.7 Dabei finden sich einerseits sehr bekannte Ereignisse wie die „Aktion Entartete Kunst“,8 andererseits eher selten Bilder mit Spuren wie die obigen Beispiele. Einen besonders grausigen Fall hat David King in seinem Buch „Stalins Retuschen“ publiziert. Die ermordeten Genossen mussten auch auf den Fotos gelöscht werden. Eine zeitgeschichtliche Ausstellung zu Stalins Terror, die sich auf dieses Material konzentrierte, würde eine völlig andere Wirkung haben als eine erzählende Darstellung zum selben Thema.9

Nicht nur Gemälde und Fotos, sondern auch dreidimensionale Gegenstände der alltäglichen Lebenswelt können Träger von Spuren sein. Im Historischen Museum Frankfurt am Main befindet sich ein eigenwilliges Objekt, das von einem erklärenden Zettel begleitet ist: Allein dieses Objekt sei beim Bombenangriff 1944 von der Wohnung der Frau übriggeblieben, die es dem Museum geschenkt hat - eine Porzellantasse in einem Klumpen ehemals flüssigen, nun erstarrten Glases (Abb. 4).10 Wenn die KZ-Gedenkstätten mit Namen beschriftete Koffer oder Rasierpinsel oder Kämme zeigen, die den Menschen gehört haben, die ermordet wurden, so führt die inszenatorische Arbeit an diesen Objekten zu anderen Erkenntnissen, als wenn lediglich statistisch oder moralisch verurteilend über die Geschehnisse berichtet wird. Allerdings sollte jede Form der Inszenierung auf ihre Wirkung hin bedacht werden. Ein Großfoto, dessen abgebildete Trümmer mit inszenierten Trümmern aus der Zwei- in die Dreidimensionalität überführt werden, suggeriert, dass das Foto die ganze dingliche Wahrheit fixiere; es drängt Fragen und Einreden zurück.
 

Abb. 4: Überrest einer Frankfurter Wohnung nach dem Bombenangriff vom
12. September 1944
(Foto: Historisches Museum Frankfurt a.M.)

Die zweite große Gefahr der inszenatorischen Arbeit mit Gegenständen besteht in der Auratisierung.11 Die Objekte werden mit einem Nimbus, einem Heiligenschein umgeben, der allerdings aus elektrischem Licht gebildet ist. Das Alltagsobjekt, das in einer zeitgeschichtlichen Ausstellung gezeigt wird, ist zuerst eine Quelle, um die Realität zu rekonstruieren, aus der es stammt. Es wird unter der Hand zu einem Symbol - einem Gegenstand, der nicht nur für andere Gegenstände steht, sondern darüber hinaus ein Ereignis thematisiert. Durch den erarbeiteten Kontext und die mitgebrachten Geschichtsbilder der Betrachter wird es aufgeladen, steht nicht mehr nur für sich selbst und seine Geschichte, sondern auch für eine Episode oder einen Ereigniskomplex. Rasierpinsel und Koffer dokumentieren nicht nur die Herkunft ihrer Besitzer aus einem vertrauten Alltag; sie symbolisieren darüber hinaus die Vernichtung der europäischen Juden - selbst wenn dies nicht in einem erläuternden Text beschrieben wird. Aus Relikten, die als Quellen ausgestellt werden, können leicht Reliquien werden. Das wurde jüngst besonders auf der Documenta 12 anschaulich. In einem Raum, in dem auch vergrößerte Stofftiere ausgestellt waren, stand eine schlecht präparierte Giraffe. Wer den Katalog nicht las, musste sie für eines der Stofftiere halten, doch es war eine echte Giraffe. Wir erfahren im Katalog dazu, dass sie im Zoo von Qalqiliyah im Westjordanland gelebt hatte. Im August 2002 wurde sie bei Auseinandersetzungen zwischen der israelischen Armee und Palästinensern getötet. Der Tierarzt des Zoos stopfte sie unprofessionell aus, und sie steht zusammen mit anderen ausgestopften Tieren nun in einem neben dem Zoo gebauten Museum.12 Die Organisatoren der Documenta haben das Objekt aus seinem Kontext gelöst, und der Katalog erzählt die Geschichte nicht in ihrer historischen Komplexität. Die Giraffe stand in Kassel wie ein abgeliebtes Steiff-Tier auf dem Teppichboden; sie appellierte an die tierliebenden Gefühle des Publikums. Die Vielschichtigkeit des Konfliktes, für die dieses Objekt steht oder stehen könnte, wurde ausgeblendet.13
 

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Abb. 5: Peter Friedl: The Zoo Story, ausgestellt auf der Documenta 12, Kassel 2007
(Foto: Detlef Hoffmann)

Gegenstände haben nicht nur eine zu erschließende, objektivierbare Geschichte; sie sind auch allen jeweils individuellen oder gruppenspezifischen Projektionen zugänglich. Die Menschen, die sie betrachten, bringen Bilder aus ihrer eigenen Lebenspraxis mit - in unserem Beispiel die Stofftiere der Kinderwelt. Darüber hinaus haben sie Filme oder andere mediale Präsentationen gesehen, die die Dinge mit jeweils eigenen Bedeutungen aufladen. Problematisch wird dies dann, wenn die museale Ausstellung darauf verzichtet, die Objekte oder Bilder als Quellen zu behandeln. Ziel einer zeitgeschichtlichen Ausstellung muss es vor allem sein, Kenntnisse zu verbreiten. Wer zeitgeschichtliche Ausstellungen von den Objekten her denkt und die Gegenstände als sachkulturelle Quellen mit ihrer je eigenen Mikrogeschichte ernstnimmt, wird feststellen, dass die Alltagsobjekte für das Publikum von weit höherem Interesse sind als Fotos oder Dokumente von Staatsaktionen. Der überraschende Kniefall Willy Brandts am Denkmal für den Aufstand des Warschauer Ghettos hat einen sehr viel höheren Bekanntheitsgrad erreicht als die offiziellen Fotos der Unterzeichnung der Warschauer Verträge beim selben Besuch in der polnischen Hauptstadt im Dezember 1970.

Das trifft auch auf der Ebene der Objekte zu: Der Regenschirm, mit dem Fürst Lichnowsky bei seiner Ermordung in Frankfurt am Main 1848 geschlagen wurde, findet weit mehr Interesse als eine Lithographie des Paulskirchenparlaments. Die Kunst derjenigen, die eine zeitgeschichtliche Ausstellung konzipieren, besteht darin, das historische Konzept aus den Objekten und ihrem Arrangement im Raum zu entwickeln. Dann ist die Ausstellung selbst etwas völlig anderes als der sie begleitende Katalog. Früher dokumentierten Ausstellungskataloge den Forschungsstand und die daraus resultierende Bewertung jedes einzelnen Objektes; hinzu kamen gelegentlich einige einleitende Aufsätze. Inzwischen sind Ausstellungskataloge Publikationsmöglichkeiten für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geworden, wie Festschriften und Sammelbände, die nach Tagungen erscheinen. Durch den Ausstellungsetat erhält der Buchverlag eine gute Subvention. Nur sehr selten werden Ausstellungen selbst dokumentiert. Auf die „Wehrmachtsausstellung“ - das am besten untersuchte Ausstellungsprojekt der westdeutschen Nachkriegsgeschichte - wurde als Ausnahme schon verwiesen. Einige weitere rühmliche Ausnahmen wären zu nennen, wenn auch nicht im Bereich der Zeitgeschichte.14 Natürlich ist dies auch ein technisches Problem, weil das Buch zur Ausstellungseröffnung fertig sein soll und die Ausstellung erst in der letzten Minute fotografiert werden könnte. Aber es gibt in unserem Zeitalter der unbegrenzten Kommunikationsmedien durchaus Möglichkeiten, diesem Missstand abzuhelfen. Von den „alten“ Katalogen könnten wir immerhin lernen, dass das Einzelobjekt einen untersuchenden Text verdient.

Objekte können nicht erzählen; sie sind vielmehr Anlässe für Erzählungen. Sie selber leisten Anderes; sie symbolisieren.15 Damit unterscheidet sich eine Ausstellung zur Zeitgeschichte von einem Film, einer Videoshow oder anderen Medien. Selbst vom Theater, in dem die Bilder wechseln, wäre das Museum abzusetzen. Wie diejenigen, die die Ausstellung konzipiert und umgesetzt haben, sollte auch das Publikum forschen. Es sollte Gelegenheiten erhalten, seine neugierigen Fragen zu stellen und zu beantworten (hier können die elektronischen Medien bis zum PDA sehr hilfreich sein). Aber das Publikum sollte auch von den ausgestellten Dingen verzaubert werden, sie als Gegenstände mit einem eigenen Wert erkennen lernen, sich ihnen liebevoll oder irritiert nähern.16

Anmerkungen:

1 Vgl. zu diesem Problem ausführlich Detlef Hoffmann, Bedeutungsvolle Momente. Bemerkungen zur deutschen Geschichtsmalerei im 19. Jahrhundert, in: Stefan Germer/Michael F. Zimmermann (Hg.), Bilder der Macht - Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, München 1997, S. 324-402.

2 Ausführlich dazu: Detlef Hoffmann, Auschwitz im visuellen Gedächtnis. Das Chaos des Verbrechens und die symbolische Ordnung der Bilder, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Auschwitz. Geschichte, Rezeption, Wirkung, Frankfurt a.M. 1996, S. 223-257; siehe auch Cornelia Brink, Klage und Anklage. Das „Auschwitz-Album“ als Beweismittel im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965), in: Fotogeschichte 95 (2005), S. 15-28.

3 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. von Rudolf Hübner, 6. Aufl. Darmstadt 1971, S. 359-367 (§§ 87ff.).

4 Mathilde Jamin/Frank Kerner (Hg.), Die Gegenwart der Dinge. 100 Jahre Ruhrlandmuseum, Essen 2004.

5 Ebd., S. 240.

6 Dazu ausführlich Detlef Hoffmann, In Restauro, in: Emile. Zeitschrift für Erziehungskultur 2 (1989) H. 1, nicht paginiert; vgl auch Detlef Hoffmann/Almut Junker/Peter Schirmbeck (Hg.), Geschichte als öffentliches Ärgernis oder: Ein Museum für die demokratische Gesellschaft. Das Historische Museum in Frankfurt a.M. und der Streit um seine Konzeption, Fernwald 1974, S. 191.

7 Das wäre keine spezifische Methode für Ausstellungen zur Zeitgeschichte; dort vermisse ich derartige Vorgehensweisen aber besonders schmerzlich.

8 Vgl. sehr ausführlich Stefanie Barron, „Entartete Kunst“. Das Schicksal der Avantgarde im Nazi-Deutschland, München 1992.

9 David King, Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion, Hamburg 1997. Diese Fotos wurden bezeichnenderweise nicht als zeithistorische Ausstellung gezeigt, sondern im Berliner „Haus am Waldsee“, das eher auf Kunstausstellungen spezialisiert ist.

10 Vgl. dazu den Ausstellungskatalog: Frauenalltag und Frauenbewegung 1890-1980, Frankfurt a.M. 1981, nicht paginiert, im Kapitel „Beruf 1933-1945“. Die Beschriftung auf dem Zettel lautet: „Das ist der Rest unserer zerstörten Wohnung am 12.9.1944, Gretel Ritsert.“

11 Vgl. Detlef Hoffmann, Authentische Erinnerungsorte oder: Von der Sehnsucht nach Echtheit und Erlebnis, in: Hans-Rudolf Meier/Marion Wohlleben (Hg.), Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, Zürich 2000, S. 31-45, mit weiterführender Literatur.

12 Vgl. den Ausstellungskatalog: Documenta Kassel 16/06 - 23/09, 2007, Köln 2007, S. 246.

13 Hier wird die besondere Problemstellung zeitgeschichtlicher Ausstellungen deutlich. Während die blutbefleckte Hose des ermordeten Caspar Hauser „sine ira et studio“ präsentiert werden könnte, allein mit einer untersuchenden Neugier, muss sich jeder Ausstellende in aktuellen Konflikten zur Publikumsmeinung verhalten - und zwar möglichst so, dass das Publikum angeregt wird, bisherige Meinungen noch einmal neu zu bedenken.

14 Der Katalog „Feuer und Flamme“ (Essen 1995) erhielt einen zweiten Band mit Bildern der Ausstellung: „Feuer und Flamme. Eindrücke einer Ausstellung im Gasometer Oberhausen 1994/1995“ (Essen 1995); dem Katalog zur Essener Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne. Kultur und Natur der Energie“ (Bottrop 1999) waren einzuklebende Bilder der Ausstellung in einem Umschlag beigelegt. Ähnlich verfuhr das Museum Natur und Mensch in Oldenburg/Oldenburg. Den drei Dokumentationsbänden seiner Dauerausstellung („Weder See noch Land. Moor - eine verlorene Landschaft“, Oldenburg 1999; „Vom Eise befreit. Geest - reiche Geschichte auf kargem Land“, Oldenburg 2002; „Mensch und Meer, Küste und Marsch - eine ewige Liebesgeschichte“, Oldenburg 2006) folgten Broschüren der Gestalter „Team Parameter“ jeweils im selben Jahr und mit gleichlautendem Titel.

15 Vgl. Detlef Hoffmann, Was bezeugt der Augenzeuge? Auch ein Versuch, die Arbeitsweisen der Geschichte und der Kunstgeschichte als sinnvoll im Umgang mit der Fotografie zu beschreiben, in: Fotogeschichte 98 (2005), S. 25-28.

16 Das widerspricht nicht der oben geforderten untersuchenden Methode. Ähnlich wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Objekte ihrer Forschung vor dem Beginn der rationalen Auseinandersetzung libidinös besetzt haben, so würde die Verzauberung oder Irritation im Museum einen Anfang für das Lernen setzen. Wie in der wissenschaftlichen Arbeit wäre sie auch die Batterie, aus der sich die für die Forschung notwendige Geduld nährte.

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