Diversität

Historische Perspektiven auf einen Schlüsselbegriff der Gegenwart

  1. Die lange Geschichte der Diversität
  2. Diversität im 20. Jahrhundert
  3. Die vier Paradigmen der Diversität

Anmerkungen

Der Begriff »Diversität« hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Verbreitung erfahren. Traditionell bezeichnete das Wort nur einen Zustand der Verschiedenheit; in der Gegenwart erscheint es in vielen Kontexten, um dessen Gegenteil zu erreichen: Das Wort meint Verschiedenheit und zielt auf Gleichheit. Schulen und Universitäten regeln Chancengleichheit im Namen von Diversität, Unternehmen formen eine heterogene Belegschaft mittels eines »Diversitätsmanagements«, und Migrationsbewegungen haben die alte Debatte um den Multikulturalismus wieder belebt. Durch seine vielseitige Anschlussfähigkeit ist Diversität zu einem populären und meist positiv besetzten Begriff geworden, der theoretisch jedoch weithin unterbestimmt blieb. Seine Paradoxie besteht in der Kollektivierung von Individuen zu homogenen Gruppen bei gleichzeitiger Pluralisierung dieser Gruppen zu nebeneinanderstehenden Einheiten – ausdrücklich ohne eine umfassende Universalisierung anzustreben.

Diese Paradoxie gilt allerdings nur für einige soziale Kontexte; sie gilt noch nicht für den biologisch-ökologischen Zusammenhang, in dem der Begriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts zuerst in terminologischer Bedeutung verwendet wurde: »Biologische Diversität« oder (seit 1986) »Biodiversität« bezeichnet eine Vielfalt, nicht um eine Gleichheit anzustreben, sondern um die in Ähnlichkeitsklassen geordnete Mannigfaltigkeit der organischen Welt zu erfassen und zu messen. Allerdings konnte und kann auch im biologischen Kontext die Konzeptualisierung von Vielfalt durch das Interesse an Einheit motiviert sein, nämlich die Einheit eines ökologischen Systems, das allein über die Vielfalt seiner Komponenten stabilisiert werden kann. Die biologische Verwendung des Ausdrucks Diversität im Sinne eines Terminus, der für die soziale Verwendung eine wichtige Quelle und Referenz war und ist, begründete zu Beginn des 20. Jahrhunderts die eigentliche Geschichte des Diversitätsdiskurses. Zum Verständnis der normativen Aufladung und Funktion des Begriffs ist aber die ältere Vorgeschichte von großer Bedeutung, weil die ästhetischen Präferenzen und die kulturellen Assoziationen von Vielfalt mit Idealbildern wie dem Paradies historisch tief verwurzelt sind.

Biodiversität und sozial-kulturelle Diversität: eine verführerische konzeptionelle Parallelisierung, die viele Fragen aufwirft. Besucher*innen vor der »Biodiversitätswand«, einer Vitrine mit einer bunten Fülle von Tierpräparaten im Museum für Naturkunde, Berlin 2007.
(© Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0; via Wikimedia Commons, Naturkundemuseum Berlin – Präparationsvitrine, CC BY-SA 4.0)

1. Die lange Geschichte der Diversität

Die Wertschätzung der Verschiedenheit war ein zentrales Prinzip der antiken Ästhetik. Dies wurde allerdings erst in der aktuellen Konjunktur der Diversitätsforschung deutlich herausgearbeitet.1 Den beiden griechischen Ausdrücken für »Buntheit« (ποικĩλία) und »Wandel« (μεταβολὴ) kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Das Adjektiv poikilos kann heißen »vielfarbig, gescheckt, schillernd« oder auch konkret »gestickt«. Mit diesem handwerklichen Kontext der Stickerei war das Wort in besonderer Weise verbunden. Poikilia bezeichnete das Nebeneinander von scharf begrenzten Farbtupfern, nicht deren Vermischung oder Überlagerung. Das Wort wurde für vielerlei bunte, gescheckte oder aus noch wahrnehmbaren Einzelteilen zusammengesetzte Gegenstände verwendet. Die griechische Vorliebe für diese kontrastreiche Form der Gestaltung kann in Beziehung gesetzt werden zum Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher sozialer Gruppen in der Polis. Es fungierte als organisierende Grundlage für viele Bereiche des Lebens, für Politik und Ökonomie ebenso wie für Wissenschaft, Kunst und Sport. Ein grundlegendes Moment der poikilia in diesem parataktischen Sinne ist die Enthierarchisierung: Wettstreit kann nur unter Gleichrangigen bestehen. Betont wurde mit dem Prinzip nicht die vertikale Stratifizierung der Gesellschaft in oben und unten stehende Klassen, sondern die horizontale Nebenordnung von Ebenbürtigen.

Auch für die römische Antike war die Vielfalt – in der Form des »römischen Konzepts« der Variation2 – eine leitende ästhetische Kategorie. Variatio delectat konnte ausgehend von der Rhetorik zu einer sprichwörtlichen Aussage werden, die sich visuell unter anderem in den reichen naturalistischen Darstellungen einer Vielfalt von Pflanzen und Tieren in römischen Mosaiken und Wandgemälden manifestiert. Auch die varietas erscheint hier als ein Prinzip der Nicht-Assimilation, des kontrastreichen Nebeneinanderbestehens von Dingen, die sich nicht vermischen – und die analog zum sozialen Nebeneinander im römischen Vielvölkerstaat gedacht werden kann.

Für christliche Autoren, für die im Gegensatz zum römischen Polytheismus ein starkes religiöses Einheitsprinzip im Zentrum stand, stellte das antike Lob der Vielfalt ein Problem dar, auf das unterschiedliche Antworten gefunden wurden. Die dominante Strategie bestand darin, die Vielfalt zu begrüßen und sie als Ausdruck der Güte des einen großen Gottes zu sehen. So bezeichnete Augustinus die Variation der Pflanzen und die Verschiedenheiten der Tiere (diversitates animalium) als »großartig, ausgezeichnet, schön und staunenswert« und pries mit ihr Gott als deren Schöpfer.3 Auch Thomas von Aquin dachte die Vielfalt der Dinge in der Welt von Gott her und betonte ihren Wert, der sich daraus ergebe, dass Gott diese Vielfalt gewollt habe und durch die Vervielfältigung seines Wesens sogar selbst in den Dingen der Welt erscheine.4

Theologisch war das Lob der Vielfalt im Hochmittelalter aber durchaus umstritten. Vor allem die Pluralisierung der Kirche spielt dabei die entscheidende Rolle. In diesem Streit erlangte der Ausdruck diversitas erstmals eine terminologische Bedeutung. Das Substantiv erschien zwar zuvor bereits im klassischen Latein unter anderem bei Seneca und Plinius im Sinne von »Abstand«, »Getrenntheit«, »Verschiedenheit« oder auch »Vielfalt«.5 Aber erst im späten 11. Jahrhundert wurde es in einem spezifischen Kontext vermehrt gebraucht, nämlich in Debatten über die Entstehung einer Vielfalt von kirchlichen Orden mit jeweils verschiedenen Regeln (diversitas statutorum). Diese wurden einerseits aus der Variation der lokalen und zeitlichen Bedingungen der Glaubensgemeinschaften erklärt6 und damit gerechtfertigt, dass sie der Gefahr des geistigen Trotts entgegenwirken würden.7 Andererseits wurde die Pluralisierung von Glaubensrichtungen massiv bekämpft – so in einer Schrift zur Erhaltung der kirchlichen Einheit des späten 11. Jahrhunderts, in der es heißt, alles, was diversum sei, sei falsch; nur das unum, das Eine, könne Wahrheit beanspruchen.8

Auch wenn diversitas in den mittelalterlichen Kirchen-Auseinandersetzungen erstmals terminologisch erschien, kann das europäische Mittelalter nicht als Zeitalter der Diversität gelten. Eher war der Zwang zur Einheit im christlichen Mittelalter eine Ermöglichungsbedingung für die Wahrnehmung von Vielfalt und Abweichungen von der Norm.9 Eine ausgeprägte Erfahrung und Darstellung von Differenz setzte erst mit den Berichten von Fernreisen seit dem 13. Jahrhundert ein. Diversität fungierte dabei als ein Charakteristikum und Markenzeichen bestimmter Weltregionen. In der enzyklopädischen Tradition wurde besonders Indien für seine Diversität gepriesen, so etwa in »L’image du monde« (um 1245) des französischen Priesters Gautier de Metz: Die »diversitez d’Ynde« zeichne sich aus durch »moult grant montaingne«, »granz bois«, »granz compaingnies« und überall »moult de gent«, auch Wesen, die halb Tier, halb Mensch seien, und »moult d’autres bestes orribles qui ont cors d’oume, et ont teste de chien«.10

Politische und soziale Entwicklungen am Übergang vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit verschärften auch innereuropäische Diversifizierungsprozesse. Zu diesen zählten die Parzellierung der politischen Herrschaft und der Öffentlichkeit aufgrund der Schwäche überregionaler Mächte und das korrespondierende Erstarken lokaler Feudalherren. Der Historiker Chris Wickham sieht den Beginn dieser Entwicklung im 11. Jahrhundert mit der Entstehung eines Nebeneinanders von »lokalen zellulären Machtstrukturen«.11 Diese im Mittelalter einsetzende Bewegung fand ihre Fortsetzung in der Konkurrenz der Fürstenhöfe während der Renaissance, die im engen sozialen Miteinander von Theoretikern und Praktikern, Künstlern und Wissenschaftlern zu einer wichtigen Keimzelle der neuzeitlichen »Erfindung der Wissenschaft« wurde.12 In der politischen Theorie wurde die Vielheit unter anderem dadurch aufgewertet, dass – wie im politischen Denken Spinozas – der Menge (multitudo) eine die politische Macht fundierende Rolle zugeschrieben wurde, insofern über diese Macht das Recht definiert (multitudinis potentia definitur) und die Regierungsgewalt (imperium) konstituiert werde.13 Der Grund des Staates musste damit nicht mehr in der Einheit eines Volkes (oder seines Willens) bestehen (wie Hobbes es dachte), sondern konnte ohne vorgängige Annahme eines Einheitspunktes aus der Vielheit konstituiert werden, aus einem »offenen Zusammenhang des Handelns«.14

Diese heterogenen Faktoren, die in sehr unterschiedliche historische Kontexte und thematische Felder führen – von ästhetischen Vorlieben über soziale Verhältnisse, theologische Überlegungen und Fremdheitserfahrungen von Fernreisenden bis hin zu Entwicklungen der politischen Grundordnung – helfen zwar, die Wertschätzung von Diversität in den europäisch geprägten Kulturen zu erklären. Sie resultieren aber nicht in Theorien der Diversität, die dieses Heterogene zusammenführen könnten. Als erste wissenschaftliche Theorie der Diversität, die den bis dahin dominanten linearen, teleologischen Konzeptionen mit dem nur einen Fluchtpunkt im Menschen ein Ende bereitete, gilt Darwins Evolutionstheorie.15 Darwin zufolge gibt es nicht nur ein Ziel historischer Entwicklungen, sondern viele nebeneinanderstehende: Nicht in erster Linie der Mensch, sondern Diversität sei das Ergebnis der Evolution – und darüber hinaus auch der Ausgangspunkt aller Veränderungen, weil Evolution auf dem Prozess der differenziellen Reproduktion unterschiedlicher Formen beruhe. Ein Anfangspunkt für Theorien der Diversität im terminologischen Sinn ist mit Darwins Theorie zum »Ursprung der Arten« besonders insofern gesetzt, als es in dieser Theorie nicht nur um die Entstehung von Vielfalt im Gegensatz zu Einheit geht, sondern um eine Vielfalt, die in Klassen der Ähnlichkeit, die biologischen »Arten«, geordnet ist, bei der sich also die Operationen der Kollektivierung und Pluralisierung verbinden.

Frühneuzeitliche »Streumusterbilder« von Tieren begründen den bis in die Gegenwart verbreiteten Typus von Biodiversitätsbildern: die parataktische, unhierarchische und egalitäre Nebenordnung von Körpern »schöner« Tiere sehr verschiedener Arten in einer Ebene. Dieser Bildtypus bringt das Einzelne in seinem arttypischen Eigensinn und seiner Pluralität zum Ausdruck und verzichtet dabei auf die Darstellung einer Geschlossenheit, eines Systems oder auch nur der Interaktion der Einzelwesen, die vielmehr indifferent nebeneinanderstehen.
(Jan van Kessel d.Ä.: Insekten und Kriechtiere, um 1658, auf Kupfer,
39,3 × 56,2 cm, Rheinisches Landesmuseum Bonn, Inv. Nr. 36.530;
Wikimedia Commons/Public Domain)

2. Diversität im 20. Jahrhundert

Das neue Paradigma der Evolution verschaffte der Biologie im späten 19. Jahrhundert einen inneren Zusammenhalt und eine selbstbewusste Autonomie gegenüber der Physik. Ein weiterer Pluralisierungsschub in Bezug auf die Wissenschaften setzte mit der Verwissenschaftlichung zahlreicher Lebensbereiche ein, in deren Folge so grundlegende Disziplinen wie die Soziologie, Psychologie (einschließlich der Psychoanalyse) und Ökologie um die Wende zum 20. Jahrhundert entstanden. Konnte in der Frühen Neuzeit die Verwissenschaftlichung der Welt am Ideal einer bündigen Systematik und hierarchischen Ordnung der Prinzipien zu ihrer Erkenntnis orientiert werden – gemäß Aldous Huxleys Motto »pure science is concerned with the reduction of diversity to identity«16 –, so war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts umgekehrt: Die Wissenschaftsdynamik resultierte in einer inneren Pluralisierung, geprägt durch irreduzibel nebeneinanderstehende Wissenschaftslogiken. Max Weber, der selbst an der Etablierung dieser neuen Argumentationsordnungen beteiligt war, beschrieb die Autonomie der »Wertsphären« – zu denen neben der Wissenschaft und ihrer inneren Pluralität für ihn noch Kunst, Religion und Ethik zählten – als einen Konflikt; es stünden »die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander«:17 Etwas könne »wahr sein […], obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist«.18 Angeregt durch die neukantianische Wertlehre und ausgehend von Beobachtungen der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften behauptete Weber, dass alle »Strukturformen des Gemeinschaftshandelns« ihre »Eigengesetzlichkeit« aufwiesen und daher nicht hierarchisch, sondern nur parataktisch geordnet werden könnten.19

Neben den Wissenschaften führten auch andere historische Bewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Aufblühen pluralistischer Weltanschauungen. Zu diesen zählten ein intensivierter kultureller Austausch im Rahmen des wachsenden Welthandels und aufkommenden Tourismus sowie die Versuche zur Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche. In ihrer Summe machten diese Bewegungen die Begründung eines einzigen geschlossenen metaphysischen Systems unmöglich. So verkündete der Philosoph William James in seinem programmatischen Werk »A Pluralistic Universe« von 1909: »Things are ›with‹ one another in many ways, but nothing includes everything, or dominates over everything. The word ›and‹ trails along after every sentence. […]. Pluralism lets things really exist in the each-form or distributively.«20 An die Stelle der »All-Form« der Wirklichkeit sollte nach James die »Einzel-Form« oder »Jeweils-Form« (»each-form«) von nur für einen Kontext gültigen Bestimmungen treten. Der deutsche Philosoph Erich Adickes konstatierte zwei Jahre später »eine solche Vielheit und Verschiedenartigkeit gleichzeitiger Tendenzen, ein solches Neben- und Durcheinander diskrepantester Interessen«, dass eine Vereinheitlichung im Rahmen eines metaphysischen Systems ihm nicht mehr möglich erschien.21 Mit ähnlicher Stoßrichtung heißt es bei Wilhelm Dilthey über den »Widerstreit der Systeme«, dass der »Anspruch der Philosophien auf Allgemeingültigkeit« kaum noch einzulösen sei.22 Der Neukantianer Heinrich Rickert brachte diese Einsichten später auf die Formel: »Nur ein ontologischer Pluralismus wird dem Weltreichtum gerecht.«23 Den pluralistischen Manifesten stand allerdings eine anhaltende Sehnsucht nach Einheit gegenüber, die sich unter anderem in einem weltanschaulichen Hegemonialstreben der Naturwissenschaften äußerte – wie in Ernst Haeckels »Monismus« und dem 1906 gegründeten Deutschen Monistenbund.

Die pluralistischen Einstellungen des frühen 20. Jahrhunderts verschärften sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als Reaktion auf die extremen historischen Erfahrungen der 1930er- und 1940er-Jahre. Rassistisch begründete Entrechtungen und Völkermorde nie gekannten Ausmaßes erschütterten das bis dahin fest etablierte Denken in kulturellen Hegemonien, linearem Fortschritt der Zivilisierung und daraus begründeten Herrschaftsansprüchen. »Diversität« antwortete auf diese Erschütterungen mit einer umfassenden Absage an Hegemonie, Hierarchie und Hypotaxe. An die Stelle von einseitig propagierten Essenzialisierungen und Naturalisierungen traten Diskurse, die die Relativität der Standpunkte, die Bedeutung von teilhabender Selbstermächtigung und die Wechselseitigkeit von Anerkennungsverhältnissen betonten. Auch wenn die sich pluralisierenden Diskurse und Antidiskriminierungsdeklarationen nicht immer von einem Abbau hegemonialer Praktiken begleitet waren, fanden sie doch ihren gesellschaftlichen Ausdruck in Emanzipationsbewegungen und einem zumindest teilweise erfolgreichen Kampf für Gleichberechtigung.24

Allerdings entwickelte sich Diversität auf diesem Feld bis in die 1970er-Jahre nicht zu einem terminologisch verwendeten Begriff. So enthält beispielsweise die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 keinen Bezug zur kulturellen Vielfalt oder Pluralität, sondern primär universalisierende Aussagen über »alle Menschen« – sicher auch als Reaktion auf die Entrechtungen, die als Folge segregierender Rassetheorien praktiziert wurden. Der Menschenrechtsdiskurs der Zeit war offensichtlich noch primär von dem aufklärerischen Rechtsgebot der Gleichbehandlung geprägt. Er folgte dem Grundsatz, dass »Menschen ohne Unterschied« die Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen sollen, wie es in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 heißt.25 Als Rechtsideal war also noch immer die Blindheit der Justitia wirksam, die Unbeeinflussbarkeit des Rechts durch Macht, soziale Stellung und Aussehen. Der Diskurs erscheint noch weitgehend frei von der Dialektik des Diversitätsdenkens, nach der es notwendig ist, von Unterschieden zu sprechen, diese sogar zu betonen und in Verfahren der (positiven) Diskriminierung zu operationalisieren, um Gleichheitsrechte und Egalität sozial zu etablieren.

Auch im sozialwissenschaftlichen Diskurs spielte die Kategorie der Diversität lange Zeit keine zentrale Rolle. Selbst bei Niklas Luhmann, dessen Theorie sozialer Systeme wesentlich von Diversität und den autonomen Eigenlogiken sozialer Subsysteme handelt, erscheint der Ausdruck nur vereinzelt. Es findet sich bei ihm lediglich die Andeutung, dass Diversität die auf Kohärenz zielende »Semantik Alteuropas« sprengen könnte.26

Zu einem Terminus mit wissenschaftlich scharfer Bestimmung wurde Diversität aber bereits um 1900 auf einem anderen Feld: der Vegetationskunde. Die im Zuge der frühen Ökologie sich etablierenden quantitativen Untersuchungen der Organisationsebene von Lebensgemeinschaften, speziell »Pflanzenvereinen« oder »Pflanzengesellschaften«, erforderten statistische Methoden und Indizes, mit denen diese Gesellschaften charakterisiert werden konnten. Der Schweizer Botaniker Paul Jaccard führte in diesem Zusammenhang den Ausdruck Diversität als terminologisch verwendeten Begriff ein. Der entscheidende Schritt bestand darin, dass er das Wort nicht unspezifisch für die bloße Verschiedenheit von Dingen oder Verhältnissen gebrauchte – wie bereits manche Naturforscher des 19. Jahrhunderts27 –, sondern als Maß für den Artenreichtum einer Region (»la diversité des espèces« oder »la diversité numérique des espèces ou richesse florale«).28

Als positiver oder sogar zentraler Wert des Naturschutzes erschien Diversität allerdings erst einige Jahrzehnte später. Für den englischsprachigen Raum gilt eine Monographie des britischen Ökologen Charles Elton aus dem Jahr 1958 als das erste Buch, in dem für Diversität als primäres Ziel des Naturschutzes argumentiert wurde.29 Elton nannte ethische, ästhetische, ökonomische und ökologische Gründe für den Schutz der Diversität. So referierte er zustimmend die Auffassung, die Tiere hätten ein Recht zu existieren und in Ruhe gelassen zu werden; ästhetisch sei die Fülle der Tiere interessant, aufregend und schön und daher eine Quelle der Inspiration für Dichter und Künstler; ökonomisch sei die Vielfalt der Naturprodukte von großem Wert für den Menschen; und schließlich bestehe ein ökologischer Zusammenhang zwischen der Vielfalt und der Stabilität von Ökosystemen (»stability and richness«), was sich besonders in einer vielfältig mittels Hecken als Windschutz gegliederten Landschaft zeige.30 Es ist eine doppelte Ironie der Geschichte des Biodiversitätsdiskurses, dass diese frühe Wertschätzung ausgerechnet in einem Buch über die »Invasion« neuer Arten ausgedrückt wurde und dass die dabei nur indirekt genannten Referenzen zu den nationalistischen Wurzeln des Naturschutzes als Heimatschutz in die 1930er-Jahre zurückführten. In seinem viel rezipierten Plädoyer für die »Heckenlandschaft« hatte der Gartenarchitekt und Landschaftsplaner Alwin Seifert die Diversität 1938 als Signum der »deutschen Landschaft« reklamiert: »Wo immer sie noch schön ist, da ist sie vielfältig«; »unerhörte Mannigfaltigkeit« sei geradezu ihr »eigentliches Wesen«. »Da ist alles in ihr enthalten, was zum Begriff der deutschen Heimat gehört, Wald und Wiese und Feld und Baum und Busch und Wasser in jeder Form.«31

Bis in die 1970er-Jahre blieb Diversität ein Ausdruck, der außerhalb des biologischen Kontextes keine terminologische Verwendung hatte. In den großen deutschsprachigen Enzyklopädien erschien er zwischen 1840 und 1980 meist nur mit einer kurzen Erläuterung als »Verschiedenheit«.32 Diese geringe Semantisierung des Wortes stellte eine Voraussetzung für seine seit den späten 1970er-Jahren erfolgende multiple Aufladung dar, die einen Anschluss an sehr unterschiedliche Diskurse ermöglichte. Der parallele Aufstieg von Diversität als politischem Schlagwort in unterschiedlichen Kontexten fügt sich dabei gut in die Diagnose der 1970er-Jahre als wichtiger historischer Zäsur33 – und kann geradezu als Kennzeichen der 1979 beginnenden »Welt von heute«34 gelten. Seit dieser Zeit steht Diversität im Zentrum sozialer Emanzipationsbewegungen, kann zugleich die soziologisch beobachteten Entwicklungen zur Ästhetisierung und Individualisierung (bis zur »Gesellschaft der Singu­laritäten«35) auf den Begriff bringen und zeigt darüber hinaus die fundamentale Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses an. Die politische Aufladung des Begriffs erfolgte dabei parallel von verschiedenen Seiten: Ausgehend von den Zulassungsregeln amerikanischer Universitäten ist diversity seit Mitte der 1970er-Jahre ein wichtiges Schlagwort für soziale Bewegungen geworden; und auf biologischer Seite steigerte sich die seit den 1960er-Jahren in Naturschutzkreisen fest etablierte Sorge um den Verlust biologischer Diversität so weit, bis diese 1980 als größtes Gegenwartsproblem überhaupt erscheinen konnte (»reduction in the biological diversity of the planet is the most basic issue of our time«36). Die sprachliche Entwicklung im Deutschen hinkte dem Englischen etwas hinterher: Erst seit Ende der 1980er-Jahre und offenbar unter dem Einfluss internationaler Organisationen wie der UNESCO und der OECD begann sich Diversität im Deutschen aus ihrer biologisch-ökologischen Bedeutung zu lösen37 und war dann als »kulturelle« oder »soziale Diversität« seit der Jahrtausendwende regelmäßig ein sozialwissenschaftlicher Terminus.38 Bis zur letzten Auflage von 2006 schaffte der Ausdruck es mit dieser Bedeutung allerdings nicht in die »Brockhaus Enzyklopädie«.39

3. Die vier Paradigmen der Diversität

In dem schnellen Aufstieg von Diversität zu einem zentralen Schlagwort der Gegenwart lassen sich vier Paradigmen gegeneinander abgrenzen: ein Selbstentfaltungsparadigma, das den umfassenden Wertewandel westlicher Gesellschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beschreibt; ein Gerechtigkeitsparadigma, das getragen ist von Emanzipationsbewegungen und Bemühungen um Minderheitenschutz; ein Markt­paradigma, das ausgeht von einer neoliberalen, an den heterogenen Konsumbedürfnissen von Individuen orientierten Ökonomie; schließlich ein Naturschutzparadigma, das auf die Erhaltung nichtmenschlicher, vom Aussterben bedrohter Lebensformen und Lebensräume zielt.

Im Zentrum des Selbstentfaltungsparadigmas stehen das Individuum und die »Verwirklichung« seiner als »authentisch« empfundenen, je spezifischen Bedürfnisse und Eigenarten. Die Wurzeln dieses Paradigmas reichen in die Zeit der Romantik um 1800 zurück, in der das nonkonformistische Muster der aus der eigenen Innerlichkeit stammenden und nach außen demonstrierten Lebensführung des expressiven Individualismus als ästhetisches Ideal propagiert wurde. Es ging einher mit der Valorisierung des Besonderen und Vielfältigen, sei es in der Eigenart von Kulturen und Völkern, der Verbundenheit mit bestimmten Regionen und Landschaften oder der intensiven Pflege von Freundschaft und Liebe. Zu einem Massenphänomen mit der Konsequenz eines gesellschaftlichen »Strukturwandels« (Andreas Reckwitz) wurde die »soziale Logik des Besonderen« aber erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts.40 Sie profilierte sich als Gegenbewegung zur durch Uniformierung und Regulierung geprägten Kultur der Nachkriegsgesellschaft bis in die 1960er-Jahre. Mit dem Selbstentfaltungsparadigma stand nicht mehr die Existenzsicherung, sondern die »Lebensqualität« im Vordergrund – wie der von Willy Brandt 1971 verwendete Schlüsselbegriff lautete, der im folgenden Jahr zur Wahlkampfparole wurde.41 In der linksalternativen Szene der 1970er-Jahre, die eine Vorreiterrolle einnahm, galt es als Ideal, unabhängig vom sozial Geforderten oder Gewünschten »sein Ding zu machen«, die eigene Individualität zu entdecken und zu leben; »authentisch« wurde zum zentralen Schlagwort, sodass von einem »Zeit­alter der Authentizität« die Rede ist.42 Seinen deutlichen Ausdruck fand das Ideal des »expressiven Selbst« in Kontaktannoncen der Szene, die von einem »Code der Innerlichkeit« dominiert waren und in denen die Abweichung prämiert wurde: »Unkonventionell« und »kritisch« waren die am höchsten im Kurs stehenden Attribute, Pflicht- und Akzeptanzwerte wie »Solidität« demgegenüber von marginaler Bedeutung.43 Mit dieser Orientierung am Individuum ist notwendig eine Pluralisierung der Sinnsysteme verbunden, ein »galoppierender Pluralismus«44 – um Diversität geht es dabei aber nur vermittelt. Denn sie wird nicht direkt angestrebt und kann nicht angestrebt werden, weil bei diesem Paradigma das Individuum und nicht das Kollektiv im Zentrum steht. Ins Spiel kommt die Kategorie der Diversität allerdings, wenn sich die Individuen auf der Suche nach der Entfaltung ihrer Identität in Gemeinschaften, etwa Stilgemeinschaften, zusammenfinden.

Im Gerechtigkeitsparadigma geht es dagegen explizit und von Beginn an um Diversität. Ein wichtiger Schritt in seiner Geschichte bestand in der Etablierung von Diversität als Rechtsterminus durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten: Der Supreme Court nahm 1978 Stellung zum Beschluss der Universität Kalifornien, einen weißen Studenten nicht zum Studium an der Davis Medical School zuzulassen, obwohl er einen besseren Notendurchschnitt als manche seiner dunkelhäutigen Mitbewerber hatte. Gerechtfertigt wurde diese Entscheidung mit dem Argument, »a diverse student body« sei ein hinreichender Grund, um ethnische Gesichtspunkte (»race«) bei Zulassungsentscheidungen zu berücksichtigen.45 Mit dieser Verankerung von Diversität in Antidiskriminierungsprogrammen – die ihrerseits eine positive Diskriminierung zum Ausgleich bestehender Benachteiligungen einschließen – wurde der Begriff auch für den sozialen Bereich ethisch aufgeladen, und mit ihm verband sich die Anerkennung von sozialer Heterogenität als einem integralen Moment moderner Gesellschaften. Diversität fungiert seitdem als ein normatives Repräsentationsregulativ: Es fordert, dass vorhandene gesellschaftliche Vielfalt in wichtigen Teilbereichen – in Universitäten, Unternehmen, politischen Gremien und jeder anderen Form der Organisation – abgebildet wird. Weil sie eine zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen vermittelnde Rolle einnimmt, erweist sich die Kategorie der Diversität als sehr geeignet für derartige Repräsentationsaufgaben. Die zahlreichen Kritiken, die gegen Diversität als Gerechtigkeitskategorie angeführt wurden – so der Vorwurf, dass das Konzept diejenigen Differenzen betone, die es zu überwinden gelte (doing difference),46 dass es von den eigentlichen sozialen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten nur ablenke, die ökonomisch und nicht ethnisch bedingt seien,47 oder dass es eine Identitätspolitik etabliere, die sozialen Narzissmus befördere und den Sinn für das Gemeinsame unterwandere48 –, diese Kritiken konnten nichts daran ändern, dass Diversität sich als wichtige Kategorie etablierte. Der Begriff wurde zum »organisierenden Konzept« der Sozialwissenschaften49 – und der Politik, denn um ethnische Diskriminierung zu bekämpfen, muss von ethnischen Einteilungen gesprochen werden, auch wenn damit nicht bestritten werden muss, dass es noch andere Gerechtigkeitsprobleme gibt und Identitätspolitiken ihre Gefahren bergen. In der Bundesrepublik wurde der rechtliche und organisatorische Rahmen für die Achtung von Diversität im Sinne des Gerechtigkeitsparadigmas im Jahr 2006 doppelt verankert: einerseits im »Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz«, das sechs verschiedene Gründe der Benachteiligung nennt, um diese zu vermeiden – »Rasse« oder ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität; andererseits in der »Charta der Vielfalt – Für Diversity in der Arbeitswelt«, einem Verein unter Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin, dessen Ziel es ist, Diversität in der Unternehmenskultur zu fördern.

Die Diversitätsästhetik der kapitalistischen Warenwelt:
ein in Regalen aufgereihtes Nebeneinander von vielen Dingen,
die sich in diskrete Gruppen mit ausgeprägtem Markenprofil ordnen und sich darüber dem potenziellen Käufer anbieten. Diversität ist nicht zuletzt ein Produkt und das Medium der liberalen Marktökonomie.
(Arezzo/Italien, 3. August 2018; Foto: Georg Toepfer)

Der Erfolg von Diversität als sozialer Kategorie hängt dabei wesentlich auch daran, dass der Begriff zugleich als Marktparadigma fungiert. Diversifizierung des Warenangebots ist eine Verkaufsstrategie, die ein buntes Angebot erzeugt, um neue Konsumentengruppen zu erschließen und bestehende zu binden. Der Raum der Diversität ist marktförmig, weil Vielfalt Wahl ermöglicht (»the arena of variety is ›choice‹«50), einen zentralen Wert unserer Lebenswelt und Wirtschaft. Die Kombination aus individueller Wahl und industrieller Massenproduktion bringt dabei den biologischen Arten analoge Ähnlichkeitsklassen von Waren hervor: mit hohem Wiedererkennungswert markant gestaltete und gefärbte Produkte, die in zahlreichen Vertretern jeder Art in Supermärkten bereitstehen. Die marktökonomisch getriebene Herstellung von Diversität resultiert so auch in einer besonderen Ästhetik der Warenwelt. Boris Groys spricht in seiner Auseinandersetzung mit der »herrschenden postmodernen Vorliebe für bunte Vielfalt« von einem »Markt-Geschmack«, einem durch die Märkte geformten und auf die Märkte ausgerichteten Geschmack, der die bunte Vielfalt der Traditionen aufgreift und gewinnbringend zu verkaufen sucht. Diese Marktorientierung erklärt Groys aus der Entstehung der globalisierten Informations-, Medien- und Unterhaltungsmärkte seit den 1970er-Jahren, und er bringt sie in einen Gegensatz zu »radikalen« ästhetischen Projekten, die mit aller Tradition brechen würden.51 Die Entstehung einer stark diversifizierten Produktpalette bei vielen Verbrauchsgütern in den 1970er-Jahren kann auch als Ergebnis einer Marktsättigung mit standardisierten Produkten zu dieser Zeit gedeutet werden;52 eine gruppenspezifischere Produktion und Vermarktung versprach seitdem größere Gewinnmargen. Die marktwirtschaftlich getriebene Inwertsetzung der Vielfalt erstreckt sich aber nicht nur auf Waren, sondern im Prinzip auf jeden Gegenstand und jedes Phänomen, für das sich Interessenten finden, auf Naturobjekte, die ökonomisch »kommodifiziert« werden, ebenso wie auf »verwertbares Humankapital«, das Unternehmen zu erweitern bemüht sind, indem »kulturelle Widerstände gegen die Einstellung von Frauen, Dunkelhäutigen oder Migranten« abgebaut werden.53

Zu einem gleichermaßen ästhetisch, ethisch, epistemisch und ökonomisch inszenierten Prinzip wurde Diversität auch im Rahmen des Naturschutzparadigmas in Gestalt der seit 1986 propagierten Biodiversität. Die Rationalität in der Prägung dieses Neologismus lag zunächst darin, das »Logische« aus der »biologischen Diversität« herauszukürzen, um dadurch Raum für emotion und spirit zu schaffen, also Breitenwirksamkeit zu erzeugen, wie der Botaniker Walter G. Rosen, auf den die Wortprägung zurückgeht, später sagte.54 Biodiversität wurde seitdem so weit gefasst, dass das Wort als Synonym für »organische Natur« erscheinen kann. Über seine Propagandafunktion hinaus leistet der Begriff metaphysische Arbeit, indem er eine bestimmte Perspektive stark macht: Die Natur als Biodiversität zu verstehen heißt, in bestimmten Formen von der Natur zu reden, vor allem von biologischen Arten, außerdem von Typen auf anderen Ebenen, wie genetischen Varianten oder Ökosystemen. In den Typisierungen und Portionierungen von Natur, die mit der Perspektive der Biodiversität gewonnen werden, geht es meist um einzelne Individuen und Arten – schöne, attraktive Tiere bevorzugt, die an kulturelle Stereotypen wie christliche Schöpfungs-, Paradies- und Archevorstellungen ebenso anzuschließen sind wie an jeweils eigene individuelle Naturerfahrungen. Symptomatisch dafür steht der Titel des erfolgreichen bayerischen Volksbegehrens für Artenvielfalt (2019), der bezeichnenderweise »Rettet die Bienen!« und nicht etwa »Gegen das Insektensterben!« lautete. Gegenüber dem Bezug auf konkrete Tierarten treten abstraktere Vorstellungen von der Einheit der Natur und ihrem Funktionieren in übergeordneten ökologischen Systemen unter dem Schlagwort der Biodiversität zurück. Ihren ästhetischen Ausdruck findet diese individuen- und artenzentrierte Metaphysik in der Vorliebe für Parataxen, die auflistende Nebenordnung, die dem Einzelnen gerecht zu werden versucht, indem es nicht gleich in ein höheres System der Interdependenzen eingeordnet, sondern zunächst für sich beschrieben wird. In Zeiten einer umfassenden Subjektorientierung kommt dem Begriff dabei zugute, dass er vom Individuum her gedacht ist. Biodiversität ist etwas, das sich anfassen und sammeln, inventarisieren und bewirtschaften lässt. Individuen und Arten kann man zählen, auflisten und schützen. Das bietet Vorteile nicht nur für die anschauliche Darstellung, sondern auch für die ökonomische Verwertung und den Naturschutz.

Worin besteht nun der Zusammenhang dieser vier Paradigmen der Diversität? Handelt es sich bei der Verwendung des gleichen Ausdrucks in den so verschiedenen Kontexten des individuellen Strebens nach Selbstverwirklichung, der sozialen Emanzipationsbewegungen, des Wirtschaftsliberalismus und des Naturschutzes um mehr als eine »verführerische Analogie«?55 Eine strukturelle Ähnlichkeit der vier Paradigmen besteht insofern, als Diversität kontextübergreifend das Prinzip der reihenden Nebenordnung betont und dabei eine gegenüber Unterschieden tolerante Haltung fördert. Im Namen von Diversität geht es um heterogene Perspektiven, die sich nicht vereinheitlichen lassen; das Konzept bezeichnet eine nicht von einem Einheitspunkt gedachte oder auf einen solchen bezogene Pluralität. Kontextübergreifend sind seine Gegenbegriffe daher »Universalismus«, »Einheit«, »Harmonie« und »System«, oder auch konkreter: individueller »Konformismus«, soziale »Assimilation«, ökonomische »Planung« und ökologisches »Gleichgewicht«. Vorstellungen von Einheit werden als partikular, interessengeleitet und ideologisch zurückgewiesen.

Über diese formale Parallele hinaus profitiert die Verwendung des Begriffs in einem Kontext von seiner Verwendung in den anderen Kontexten. Dies lässt sich besonders deutlich für die soziale Diversität zeigen, die in mancher Hinsicht die Nachfolge von »Multikulti« angetreten hat. Gerade weil das Konzept häufig ökonomisch interpretiert und mit biologischen Metaphern erläutert wird, erweist es sich im Verhältnis zum Multikulturalismus als überlegen. Dies zeigt sich deutlich an den Reden der deutschen Bundeskanzlerin in den Jahren 2007 bis 2010: Angela Merkel erklärte den Multikulturalismus (ohne weitere Begründung) für »absolut gescheitert«; Diversität hielt sie dagegen für eine gute Sache, weil die Vielfalt der Belegschaft die Leistungsfähigkeit und Robustheit eines Unternehmens fördere – gerade so, wie die Vielfalt von Pflanzen und Tieren die Stabilität natürlicher Systeme bedinge.56 Der Erfolg des Konzepts der Diversität in der politischen Sprache kann damit zu nicht geringen Teilen daraus erklärt werden, dass es heterogene Kontexte aufeinander bezieht und unter einem begrifflichen Dach verhandelt. Im Rahmen klassischer Wertetheorien formuliert, entwickelte sich Diversität zu einem zentralen Hochwertbegriff, der gleich vier kulturelle Wertebereiche in Resonanz zueinander bringt:57 die Suche nach Selbstverwirklichung im ästhetisch Schönen einer selbstbestimmten, sinnlich erfüllten Lebensführung (in deren Konsequenz soziale Diversität liegt); die Forderung nach Gleichberechtigung im Sinne des ethisch Guten, die im Kampf um Anerkennung benachteiligter Gruppen von Unterschieden spricht, um Gleichheit zu erzielen; das ökologische Bewusstsein vom wissenschaftlich Wahren in der Erfassung der biologischen Vielfalt und ihrer Rolle für ökologische Systeme; sowie die Effizienz eines Wirtschaftsdenkens im ökonomisch Nützlichen, das die Bedürfnisse des Marktes befriedigt und nicht selten erst hervorbringt. Indem die Kategorie der Diversität dies alles zusammenführt, kann sie sich zwar umfassender Beliebtheit erfreuen, wird in ihrer genauen Bedeutung aber immer unklarer: »diversity, a quality that just about everyone can love, not least because no one can define it«.58


Anmerkungen:

1 Vgl. Adeline Grand-Clément, Poikilia, in: Pierre Destrée/Penelope Murray (Hg.), A Companion to Ancient Aesthetics, Chichester 2015, S. 406-422.

2 William Fitzgerald, Variety. The Life of a Roman Concept, Chicago 2016.

3 Augustinus Hipponensis, Enarrationes in Psalmos (ca. 400 AD), 145, 12.

4 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles (1259–1264); vgl. Gottfried Heinemann, Vom Wert der Vielfalt in pluralistischen Kosmologien, in: Thomas Kirchhoff/Kristian Köchy (Hg.), Wünschenswerte Vielheit. Diversität als Kategorie, Befund und Norm, Freiburg i.Br. 2016, S. 23-58, hier S. 54.

5 Vgl. <http://www.biological-concepts.com>, s.v. »diversity«.

6 Bernold von Konstanz, De vitanda excommunicatorum communione (ca. 1090), in: Patrologia latina 148, S. 1181A-1218C, hier S. 1215A; vgl. Klaus Schreiner, Gemeinsam leben. Spiritualität, Lebens- und Verfassungsformen klösterlicher Gemeinschaften in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters, Berlin 2013, S. 136.

7 Anselm von Havelberg, De unitate fidei et multiformitate vivendi ab Abel iusto usque ad novissimum electum (ca. 1150), in: Patrologia latina 188, S. 1141-1169, hier S. 1143D, S. 1144C; vgl. Winfried Eberhard, Ansätze zur Bewältigung ideologischer Pluralität im 12. Jahrhundert: Pierre Abélard und Anselm von Havelberg, in: Historisches Jahrbuch 105 (1985), S. 353-387, hier S. 371.

8 Liber de unitate ecclesiae conservanda (ca. 1100), Hannover 1883, S. 128: »quicquid diversum est, hoc utique verum non est; est enim Deus verax«.

9 Vgl. Michael Borgolte, Wie Europa seine Vielfalt fand. Über die mittelalterlichen Wurzeln für die Pluralität der Werte, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a.M. 2005, S. 117-163.

10 Gautier de Metz, L’image du monde de Maître Gossouin (1245), Rédaction en prose, hg. von O.H. Prior, Lausanne 1913, S. 111-119.

11 Chris Wickham, Medieval Europe, New Haven 2016, Kap. 6.

12 David Wootton, The Invention of Science. A New History of the Scientific Revolution, London 2015.

13 Baruch de Spinoza, Politischer Traktat (1677), hg. von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1994, S. 28 (II, 17).

14 Martin Saar, Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Frankfurt a.M. 2013, S. 350.

15 Vgl. Peter Wood, Diversity. The Invention of a Concept, San Francisco 2003, S. 84.

16 Aldous Huxley, Science, Liberty and Peace, London 1947, S. 27.

17 Max Weber, Wissenschaft als Beruf [1919], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl. Tübingen 1988, S. 582-613, hier S. 603.

18 Ebd., S. 604.

19 Ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [1922], hg. von Johannes Winckelmann, 5., rev. Aufl. Tübingen 1972, S. 201.

20 William James, A Pluralistic Universe, London 1909, S. 321, S. 324.

21 Erich Adickes, Die Zukunft der Metaphysik, in: Max Frischeisen-Köhler (Hg.), Weltanschauung. Philosophie und Religion, Berlin 1911, S. 219-252, hier S. 243.

22 Wilhelm Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, in: Frischeisen-Köhler, Weltanschauung (Anm. 21), S. 3-51, hier S. 4.

23 Heinrich Rickert, Thesen zum System der Philosophie [1932], in: ders., Philosophische Aufsätze, hg. von Rainer A. Bast, Tübingen 1999, S. 319-324, hier S. 320.

24 André L. Blum, Einführung: Gesellschaftliche Diversität, in: ders. u.a. (Hg.), Diversität. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Würzburg 2016, S. 125-154.

25 Gesetz betreffend das Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, in: Bundesgesetzblatt Teil II, Nr. 19 vom 24.11.1953, S. 559-589, hier S. 560.

26 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1997, S. 894.

27 Vgl. z.B. Charles Darwin, On the Origin of Species, London 1859, S. 169: »the beautiful and harmonious diversity of nature«.

28 Paul Jaccard, Étude comparative de la distribution florale dans une portion des Alpes et du Jura, in: Bulletin de la Société Vaudoise des Sciences Naturelles 37 (1901), S. 547-579, hier S. 573; ders., Lois de distribution florale dans la zone alpine, in: Bulletin de la Société Vaudoise des Sciences Naturelles 38 (1902), S. 69-130, hier S. 86.

29 Vgl. Timothy J. Farnham, Saving Nature’s Legacy. Origins of the Idea of Biological Diversity, New Haven 2007, S. 181f.

30 Charles Elton, The Ecology of Invasions by Animals and Plants, London 1958, S. 154-159.

31 Alwin Seifert, Naturnahe Wasserwirtschaft [1938], in: ders., Im Zeitalter des Lebendigen. Natur, Heimat, Technik, Dresden 1941, S. 51-69, hier S. 56.

32 Heinrich August Pierer, Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit, 2. Aufl., Bd. 8, Altenburg 1841, S. 438; ebenso bis zur fünften und letzten Auflage 1868 und ebenfalls so in: Herders Conversations-Lexikon, Bd. 2, Freiburg i.Br. 1854, S. 410; Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 5, Leipzig 1906, S. 63, und Brockhaus Enzyklopädie, 14. Aufl., Bd. 5, 1892, S. 365, und die folgenden bis zur 18. Aufl. 1978.

33 Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, 3., ergänzte Aufl. 2012; Ariane Leendertz/Wencke Meteling (Hg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er Jahren, Frankfurt a.M. 2016.

34 Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019.

35 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.

36 Thomas E. Lovejoy, Foreword, in: Michael E. Soulé/Bruce A. Wilcox (Hg.), Conservation Biology. An Evolutionary-Ecological Perspective, Sunderland 1980, S. v-ix, hier S. ix.

37 Seminar über Fremdenfeindlichkeit und Diversität Ethnischer Minoritäten, Luzern, 29. April 1988, Schlußbericht, Nationale Schweizerische UNESCO-Kommission, Bern 1988.

38 Vgl. z.B. Nicola M. Pless, Globalisierung und der Umgang mit kultureller Diversität, in: Thomas Maak/York Lunau (Hg.), Weltwirtschaftsethik. Globalisierung auf dem Prüfstand der Lebensdienlichkeit, Bern 1998, S. 355-366; Wolfram Elsner, Diversität und Interaktion sozio-ökonomischer Kulturen. Globale Uniformierung vs. Vielfalt kultureller Identitäten. Einführende Überlegungen, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 36 (1999) H. 123, S. 8-15; Birger P. Priddat, Aufschaukelnde Gerechtigkeit. Soziale Diversität und Krise des Sozialstaats, in: Universitas 55 (2000), S. 17-24; Barrie Stevens, Soziale Diversität und die kreative Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, in: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) (Hg.), Die kreative Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, Paris 2000, S. 7-29.

39 Die letzten drei Auflagen des entsprechenden Bandes der Brockhaus Enzyklopädie (von 1988, 1996 und 2006) verweisen allein auf naturwissenschaftliche, primär biologische Verwendungen.

40 Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten (Anm. 35), S. 11.

41 Willy Brandt, Rede vor dem Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing am 13. Juli 1971, in: Bundeskanzler Brandt, Reden und Interviews, o.O. [Bonn] 1971, S. 576-584, hier S. 584. Brandt bringt den Begriff in Verbindung mit einer Situation, in der »die materieller Bedürfnisse an Gewicht verlieren gegenüber dem Suchen nach Gerechtigkeit, Teilnahme, Hoffnung – und Liebe« (S. 583).

42 Als Überblick vgl. Achim Saupe, Authentizität, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.8.2015.

43 Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 670.

44 Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge 2007, S. 300.

45 Vgl. Wood, Diversity (Anm. 15), Kap. 5.

46 Stefan Hirschauer, Humandifferenzierung. Modi und Grade sozialer Zugehörigkeit, in: ders. (Hg.), Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist 2017, S. 29-54.

47 Walter Benn Michaels, The Trouble with Diversity. How We Learned to Love Identity and Ignore Inequality, New York 2006.

48 Mark Lilla, The End of Identity Liberalism. Our fixation on diversity cost us this election – and more, in: New York Times, 18.11.2016.

49 Steven Vertovec, Formulating Diversity Studies, in: ders. (Hg.), Routledge International Handbook of Diversity Studies, New York 2015, S. 1-20, hier S. 4.

50 Fitzgerald, Variety (Anm. 2), S. 3.

51 Boris Groys, Jenseits der Heterogenität: Die Ideologie der Cultural Studies und ihr postkommunistisches Anderes, in: Okwui Enwezor u.a. (Hg.), Demokratie als unvollendeter Prozess, Kassel 2002, S. 349-368, hier S. 352.

52 Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten (Anm. 35), S. 105.

53 Stefan Hirschauer, »Welt ohne Differenzierungen ist undenkbar«, Interview in: Standard, 25./26.10.2016, S. 18.

54 Vgl. David Takacs, The Idea of Biodiversity. Philosophies of Paradise, Baltimore 1996, S. 37.

55 David Heyd, Cultural Diversity and Biodiversity: A Tempting Analogy, in: Critical Review of International Social and Political Philosophy 13 (2010), S. 159-179.

56 Vgl. Peter C. Pohl/Hania Siebenpfeiffer, Einleitung, in: dies. (Hg.), Diversity Trouble. Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur, Berlin 2016, S. 9-26, hier S. 12f.

57 Für diese Vierteilung der kulturellen Wertebereiche vgl. Werner Flach, Grundzüge der Ideenlehre. Die Themen der Selbstgestaltung des Menschen und seiner Welt, der Kultur, Würzburg 1997, S. 15.

58 Kelefa Sanneh, The Limits of »Diversity«, in: New Yorker, 9.10.2017.

Siehe zum Weiterlesen:
Rüdiger Graf, Zeitgeschichte neurodivers? Standpunktepistemologie und (geschichts-)wissenschaftliche Kommunikation, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 19 (2022), S. 109-127.

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