Filmen als Selbstbehauptung

Ellen Illichs Familienfilme im Kontext nationalsozialistischer Verfolgung

  1. Bilder einer »heilen Welt«
  2. Heimat- und Reisebilder
  3. Bilder eines Abschieds
  4. Fazit

Anmerkungen

Ein 16mm-Film, aufgenommen im Frühsommer 1941. Familie und Hausangestellte haben sich im Garten der Villa Regenstreif im 18. Wiener Gemeindebezirk versammelt. Die Anwesenden sind festlich gekleidet, sie plaudern und scherzen beim Nachmittagskaffee. Fröhliche Stimmung herrscht auch in den darauffolgenden Aufnahmen eines gemeinsamen Essens. Dann ein harter Schnitt: Ein Lastwagen, bepackt mit Koffern, fährt ab. Die drei Söhne der Familie sitzen auf der Ladefläche, sie winken der Kamera entgegen. Daraufhin sieht man die beiden jüngeren Buben in Anzug und Krawatte – sie treten auf der Terrasse drei unbekannten Personen gegenüber. Dem Mann, von dessen Jackettkragen das NSDAP-Abzeichen blitzt, schütteln sie höflich die Hand und überreichen ihm ein Körbchen. Darin befinden sich die Schlüssel zur Villa Regenstreif. Mit ihrer Übergabe wird die Enteignung durch die Nationalsozialisten und die Vertreibung der Familie aus dem Elternhaus endgültig vollzogen – und zwar vor laufender Kamera.

Micha und Sascha Illich bei der Schlüsselübergabe.
Filmstill aus: »Reporter 1941–1942«, 1942, Regie: Ellen »Maexie« Illich,
Steven Spielberg Film and Video Archive (Ellen Rose Regenstreif Film Collection), United States Holocaust Memorial Museum (USHMM). Copyright: Yvonne Illich.

Diese Sequenz ist Teil eines Amateurfilms mit dem Titel »Reporter 1941–1942«, produziert von Ellen Illich (1901–1965), der Mutter der Jungen.1 Aus einer jüdischen Familie stammend, lebte Illich bis September 1942 mit ihren Söhnen, den Zwillingen Micha (1928–2021) und Sascha (1928–2009) sowie dem ältesten Sohn Ivan (1926–2002),2 in Wien, bevor die Familie über Split nach Florenz floh. Ellen Illich war bekennende Katholikin. Ihre Kinder wurden römisch-katholisch getauft und erzogen. Den Nürnberger Rassengesetzen entsprechend galt sie allerdings als »Volljüdin«, ihre Söhne als »Mischlinge ersten Grades«.3 Vom Ehemann und Vater, dem kroatischen Katholiken Ivan Peter Illich, lebte die Familie bereits seit 1932 getrennt. Die Ehe blieb aber formal aufrecht, sodass Ellen Illich – wie auch ihre Kinder – die jugoslawische Staatsbürgerschaft behielt.4 Friedrich Regenstreif, Ellen Illichs Vater, mit dem die Familie bis zu seinem Tod im Mai 1941 zusammen in der Villa lebte, galt ebenso wie seine Tochter als »volljüdisch«, war allerdings österreichischer, später deutscher Staatsbürger. Obwohl Illichs Filme besonders als lebensgeschichtliche Dokumente einer im Nationalsozialismus verfolgten Amateurin interessieren, soll in jedem Fall vermieden werden, die rassistische NS-Definition Illichs als Jüdin zu übernehmen und so fortzuschreiben. Im Folgenden werden die Mitglieder der Familie Regenstreif/Illich zwar als vom NS-Regime Verfolgte betrachtet, allerdings nicht als jüdisch. Denn es ist unklar, ob und inwiefern sie sich selbst als jüdisch verstanden. Die Filme bieten dafür jedenfalls keine Hinweise.

Während die Maßnahmen zur Verfolgung von Juden und Jüdinnen im nationalsozialistischen Deutschland sukzessive eingeführt wurden, traten sie in Österreich über Nacht in Kraft und veränderten auch das Leben der Familie Regenstreif/Illich gravierend.5 Der »Anschluss« Österreichs an NS-Deutschland im März 1938, den weite Teile der österreichischen Bevölkerung euphorisch begrüßten, hatte schwere Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung zur Folge. Die Gewalt und Brutalität, der die österreichischen Juden und Jüdinnen im Frühjahr 1938 ausgesetzt waren, nahm Ausmaße an, die es in Deutschland bis dahin nicht gegeben hatte.6 Ob die Familie Regenstreif/Illich während des »Anschluss«-Pogroms Gewalterfahrungen machte, ist unklar. Das Hissen der jugoslawischen Fahne, die im Frühherbst 1938 an der Fassade der Villa zu sehen war, kann jedoch als Bemühung gedeutet werden, sich mit diesem Hinweis auf die ausländische Staatsangehörigkeit vor potentiellen Übergriffen zu schützen.7

Der Umstand, dass Ellen Illich und ihre Söhne die jugoslawische und später die italienische Staatsbürgerschaft hatten, bedeutet allerdings nicht, dass sie deshalb vor nationalsozialistischer Verfolgung sicher waren.8 Jüngste Forschungsergebnisse zum Umgang NS-Deutschlands mit ausländischen Juden und Jüdinnen zeigen, dass auch sie »Boykotten«, Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Beraubungen ausgesetzt waren.9 Inwieweit die zahlreichen Verordnungen, die das NS-Regime im Laufe der Jahre gegenüber Juden und Jüdinnen erließ, für Personen ausländischer Staatsangehörigkeit ebenso galten, lässt sich nicht pauschal beantworten. Aus Rücksicht auf die diplomatischen Beziehungen waren bestimmte Staatsbürger und Staatsbürgerinnen von einigen Maßnahmen ausgenommen. Mit Kriegsbeginn änderten sich die Verhältnisse erneut.10 Jedenfalls waren die Regeln für die Betroffenen selbst nur schwer nachvollziehbar, und es ließen sich daraus kein klar definierter Handlungsspielraum und keine Sicherheit ableiten.

Die Familie Illich hatte aber nicht nur dank ihrer ausländischen Staatsangehörigkeit einen besonderen Status inne. Aufgrund der Einstufung Ivan Peter Illichs als »nicht-jüdisch« und der Kinder als »Mischlinge« galt sie darüber hinaus als »privilegierte Mischehefamilie«. Solche Familien wurden von manchen antisemitischen Maßnahmen verschont. Sie konnten für gewöhnlich in ihren Häusern und Wohnungen bleiben und waren nicht dazu verpflichtet, den gelben Stern zu tragen. Darüber hinaus erhielten sie im Krieg dieselben Lebensmittelrationen wie die nicht-jüdische Bevölkerung.11 Kinder aus »privilegierten Mischehen«, also »Mischlinge ersten Grades«, durften noch bis Juli 1942 weiterführende Schulen besuchen, so auch die Söhne der Familie Illich.12 Selbst wenn »Mischlinge« und die in »Mischehen« lebenden Juden und Jüdinnen derartige Vorteile hatten, darf die Gefahr, der sie ausgesetzt waren, nicht unterschätzt werden. Pläne zu ihrer Deportation und anschließenden Vernichtung wurden von der NS-Führung nie gänzlich aufgegeben.13

Trotz der Bedrohung, der sich die Familie Regenstreif/Illich infolge der Macht­eroberung der Nationalsozialisten ausgesetzt sah, bedeutete der »Anschluss« für Ellen Illichs Filmschaffen keine Zäsur. Zwischen 1936 und 1943 drehte sie insgesamt 17 Amateurfilme, einige davon in Farbe. Sieben Filme sind nach März 1938 entstanden, sechs davon im nationalsozialistischen Österreich. Der letzte Film wurde 1943 in der Emigration in Florenz produziert.14 Illich drehte all ihre Filme auf 16mm, dem teuersten Schmalfilmformat.15 Es ist davon auszugehen, dass sie – wie für die damalige Amateurfilmpraxis typisch – die Filme im Labor entwickeln ließ, diese allerdings selbst schnitt und montierte.16

Zur Verwendung und Rezeption der Filme ist nichts bekannt. Naheliegend ist, dass Illichs Filme – wie andere Familienfilme auch – innerhalb des erweiterten Familien- oder Freundeskreises gezeigt wurden. Ob und wo die Filme im italienischen Exil vorgeführt wurden, ist unklar. Während der Jahre in New York dürften die Aufnahmen jedenfalls kaum angesehen worden sein. Weder Ellen Illichs Schwiegertochter, Daisy Illich, noch ihre Enkelin, Yvonne Illich, erinnern sich an gemeinsame Filmvorführungen.17 Dass die Filme in Ellen Illichs letzter Lebensphase kaum gezeigt wurden, mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass sie sukzessive ihr Sehvermögen verlor.18

Illichs Filme erschöpfen sich nicht in der erinnerungsstiftenden und sozial­integrativen Funktion zur Festigung familiärer Beziehungen; sie müssen darüber hinaus als mediale Experimente verstanden werden. Thematisch blieb Illich zwar dem Familienfilm treu und filmte überwiegend ihre Söhne, in der Freizeit oder bei Ausflügen bzw. Urlauben. Zugleich hatte sie jedoch große Ambitionen für die Gestaltung.19 Sie drehte unter anderem in Innenräumen, wofür sie zusätzliche Lichtquellen installierte, und versah ihre Aufnahmen mit Zwischenüberschriften und Titelbildern.20 Unter dem Label »Maexie Film« oder »Maexie Production« trat sie selbstbewusst als Filmemacherin auf.21

Titelkarte Ellen Illichs, die in vielen ihrer Filme zum Einsatz kam.
Hier aus: »Unser Pötz«, 1938, Regie: Ellen »Maexie« Illich, USHMM.
Copyright: Yvonne Illich. Die Titelkarte zeigt neben einem gezeichneten Portrait Illichs mit Kamera eine grafische Darstellung einer springenden Ziege oder Gams. Dabei dürfte es sich um ein persönliches Logo Illichs handeln, das in anderen Filmen als Zeichnung eines skelettierten Ziegen- oder Gamskopfes samt Geweih zu sehen ist. Welche Bedeutung die Gams bzw. Ziege für Illich hatte, ist unklar.
Auch die Nachkommen konnten mir dazu keine Auskunft geben.

Österreichische Amateurfilme aus der Zeit des Nationalsozialismus, produziert von Personen, die aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt wurden, sind äußerst rar. Als private Zeugnisse einer vom NS-Regime vertriebenen Amateurin bilden Illichs Filme eine absolute Ausnahme. Neuere kulturhistorische Studien untersuchen das Private im Nationalsozialismus als Möglichkeit zur Identitätsbildung und Selbstentfaltung. In Abgrenzung zu älteren Forschungstraditionen, die das Private entweder als unpolitischen Rückzugsort oder aber als von Politik durchdrungene und damit ausgehöhlte Sphäre in den Blick nahmen, fragen jüngere Arbeiten sowohl nach dem zeitgenössischen Verständnis als auch nach der individuellen Ausgestaltung des Privaten. Sie analysieren Ego-Dokumente wie autobiographische Berichte, Tagebücher, Briefe, aber auch Fotoalben und zeigen, wie die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen diese Medien einerseits dafür nutzten, ihre Privatsphäre aufrechtzuerhalten, andererseits aber auch dafür, eigene Positionen gegenüber dem NS-Regime auszuhandeln und Selbstentwürfe zu präsentieren, die sich auf Versatzstücke der NS-Ideologie, nationalsozialistische Begriffe oder Bildmotive stützten.22

Die Nationalsozialisten machten ein erfülltes Privatleben zum Privileg der sogenannten Volksgenossen, während sie all jenen, die aus politischen oder rassistischen Gründen nicht zur »Volksgemeinschaft« zählten, das Recht auf Privatheit sukzessive absprachen.23 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Funktionen die Filme und das Filmen für die Familie Illich im Kontext der NS-Zeit gehabt haben mögen. Obwohl die Aufnahmen Einblicke in die Privatsphäre bieten, handelt es sich nicht um einfache Abbildungen, sondern um visuelle Konstruktionen des Privaten, an denen die von Illich gefilmten Personen ebenso beteiligt waren wie sie selbst. Amateurfilme zeigen das Leben nicht »so, wie es war«, sondern so, wie es in Zukunft erinnert werden sollte.

1. Bilder einer »heilen Welt«

Nach dem März 1938 war die Zahl der Filme rückläufig, die Ellen Illich jährlich produzierte, und auch ihre Ambitionen hinsichtlich formaler Gestaltung nahmen ab. Im Hinblick auf Themen- und Motivwahl lässt sich dagegen keine große Veränderung feststellen. Illich drehte weiterhin überwiegend Aufnahmen von den glücklichen Momenten im Familienkreis, von Freizeitvergnügungen, Ausflugs- und Urlaubsfahrten.24 Während Bezüge zum Judentum in den Filmen vollkommen ausgespart bleiben, spielt der Katholizismus eine wesentliche Rolle. Illich filmte nicht nur Weihnachtsfeste, sondern auch die jährlichen Fronleichnamsprozessionen, an denen ihre Kinder als Ministranten beteiligt waren. In ihren Filmen präsentierte sie sich somit als überzeugte Katholikin, wodurch sie die Fremdzuschreibung durch die Nationalsozialisten zurückwies, die freilich nicht auf religiösen, sondern auf rassistischen Vorstellungen fußte.

Illichs Filme zeugen vom Bemühen, die Kontinuität des Familienglücks und damit die Normalität aufrechtzuerhalten. Von den Gefahren, denen die Illichs ausgesetzt waren, ist darin nichts zu sehen. Selbst wenn die Familie vor den radikalsten Maßnahmen zur Judenverfolgung letztlich bewahrt blieb, führte sie ein Leben in ständiger Unsicherheit. Die Villa Regenstreif befand sich im Besitz des Vaters bzw. Großvaters, Friedrich Regenstreif, der weder Partner in einer »privilegierten Mischehe« noch ausländischer Staatsbürger war, weshalb jederzeit mit der Enteignung gerechnet werden musste.25 Die Illichs wohnten bis September 1942 in Wien und erlebten so auch die Phase der Massendeportationen, die im Februar 1941 begannen.

Angesichts dieser Bedrohung mag es überraschen, dass Illichs Filme ein völlig anderes Bild zeigen, nämlich jenes der glücklichen Familie. Allerdings handelt es sich beim Familienfilm wie auch bei der Familienfotografie um besonders »konstante« bzw. »starre« Medien, die trotz der Vielfalt an möglichen Motiven immer ähnliche Bilder von Sonntagsausflügen und Familienfesten hervorbringen.26 Im Familienfilm ist meist kein Platz für die Darstellung von Sorgen oder Ängsten. Illichs Filme legen nahe, dass sich dies auch im Kontext nationalsozialistischer Verfolgung nicht maßgeblich änderte.

Sascha Illich bei der Holzarbeit. Filmstill aus: »Reporter 1941–1942«, 1942,
Regie: Ellen »Maexie« Illich, USHMM. Copyright: Yvonne Illich.

Dabei ist zu beachten, dass im Familienfilm Glücksmomente nicht nur für die Zukunft bewahrt, sondern mitunter auch erst produziert werden. Durch Illichs Kameraeinsatz wurden sogar profane Freizeitaktivitäten wie das Radfahren oder die Holzarbeiten im Garten der Villa, die sie 1940 bzw. 1941 filmte, zu glücklichen Augenblicken.27 Schließlich forderte Illich mit ihrer laufenden Kamera die gefilmten Personen, besonders ihre Söhne, dazu auf, der Darstellungskonvention entsprechend für die Kamera zu lächeln und so Glück zu »performen«. In ihren Filmen erscheint die Welt in bester Ordnung. Unabhängig davon, ob hier Mechanismen der Ausblendung, vielleicht sogar Verdrängung wirksam wurden, bot ihr die Familienfilmpraxis die Möglichkeit, sich im Kontext existentieller Bedrohung des eigenen Glücks zu versichern und so die Normalität ein Stück weit aufrechtzuerhalten.

2. Heimat- und Reisebilder

Ellen Illichs Aufnahmen von Ausflügen und Urlauben zeugen nicht nur von der Kontinuität familiärer Freizeitpraktiken über den »Anschluss« hinaus, sie lassen ebenso die besondere Affinität zur alpenländischen Kultur erkennen. Zu den beliebten Zielen der Familie Regenstreif/Illich zählten traditionelle Erholungsorte im Salzkammergut oder auf »dem Semmering« und »der Rax«, typische Destinationen des (groß-)bürgerlichen Milieus im Österreich der Zwischenkriegszeit. In ihrer Freizeit trugen die Buben meist Lederhose, Janker und Trachtenhut – und dies auch nach dem März 1938.28 Nationalsozialistischer Lesart zufolge war die Tracht den »Volksgenossen« vorbehalten, obgleich ein »Trachtenverbot« für Jüdinnen und Juden schließlich nur in bestimmten Regionen, wie Salzburg und Tirol, erlassen wurde.29 Die Tracht galt im völkischen Diskurs als Symbol für den vermeintlich authentischen »Volkscharakter« und daher als unvereinbar mit dem Judentum.30 Selbst wenn die Familie Illich dank ihrer ausländischen Staatsbürgerschaft und die Kinder aufgrund ihres Status als »Mischlinge ersten Grades« von derartigen Diskriminierungen vermutlich bewahrt blieben, zielte das »Trachtenverbot« im NS-ideologischen Sinne auch auf sie ab. Der Umstand, dass die Söhne zwischen 1938 und 1942 immer wieder Tracht trugen (selbst in der Öffentlichkeit), deutet jedenfalls darauf hin, dass sich die Illichs nicht aus der nun als exklusiv »deutsch« definierten Kultur ausschließen lassen wollten.

Micha und Sascha Illich bei einer Wanderung im Wiener Umland,
damals »Groß-Wien«. Filmstill aus: »Reporter 1941–1942«, 1942,
Regie: Ellen »Maexie« Illich, USHMM. Copyright: Yvonne Illich.

In Motivwahl und Darstellungsform erinnern Illichs Aufnahmen von Familienausflügen und Urlauben an typische Heimatfotografien: Sie filmte Bergpanoramen und Gipfelkreuze, sanft geschwungene Landstraßen inmitten satter Wiesen, idyllische Dorfansichten und Bauern bei der Arbeit. Die Heimatfotografie, an die Illich mit ihren bewegten Bildern anknüpfte, behauptete einen festen Platz im österreichischen Bilddiskurs der 1930er-Jahre.31 Sie hatte ihre Ursprünge im Kontext der Heimatschutzbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die in der fortschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung eine Bedrohung für die Landschaft und das ästhetische Bild der »Heimat« ausmachte.32 Die frühen Heimatschutzaktivisten sahen in der Fotografie ein ideales Verfahren, um regionale Besonderheiten wie spezielle Naturlandschaften, historische Denkmäler oder Trachtenkleidung zu »dokumentieren« und so die »deutsche« Kultur zu bewahren.33 Auch der Politik dienten die Fotografien zur Visualisierung spezifischer Vorstellungen von Heimat. Während der austrofaschistischen Diktatur unter Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg (1933/34–1938) wurden Heimatfotografien unberührter Natur, bäuerlichen Alltags und einheimischen Brauchtums von Regierungsseite zur Darstellung des »typisch Österreichischen« und zur Bildung einer österreichischen Identität genutzt.34 Im Nationalsozialismus wiederum sollten diese Bilder die »deutsche Heimat« repräsentieren.35 Im Gegensatz zum Dollfuß-Schuschnigg-Regime operierten die Nationalsozialisten mit einem rassistischen Heimat-Konzept.36 Der NS-Ideologie zufolge bestand ein organischer Zusammenhang zwischen »Blut und Boden« bzw. zwischen »deutscher« Bevölkerung und »deutscher« Landschaft. Juden und Jüdinnen, die als entwurzelt und heimatlos galten, hatten darin keinen Platz.37 Dass Illich mit ihren Aufnahmen die typischen Motive der Heimatfotografie adaptierte, ist zunächst nicht überraschend, sondern entspricht den Gepflogenheiten des urbanen, (groß-)bürgerlichen Milieus, zu dem sie gehörte. Während Illich als bekennende Katholikin aus der unter Dollfuß bzw. Schuschnigg propagierten »Heimat« Österreich keineswegs ausgeschlossen war, zielte der rassistische Heimat-Begriff der Nationalsozialisten auf ihre direkte Exklusion.

Es ist anzunehmen, dass Illich um jene nationalsozialistischen Diskurse wusste. Dass sie weiterhin Heimatbilder produzierte, kann daher nicht als schlichtes Fortführen gewohnter Filmpraktiken interpretiert werden. Mit ihren Filmen ignorierte sie die nationalsozialistische Forderung nach Ausschluss von Juden und Jüdinnen bzw. als »jüdisch« eingestuften Personen aus ihrer nun als »deutsch« uminterpretierten Heimat nicht nur. Indem sie sich und ihre Familie innerhalb »deutscher« Landschaft visuell verortete und ihre Söhne in Tracht filmte, demonstrierte sie vielmehr ihre Zugehörigkeit zu einer Kultur, zu der sie nach nationalsozialistischer Lesart nicht gehörte.38

Zugleich erinnert die Kombination aus Heimatbildern und Aufnahmen von Kirchen und verschiedenen katholischen Festen, wie sie auch noch in Illichs nach März 1938 produzierten Filmen zu finden sind, stark an das Bildprogramm des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes. Ihre Filme sind visueller Ausdruck des Bemühens um Teilhabe an einer spezifisch »österreichischen« Kultur und um deren symbolische Fortführung über den »Anschluss« hinaus. Illichs Filmpraxis lässt sich damit als Strategie der Normalisierung verstehen. In ihren Filmen hält sie an einer Kultur fest, die sie als bekennende Katholikin inkludierte, die im Nationalsozialismus allerdings zerschlagen werden sollte.

Bergpanorama mit Gipfelkreuz während eines Familienausflugs nach Mariazell. Filmstill aus: »Reporter 1941–1942«, 1942,
Regie: Ellen »Maexie« Illich, USHMM. Copyright: Yvonne Illich.

Selbst wenn sich der Bewegungsradius der Familie über die Jahre zu verengen schien und Aufnahmen von Freizeitaktivitäten im privaten Raum – wie im Garten der Villa Regenstreif – zunahmen, filmte Illich auch nach dem »Anschluss« regelmäßig im öffentlichen Raum. Verweise auf den Nationalsozialismus finden sich in ihren zwischen 1938 und 1940 produzierten Filmen allerdings selten. Der Großteil der Bilder wirkt wie aus der Zeit gefallen; sie sind von den Aufnahmen aus den Jahren vor der nationalsozialistischen Machtübernahme schwer zu unterscheiden. Nur manchmal, mehr oder weniger zufällig, gelangen Hakenkreuzfahnen oder uniformierte Nationalsozialisten ins Bild – wie etwa in den Aufnahmen von einer Fronleichnamsprozession im Jahr 1940, die durch die vorbeimarschierende Hitler-Jugend unterbrochen wurde.39 Auch wenn die NS-Symbolik aus nachvollziehbaren Gründen kein beliebtes Filmmotiv Illichs war, schnitt sie Sequenzen, die auf das NS-Regime und damit auf den politischen Kontext verweisen, wiederum nicht aus ihren Filmen heraus.

»Reporter 1940«, 1940, Regie: Ellen »Maexie« Illich, USHMM.
Copyright: Yvonne Illich. Timecode (Ausschnitt): 06:16–06:48.

In Illichs letztem in Österreich produziertem Film ist der Nationalsozialismus stark präsent. »Reporter 1941–1942« zeigt Ereignisse aus den letzten zwei Jahren des Familienlebens unter nationalsozialistischer Herrschaft, bevor Ellen Illich im September 1942 mit ihren Kindern emigrierte. Der Film enthält Aufnahmen von einer Schulveranstaltung, vermutlich vom Schulschluss der Söhne im Juni 1941. Diese besuchten das Piaristengymnasium im 8. Wiener Gemeindebezirk, 1938 in »Oberschule für Jungen« umbenannt. Die Schulschlussveranstaltung wurde maßgeblich von der Hitler-Jugend gestaltet, die im Innenhof bei gehisster Hakenkreuzfahne paradierte.40 Illich filmte neben Schulkameraden in HJ-Uniform auch die Buben im Gespräch mit ihren Lehrern. Auf dem Jackettkragen eines der Männer ist in Umrissen das NSDAP-Abzeichen zu erkennen. Illichs Filme zeugen somit nicht nur von einem kontinuierlichen Einsatz der Kamera im öffentlichen Raum, sondern auch von einem souveränen Umgang mit ihr in Anwesenheit von Nationalsozialisten. Die eindrücklichsten Aufnahmen dieser Art finden sich in der eingangs beschriebenen Sequenz über den erzwungenen Abschied von der Villa Regenstreif im Frühsommer 1941.41

3. Bilder eines Abschieds

Friedrich Regenstreif, der ebenso wie seine Tochter Ellen als »volljüdisch« galt, musste sein Haus schließlich an die Deutsche Arbeitsfront verkaufen.42 Im März 1941 unterzeichneten die beiden Parteien den Vertrag. Die Übergabe erlebte Regenstreif nicht mehr; er starb im Mai 1941. Einen Monat später mussten Ellen Illich und ihre Söhne die Villa verlassen. Die Aufnahmen von der Enteignung und dem Verlust des Elternhauses sind bemerkenswert: Sie visualisieren den Vorgang der »Arisierung«, der in schriftlichen Dokumenten oftmals abstrakt bleibt, und zeigen Reaktionen der Verfolgten auf das Eindringen von Nationalsozialisten in ihren privaten Raum.43

»Reporter 1941–1942«, 1942, Regie: Ellen »Maexie« Illich, USHMM.
Copyright: Yvonne Illich. Timecode (Ausschnitt): 01:44–05:51.

Die erste Szene ist dem Abtransport von Kunst- und Einrichtungsgegenständen gewidmet. Den Großteil des Wohnungsinventars musste Illich zurücklassen. Einen Anhänger mit Umzugsgut, darunter auch Kunstgegenstände, konnte sie allerdings aus Wien mitnehmen.44 Während die Objekte in einen Anhänger der Spedition Gustav Knauer verladen werden, tollen die Zwillinge vergnügt umher. Sie mischen sich unter die Männer, die mit den Transportarbeiten betraut sind – darunter auch Franz Leithner, Angestellter und Chauffeur der Familie. Die anderen Männer können nicht näher identifiziert werden. Einige von ihnen tragen Abzeichen nationalsozialistischer Organisationen. Die Anwesenden posieren gemeinsam für die Kamera. Daraufhin setzt Illich den korpulenten Mann, an dessen Anzugkragen in Umrissen der Reichsadler zu erkennen ist, aus nächster Nähe ins Bild, während er den Anhänger verriegelt. Dass Illich mit ihrer Kamera einem Nationalsozialisten derart zu Leibe rückt, ist bemerkenswert. Obwohl es sich nicht um einen »Arisierer« handelt, sondern vermutlich um einen Mitarbeiter der Speditionsfirma, repräsentiert er das Regime, das die Enteignung und Vertreibung der Familie zu verantworten hat. Er wähnte sich offenbar im Recht, ansonsten hätte er sich gegen die Aufnahme vermutlich zur Wehr gesetzt. Die Szene endet mit Bildern vom Abtransport und der nun leeren Einfahrt.

Beim Verladen der Einrichtungs- und Kunstgegenstände.
Filmstill aus: »Reporter 1941–1942«, 1942,
Regie: Ellen »Maexie« Illich, USHMM. Copyright: Yvonne Illich.

Die darauf folgenden, eingangs bereits erwähnten Einstellungen zeigen die Familie gemeinsam mit Hausangestellten im Garten der Villa Regenstreif bei einem letzten, scheinbar glücklichen Beisammensein. Auch Ellen Illich selbst ist häufig im Bild, wohl gefilmt von einem ihrer Söhne.45 Die Kamera hält diverse Dankes- und Abschiedsgesten fest. Wir sehen die Buben beim Überreichen von Blumensträußen. Auf Panoramaaufnahmen der örtlichen Umgebung folgen Bilder eines letzten gemeinsamen Essens der Familie mit ihrem Hauspersonal, das zum 31. Mai 1941 aus dem Dienst entlassen wurde.46 Es herrscht trotz allem fröhliche Stimmung. Danach sieht man einen mit Koffern beladenen Lastwagen von der Villa abfahren. Die Buben haben auf der Ladefläche Platz genommen und winken der Kamera zum Abschied entgegen. Es handelt sich um Aufnahmen vom Umzug der Familie in eine nahegelegene Pension, in der Illich und die Söhne bis zu ihrer Emigration im September 1942 wohnten.

In der nächsten Szene treten die Zwillinge, mit Anzug und Krawatte, auf der Terrasse der Villa zwei Männern und einer Frau gegenüber. Einem der Männer, der am Anzugkragen ein NSDAP-Abzeichen trägt, überreichen sie ein Körbchen. In diesem befinden sich die Schlüssel zur Villa Regenstreif – damit wird die »Arisierung« des Elternhauses endgültig vollzogen.47 Ellen Illich und ihre Söhne inszenieren die Aushändigung der Schlüssel und damit die Geste, die den Zwangsverkauf besiegelt, als Festakt. In einem Moment, in dem Illich keine Entscheidungsmacht mehr hat und die Vertreibung ihrer Familie bereits beschlossene Sache ist, ergreift sie die Initiative, instruiert ihre Söhne, kleidet sie in Anzüge und stattet sie mit einem kleinen Präsent aus – dem Körbchen mit dem Schlüssel –, um so den Verlust des Lebensmittelpunktes, der genau in diesem Augenblick stattfindet, in ihrem Sinne zu gestalten. Trotz der Beraubung ihrer Familie bewahrt Illich Haltung und präsentiert sich ihrem sozialen Status entsprechend als kultiviert. Die laufende Kamera ist wesentlicher Bestandteil dieser Inszenierung, die es Illich erlaubt, die Bedeutung des Ereignisses zu verschieben und das erzwungene Verlassen des Elternhauses als feierlichen Abschied zu rahmen.

Dass Illich während der Enteignung zur Kamera greift, könnte als eine Form des Selbstschutzes gedeutet werden, indem sie zwischen sich und dem Geschehen Distanz schafft. Sie war jedoch nicht dazu gezwungen, der »Arisierung« beizuwohnen. Auch Hausangestellte oder ihr Anwalt hätten die Villa übergeben können. Dass sie die Übergabe arrangierte und noch dazu filmte, kann daher als Strategie interpretiert werden, sich einen gewissen Gestaltungsspielraum zu bewahren.

Die laufende Kamera konfrontiert alle Anwesenden – die beiden Söhne, aber auch die im Sinne des NS-Regimes agierenden Personen – mit einem Darstellungsauftrag, der für gewöhnlich die Performance positiver Gefühle evoziert. So bietet der Kameraeinsatz Illich die Möglichkeit, in die soziale Situation regulierend einzugreifen bzw. diese ein Stück weit zu steuern. Die Funktion der Kamera zeigt sich ebenso in den Aufnahmen vom Abtransport der Kunstgegenstände. Auch hier filmt Illich in Anwesenheit von Nationalsozialisten, die schließlich für die Kamera posieren. In beiden Situationen ermöglicht ihr das Filmen, eine aktive Rolle einzunehmen, wie auch der Filmtitel »Reporter 1941–1942« nahelegt. Über die Kameraführung gewinnt Illich Handlungsmacht. Ihre Filmpraxis lässt sich damit als Mittel der Selbstbehauptung interpretieren.

Posieren für die Kamera. Filmstill aus: »Reporter 1941–1942«, 1942,
Regie: Ellen »Maexie« Illich, USHMM. Copyright: Yvonne Illich.

4. Fazit

Ellen Illichs filmischer Darstellung zufolge gelang es ihr trotz der Verfolgung und Bedrohung durch die Nationalsozialisten, für sich und ihre Familie ein erfülltes Privatleben zu bewahren. Dass sie sogar unter nationalsozialistischer Herrschaft glückliche Augenblicke erkannte oder diese durch den Kameraeinsatz selbst hervorbrachte, erlaubte es ihr, die Imagination vom kontinuierlichen Familienglück und so eine gewisse »Normalität« aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus führte sie in ihren Filmen, durch die Adaption von Heimatfotografie in Kombination mit Aufnahmen katholischer Feierlichkeiten, eine Bilderwelt fort, die an das Österreich des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes erinnert. Damit stellte sie sich auch nach März 1938 als Teil einer typisch österreichischen Kultur dar, die allerdings nicht länger bestand. Die zahlreichen Heimatbilder, die Illich produzierte, lassen sich jedoch nicht nur als Strategie der Normalisierung, sondern auch als Form der Selbstbehauptung deuten. Denn sie veranschaulichen zugleich die Teilhabe der Familie an einer nun als »deutsch« uminterpretierten Kultur, womit sich Illich symbolisch ihrer von den Nationalsozialisten geforderten und praktizierten Exklusion erwehrte.

Ellen Illich mit ihrem Sohn Micha bei der Rast.
Filmstill aus: »Reporter 1941–1942«, 1942,
Regie: Ellen »Maexie« Illich, USHMM. Copyright: Yvonne Illich.

Im Kontext ihrer Filmpraxis verhandelte Illich verschiedene Selbstentwürfe und trat so aus der passiven Rolle der Verfolgten heraus. In ihren Filmen ist sie alles, nur nicht Jüdin. Illich gibt sich fortwährend als selbstbestimmte Regisseurin »Maexie«, als fürsorgliche Mutter und als praktizierende Katholikin. Mittels der Aufnahmen ihrer verschiedenen Reiseaktivitäten betont sie wiederum ihre Zugehörigkeit zum großbürgerlichen Milieu.

Bemerkenswert ist, dass Illichs filmische Selbstdarstellung nicht abseits des Regimes stattfand. Zum einen griff sie auch nach März 1938 auf die Ästhetik der Heimatfotografie und damit auf eine Bildsprache zurück, die nun von den Nationalsozialisten beansprucht wurde. Zum anderen zeigen ihre Aufnahmen von Urlaubsreisen, Schulveranstaltungen und katholischen Festen, durch die sie verschiedene Selbstbilder verhandelte, mitunter Hakenkreuzfahnen und uniformierte Nationalsozialisten. Selbst als die »Ariseure« in Illichs privaten Raum eindringen, greift sie zur Kamera. Dadurch stellt sie die Vertreibung ihrer Familie nicht nur in eigenen Bildern dar. Vielmehr unterwirft sie die Interaktionen der anwesenden Personen, sogar jene der im Auftrag des NS-Regimes handelnden, der Logik des Familienfilms.

Illichs Filmpraxis changiert zwischen Strategien der Normalisierung und Selbstbehauptung. In jedem Fall läuft die Konstruktion des Privaten als Ort des Glücks und der Selbstentfaltung, die in ihren Filmen sichtbar wird, den Bestrebungen des NS-Regimes fundamental entgegen. Schließlich sollte ein glückliches Privatleben all jenen vorbehalten sein, die als politisch zuverlässig und »rassisch« wertvoll galten. Das Privatleben sogenannter Gemeinschaftsfremder sollte hingegen sukzessive zerstört werden. Illichs Filme zeigen, dass dies den Nationalsozialisten nicht oder zumindest nicht vollends gelang. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass Illich aufgrund ihrer ausländischen Staatsbürgerschaft ein Sonderstatus zukam, den nur wenige der vom Regime verfolgten Personen innehatten. Ihre Filmpraxis ist dennoch ein außergewöhnliches Beispiel dafür, dass visuelle Ego-Dokumente wie Privatfotografien und Amateurfilme nicht bloß Einsichten in das Privatleben von NS-Verfolgten gewähren. Sie können auch als Medien zur Verteidigung und Ausgestaltung der Privatsphäre gesehen werden.


Anmerkungen:

1 »Reporter 1941–1942«, 1942, Regie: Ellen »Maexie« Illich, Amateurfilm, 16mm, s/w und Farbe, stumm, 18fps, 16:23 Minuten, Steven Spielberg Film and Video Archive (Ellen Rose Regenstreif Film Collection), Film ID: 2913, United States Holocaust Memorial Museum (USHMM). Copyright: Yvonne Illich. Dieser Film kann auf der Website »Ephemere Filme: Nationalsozialismus in Österreich« in voller Länge angesehen werden (<https://efilms.at//film_player?movieID=53&movieSig=EF-NS_053_USHMM&movieSpeed=18>), ebenso drei weitere Filme von Ellen Illich (<https://efilms.at/explore>). Sie wurde 1901 in München als Tochter des Industriellen-Ehepaares Friedrich und Johanna Regenstreif geboren. 1912 bezogen die Regenstreifs mit ihren beiden Kindern, Paul (geb. 1899) und Ellen (geb. 1901), die erwähnte Villa in Wien-Pötzleinsdorf. Die Familie war jüdischer Herkunft, bekannte sich 1905 jedoch zum evangelischen Glauben. Ellen Illich konvertierte später zum Katholizismus. 1951 emigrierte sie nach New York, wo sie 1965 verstarb. Für die biographischen Angaben siehe die Informationen zur Familie Regenstreif/Illich auf der Website des USHMM (<https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn1004518>) und die Entscheidung der Schiedsinstanz für Naturalrestitution des »Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus«, Entscheidungsnummer 531/2009 (<https://www.entschaedigungsfonds.org/naturalrestitution>). Illichs Schmalfilme lagerten zunächst im Keller des Wohnhauses ihres Sohnes Sascha in New York und wurden in den 1970er-Jahren von seiner Tochter bzw. Illichs Enkelin, Yvonne Illich, übernommen. Diese übergab die Filme 2006 dem USHMM zur Konservierung und Digitalisierung. Für die Zustimmung zur Veröffentlichung von Filmausschnitten und Stills im Rahmen meines Textes möchte ich Yvonne Illich herzlich danken.

2 Ivan Illich war römisch-katholischer Priester, Theologe, Philosoph und Autor.

3 Vgl. Entscheidung der Schiedsinstanz (Anm. 1), S. 9. Als »Mischlinge ersten Grades« wurden Personen bezeichnet, die einen nicht-jüdischen und einen jüdischen Elternteil hatten, zugleich aber nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten, also entweder ohne Konfession oder christlich getauft waren. »Mischlinge«, die in der Israelitischen Kultusgemeinde registriert waren, wurden hingegen als »Geltungsjuden« klassifiziert und waren denselben diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt wie Juden und Jüdinnen im Allgemeinen. Vgl. Michaela Raggam-Blesch, »Mischlinge« und »Geltungsjuden«. Alltag und Verfolgungserfahrungen von Frauen und Männern »halbjüdischer« Herkunft in Wien, 1938–1945, in: Andrea Löw/Doris L. Bergen/Anna Hájková (Hg.), Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945, München 2013, S. 81-97, hier S. 81, S. 87.

4 Vgl. Entscheidung der Schiedsinstanz (Anm. 1), S. 12.

5 Im Sinne einer geschlechtergerechten Sprache wird im vorliegenden Text die Doppelform verwendet, also die männliche und weibliche Bezeichnung. Wenn nur ein Geschlecht benannt wird, ist ausdrücklich dieses gemeint. Mit der Formulierung »die Nationalsozialisten« ist das NS-Regime angesprochen.

6 Vgl. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung 1938/39, überarb. und erweiterte Neuaufl. Wien 2018, S. 133.

7 Siehe im Film: »Unser Pötz«, 1938, Regie: Ellen »Maexie« Illich, Amateurfilm, 16mm, s/w und Farbe, stumm, 18fps, 07:03 Minuten, Steven Spielberg Film and Video Archive (Ellen Rose Regenstreif Film Collection), Film ID: 2912, USHMM. Copyright: Yvonne Illich; URL: <http://efilms.ushmm.org/film_player?movieID=49&movieSig=EF-NS_049_USHMM&movieSpeed=18>. Die Fahne ist im Online-Player ab Minute 04:28 zu sehen. Die Aufnahmen davon dürften im Frühherbst entstanden sein. Wann genau die Fahne gehisst wurde, ist allerdings unklar.

8 Infolge des Balkanfeldzuges vom April 1941 und der anschließenden Teilung Jugoslawiens, bei der das Gebiet um Split Italien zuerkannt wurde, bekamen sie die italienische Staatsbürgerschaft. Vgl. Entscheidung der Schiedsinstanz (Anm. 1), S. 12.

9 Vgl. Beate Meyer, Protected or Persecuted? Preliminary Findings on Foreign Jews in Nazi Germany, in: Natalia Aleksiun/Hana Kubátová (Hg.), Places, Spaces, and Voids in the Holocaust, Göttingen 2021, S. 87-114, hier S. 88.

10 Das Schicksal von Juden und Jüdinnen ausländischer Staatsangehörigkeit hing maßgeblich davon ab, ob ihr Heimatland als verbündeter oder feindlicher Staat galt, von NS-Deutschland besetzt war oder diesem neutral gegenüberstand. Eine detaillierte Aufstellung darüber, welche Verordnungen nun in welcher Weise für ausländische Juden und Jüdinnen galten, steht bislang noch aus. Vgl. ebd., S. 106f.

11 Vgl. Michaela Raggam-Blesch, »Privileged« under Nazi-Rule. The Fate of Three Intermarried Families in Vienna, in: Journal of Genocide Research 21 (2019), S. 378-397, hier S. 385.

12 Vgl. Dieter J. Hecht/Eleonore Lappin-Eppel/Michaela Raggam-Blesch, Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien, Wien 2017, S. 118. Der Schulverweis ist in den Jahreszeugnissen der Söhne vom 11. Juli 1942 vermerkt. Vgl. Entscheidung der Schiedsinstanz (Anm. 1), S. 15.

13 Vgl. Raggam-Blesch, »Mischlinge« und »Geltungsjuden« (Anm. 3), S. 97.

14 Laut Auskunft der Familie drehte Illich seit ihrer Übersiedlung nach New York im Jahr 1951 keine weiteren Filme. Dies berichteten mir Daisy Illich und Yvonne Illich in einem Video-Telefonat am 17. April 2022.

15 Eine Tageslichtspule von 15m Umkehrfilm im 16mm-Format mit einer Filmdauer von knapp zwei Minuten kostete 1934 zwischen 10,25 und 12,50 RM (Entwicklungskosten inklusive). Für einen Farbfilm derselben Länge mussten 15 RM entrichtet werden. Siehe die Preisliste zum 16mm-Film in: Der Kino-Amateur 7 (1934) H. 8, S. 242-243. 10 RM bzw. 15 RM entsprechen einer heutigen Kaufkraft von 46 bzw. 69 Euro. Siehe die Liste der Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen der Deutschen Bundesbank (<https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/13c8ab8e09d802ffcf2e5a8ae509829c/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf>).

16 Illichs Sohn Micha erinnerte sich in einem Gespräch am 15. Mai 2019 an eine Klebepresse, die im Besitz der Mutter war.

17 Daisy (geb. 1925) und Sascha Illich heirateten 1956, ihre Tochter Yvonne kam 1957 zur Welt.

18 So erzählte Daisy Illich in einem Video-Telefonat am 17. April 2022.

19 Vgl. Michaela Scharf, »Eine Maexie Production«. Ellen Illichs Familienfilme zwischen Erinnerungspraxis, Situationskontrolle und Subjektkonstitution, in: Winfried Pauleit/Angela Rabing (Hg.), Familien-Bilder. Lebensgemeinschaften und Kino, Berlin 2020, S. 91-103.

20 Es handelt sich um professionell produzierte Titelkarten, die man im Fotofachgeschäft anfertigen lassen und anschließend selbst weiterverarbeiten, also in den eigenen Film einmontieren konnte.

21 »Maexie« war Illichs amerikanisch anmutender Spitzname, den sie mitunter auch als Nachnamen nutzte. Schriftstücke, Briefe oder von ihr verfasste Texte zeichnete sie mit »E.R. Maexie«.

22 Vgl. Christian Meyer, (K)eine Grenze. Das Private und das Politische im Nationalsozialismus 1933–1940, Berlin 2020; Maiken Umbach, (Re-)Inventing the Private under National Socialism, in: Elizabeth Harvey u.a. (Hg.), Private Life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge 2019, S. 102-131; Cornelie Usborne, Love Letters from Front and Home. A Private Space for Intimacy in the Second World War?, in: ebd., S. 280-303; Janosch Steuwer, »Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse«. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017; Maiken Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933–1945, in: Central European History 48 (2015), S. 335-365.

23 Vgl. Elizabeth Harvey u.a., Introduction: Reconsidering Private Life under the Nazi Dictatorship, in: dies. u.a., Private Life (Anm. 22), S. 3-29, hier S. 6.

24 Vgl. Scharf, »Eine Maexie Production« (Anm. 19), S. 94.

25 Aus unklaren Gründen hatte der Anwalt der Familie durchsetzen können, dass die Villa zunächst nicht enteignet wurde. Erst im März 1941, zwei Monate vor Regenstreifs Tod, kam es zum erzwungenen Verkauf des Anwesens. Vgl. Entscheidung der Schiedsinstanz (Anm. 1), S. 10.

26 Vgl. Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede, in: ders. u.a., Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, Hamburg 2014 (frz. Originalausg. 1965), S. 25-84, hier S. 35.

27 »Reporter 1941–1942« (Anm. 1) und »Reporter 1940«, 1940, Regie: Ellen »Maexie« Illich, Amateurfilm, 16mm, s/w und Farbe, stumm, 18fps, 13:26 Minuten, Steven Spielberg Film and Video Archive (Ellen Rose Regenstreif Film Collection), Film ID: 2913, USHMM. Copyright: Yvonne Illich; URL: <http://efilms.ushmm.org/film_player?movieID=52&movieSig=EF-NS_052_USHMM&movieSpeed=18>.

28 Illich selbst erscheint allerdings nie im Dirndl.

29 Vgl. Nikolaus Hagen, »Trachtenverbot für Juden« und »Schutz heimischer Volkskultur«. Maßnahmen und Normen im Gau Tirol-Vorarlberg, in: zeitgeschichte 44 (2017), S. 386-401, hier S. 387. Auch eine reichsweite »Verordnung zum Schutz der Volks- bzw. Heimattrachten« war in Planung, kriegsbedingt kam es jedoch nicht mehr zu ihrer Realisierung. Vgl. Ulrike Kammerhofer-Aggermann, »Stoff der Träume« und Alpträume. Neue Akten zum Salzburger Trachtenverbot 1938–1940, in: Helmut Eberhardt/Karl Berger/Regina Wilding (Hg.), Volkskunde aus der Mitte. Festschrift für Olaf Bockhorn zum Siebzigsten Geburtstag, Wien 2013, S. 117-137, hier S. 127.

30 Vgl. Hagen, »Trachtenverbot für Juden« (Anm. 29), S. 391.

31 Vgl. Monika Faber, Berge statt Kathedralen. Rudolf Koppitz und die österreichische Heimatfotografie, in: Wolfgang Kos (Hg.), Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930, Wien 2010 (Ausstellungskatalog), S. 130-136, hier S. 130.

32 Vgl. Elizabeth Cronin, Heimatfotografie in Österreich. Eine politisierte Sicht von Bauern und Skifahrern, Wien 2015, S. 15; Thomas M. Lekan, Imagining the Nation in Nature. Landscape Preservation and German Identity, 1885–1945, Cambridge 2004, S. 2.

33 Vgl. Cronin, Heimatfotografie in Österreich (Anm. 32), S. 17-19.

34 Vgl. Faber, Berge statt Kathedralen (Anm. 31), S. 134f.

35 Vgl. Cronin, Heimatfotografie in Österreich (Anm. 32), S. 134. Siehe Fritz Wächtler (Hg.), Die neue Heimat. Vom Werden der nationalsozialistischen Kulturlandschaft, München 1940, 2. Aufl. 1942. Das erste Foto, das darin abgedruckt ist, zeigt alpenländische Bauernhöfe im Land Salzburg (S. 21).

36 Vgl. Lekan, Imagining the Nation (Anm. 32), S. 156-168.

37 Vgl. ebd., S. 156f.

38 Maiken Umbach und Scott Sulzener argumentieren im Hinblick auf die Fotopraktiken der jüdischen Familie Salzmann ähnlich, wenn sie in den Fotos von Landschaften und Kulturdenkmälern, die vom NS-Regime als typisch »deutsch« propagiert wurden, das Bemühen erkennen, die eigene Zugehörigkeit zur »deutschen« Kultur zu betonen. Auf die visuellen Verbindungslinien dieser Bilder zur Heimatfotografie gehen Umbach und Sulzener in ihrem wegweisenden Band allerdings nicht weiter ein. Vgl. Maiken Umbach/Scott Sulzener, Photography, Migration, and Identity. A German-Jewish-American Story, Basingstoke 2018, S. 37-57. Dagegen interpretiert Ofer Ashkenazi in seinem Aufsatz über die Fotopraktiken der deutsch-jüdischen Familie Simon deren Urlaubsfotos ebenso als Adaption von Motiven der Heimatfotografie. Vgl. Ofer Ashkenazi, Exile at Home. Jewish Amateur Photography under National Socialism, 1933–1939, in: Leo Baeck Institute Year Book 64 (2019), S. 115-140, hier S. 131-133.

39 Die Szene befindet sich im Film »Reporter 1940« (Anm. 27); sie beginnt bei Minute 06:16.

40 »Reporter 1941–1942« (Anm. 1). Die Sequenz vom letzten Schultag beginnt bei Minute 06:12.

41 Ebd. Die Sequenz ist von Minute 01:44 bis 05:51 zu sehen.

42 Vgl. Entscheidung der Schiedsinstanz (Anm. 1), S. 9-13.

43 Für eine erste, verkürzte Fassung meiner Analyse siehe Scharf, »Eine Maexie Production« (Anm. 19), S. 97-99.

44 Laut der Entscheidung der Schiedsinstanz für Naturalrestitution handelte es sich dabei um jene Gegenstände, die im Besitz der Familie verbleiben und aus Österreich ausgeführt werden durften. Vgl. Entscheidung der Schiedsinstanz (Anm. 1), S. 14.

45 Wie in der Familienfotografie war es auch im Familienfilm üblich, dass die Filmenden die Kamera an andere Familienmitglieder weiterreichten, um selbst vor die Linse treten zu können.

46 Vgl. Entscheidung der Schiedsinstanz (Anm. 1), S. 13.

47 Bei dem Mann mit Parteiabzeichen handelt es sich möglicherweise um den Leiter der »Hauptabteilung Berufserziehung und Betriebsführung« der Deutschen Arbeitsfront. Dieser hatte sich für die Villa Regenstreif interessiert, um darin eine »DAF-›Schulungsburg‹ für Betriebsführer« einzurichten. Vgl. Entscheidung der Schiedsinstanz (Anm. 1), S. 9.

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