»Alternative Fakten«, »erinnerungskulturelle Wenden«, Konflikte um Museen und Gedenkstätten, historische Sehnsüchte und Ressentiments – es nimmt nicht Wunder, dass der Aufstieg des Populismus1 überall in Europa auch von der Geschichtswissenschaft als Herausforderung verstanden wird. Das gilt in besonderem Maße für Deutschland, wo die politische Ordnung so sehr mit einer spezifischen Geschichtserfahrung und Geschichtsdeutung verbunden ist. Seit den Mobilisierungserfolgen von »Pegida« ab 2014 und der »Alternative für Deutschland« (AfD) ab 2015 steht der liberale Basiskonsens mit seiner um selbstkritische Reflexion und historische Verantwortung modellierten Erinnerungspolitik öffentlich unter Druck wie selten zuvor.
Aus diesem Grund sind deutsche Historiker/innen vielleicht mehr noch als ihre europäischen Fachkolleg/innen gefragt, sich explizit zu den gesellschaftlichen Verschiebungen zu positionieren. Manche Historiker/innen melden sich öffentlich zu Wort, bekennen sich zum »eingreifenden Denken« und rufen zur Verteidigung der Demokratie, gar zum »Widerstand« auf.2 Doch für die Disziplin als solche stellen sich fundamentale Fragen: Ist der auftrumpfende nationale Populismus bloß eine weitere legitime Position im breiten Spektrum demokratischer Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt, die es zu ertragen gilt? Oder bedroht er mit seiner anti-elitären, anti-intellektuellen und anti-akademischen Stoßrichtung letztlich auch die Fachpraxis der Historiker/innen – und damit neben der liberalen Demokratie die Geschichtswissenschaft als Ganze?
Die breit gefühlte Dringlichkeit, dass man gerade als Historiker/in »etwas machen muss«, mündete im September 2018 in eine Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD). Unter dem Titel »Zu den gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie« wurde sie von Petra Terhoeven und Dirk Schumann (Göttingen) initiiert und auf dem Münsteraner Historikertag von der Mitgliederversammlung angenommen, mit großer Mehrheit der Anwesenden. Gegen diese »Politisierung der Geschichte« wurde aber rasch heftiger Widerspruch artikuliert, zunächst von dem Journalisten und studierten Historiker Patrick Bahners in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ), dann von Kollegen aus der Geschichtswissenschaft.3 Die Kritiker bezweifelten, dass eine »politische« Resolution der Berufsvertretung nötig war, oder klug, oder überhaupt verbandsrechtlich erlaubt. Die Reihen der Unterstützer/innen der Resolution lichteten sich rasch, auch wenn viele Kolleg/innen mit dem VHD-Vorstand insistierten, dass der Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland »das Geschäft der Historikerinnen und Historiker« berühre.4 Tatsächlich ist die Debatte lesbar als eine Selbstverständigung darüber, wie denn »das Geschäft« der Fachhistoriker/innen gegenwärtig genau zu bestimmen sei. Die Verbandsgeschichte ist reich an solchen Selbstfindungskontroversen über Aufgaben und Identität der »Zunft«.5
Wie fällt die Bilanz diesmal aus? Nachdem der VHD selbst Mitte Februar 2019 in Berlin eine weitere Podiumsdiskussion veranstaltete, wo die Gegner wie nach einem heftigen Familienstreit wieder das Gespräch suchten, kann man auf den Konflikt zurückblicken. Sind wir trotz (oder wegen) der Polarisierung im Fach klüger geworden? Hat die Selbstvergewisserung zu einem Konsens geführt? Welche Streitfragen sind weiterhin dringlich? Ich rekapituliere zunächst die Resolution und gehe dann auf drei Hauptkritikpunkte ein, um zu einer Bewertung der Debatte zu gelangen.
Die Resolution besteht aus einem allgemeinen und einem begründenden Teil. Sie spricht zu Beginn von »maßlose[n] Angriffe[n] auf die demokratischen Institutionen«, die derzeit »die Grundlagen der politischen Ordnung« bedrohten: »Als Historikerinnen und Historiker halten wir es für unsere Pflicht, vor diesen Gefährdungen zu warnen.« Gegenüber der Schnelllebigkeit der heutigen politischen und medialen Dynamik wird betont, »dass nur ein Denken in längeren Zeiträumen die Zukunftsfähigkeit unseres politischen Systems auf Dauer gewährleisten kann«. Darin liege »die Aufgabe« der Geschichtswissenschaft: »durch die Analyse historischer Entwicklungen auch zur besseren Wahrnehmung von Gegenwartsproblemen beizutragen und die Komplexität ihrer Ursachen herauszuarbeiten«.
Es folgen fünf knapp formulierte »Grundhaltungen des demokratischen Miteinanders«, die jeweils in kurzen Absätzen konkretisiert und historisch begründet werden. Die Verfasser/innen warnen davor, die »antidemokratische Sprache der Zwischenkriegszeit« wieder aufzugreifen; als Beispiele werden »Beschimpfungen« wie »Volksverräter« und »Lügenpresse« genannt. Zweitens verwerfen sie die »Fiktion« eines »einheitlichen Volkswillens«, unter anderem mit einem Verweis auf den Aufstieg des Nationalsozialismus. Der dritte und der vierte Absatz zielen auf gegenwärtige politische Probleme und argumentieren »im Zeichen von pluralistischer Demokratie und unantastbaren Menschenrechten« »[f]ür ein gemeinsam handelndes Europa, gegen nationalistische Alleingänge« sowie »[f]ür Humanität und Recht, gegen die Diskriminierung von Migranten«. Dabei behauptet die Resolution eine historische Verantwortung Europas zumindest für einen Teil der heutigen globalen Konfliktlagen und sieht Migration als »historische Konstante«, die »die beteiligten Gesellschaften insgesamt bereichert« habe. Plädiert wird schließlich »[f]ür eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit« vor allem des Nationalsozialismus und »gegen den politischen Missbrauch von Geschichte«, nicht zuletzt um die heute »stabile« deutsche Demokratie »gegen ›alternative Fakten‹ zu verteidigen«.
Beide Teile der Resolution richten sich ausdrücklich gegen (rechts)populistische Slogans, ohne die AfD zu erwähnen. Während aber der grundsätzlichere erste Teil kaum auf Widerrede stieß – sondern höchstens auf die Kritik, dass es überflüssig oder sogar anmaßend sei, Selbstverständliches zu artikulieren6 –, wurde gegen den zweiten, konkretisierenden Teil sofort der Vorwurf erhoben, er sei zu einseitig und zu linksliberal. Dies machte es einer Reihe von konservativen Kritikern unmöglich, der Resolution zuzustimmen. Bahners verspottete die Historiker/innen geradezu, die sich wie die »Lehrer Deutschlands« aufgespielt hätten. Sie »glauben, dass sie sich nützlich machen müssen«, und stellten sich »der AfD in den Weg«: moralisch überheblich, paternalistisch und parteiisch. Den Initiatoren habe »die allbeherrschende, verantwortungsvolle Pflicht gegen den Staat die Feder [geführt]«, denn sie wählten lauter Formulierungen, »mit denen seit drei Jahren die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel verteidigt wird«. Kurz und prägnant: »Im Historikermilieu scheint die Hegemonie des sogenannten linksliberalen Common Sense ungebrochen.«7 Es folgten in der »FAZ« unter anderem die Historiker Dominik Geppert (Potsdam) und Peter Hoeres (Würzburg), die der »möglichst geschlossene[n] Einheitsfront der Wohlmeinenden« in ihrem Fach ohnehin nicht angehören mochten. Diese wolle ja bloß demonstrieren, »dass die deutsche Geschichtswissenschaft die Zeichen der Zeit diesmal rechtzeitig begriffen hat und zum kollektiven Widerstand gegen die Mächte der Finsternis entschlossen ist«.8 Für die Initiatorin Petra Terhoeven war der Widerspruch symptomatisch: »Wenn dieser Text als linksliberales, sogar parteipolitisches Papier gilt, zeigt das, wie weit sich der Diskurs nach rechts verschoben hat.«9
Innerhalb und dann weit außerhalb der »FAZ« konzentrierte sich die Kritik vordergründig auf prozedurale Fragen: War die »politische« Resolution von Münster ein Bruch in der Verbandsgeschichte? War sie in einer zweifelhaften Stimmprozedur etwa »durchgepeitscht« worden?10 Erst danach ging es um den Inhalt sowie um die Spannung zwischen beiden Teilen der Resolution. Halten die Einwände einer unaufgeregten Betrachtung stand?
Zur ersten Frage lässt sich nüchtern festhalten, dass der VHD seit jeher auf seinen Versammlungen Resolutionen verabschiedet, die »Erklärungen« des Faches für die Außenwelt darstellen. Dass die »Zunft« auch aus klaren politischen Anlässen heraus Selbstverständigungsdebatten führt und sich mit Stellungnahmen hervortut, ist nichts Ungewöhnliches – die jetzige klare Explikation politischer Grundsätze ist in dieser Form indes neu. VHD-Resolutionen blieben in der Vergangenheit politisch meist implizit. Doch bei näherem Hinsehen kann man hier viele Abstriche machen, wie beispielsweise ein Blick in die frühen 1990er-Jahre zeigt. So beschränkten sich die beiden Verbandserklärungen zur Umstrukturierung der ostdeutschen Geschichtswissenschaft 1990 zwar äußerlich auf wissenschaftspolitische Forderungen, doch waren diese durchtränkt mit allgemeinpolitischen Annahmen und Zielen im Vereinigungsprozess.11 Ohne die letzteren öffentlich ganz auszuformulieren, betrieb der Verband vereinigungsstrategische Realpolitik, die zum Beispiel die Demontage und den Ausschluss sozialistischer Eliten zum Ziel hatte. Ohne die Partei zu erwähnen, waren beide Erklärungen gegen die SED/PDS und ihre (ehemals) führenden Historiker/innen gerichtet, samt ihrer in der Vereinigungskrise so gefürchteten »Seilschaften«. Dementsprechend wurden die Resolutionen in Kreisen der Ausgegrenzten als rein politische Erklärungen empfunden, begleitet von einer (diesmal im Zusammenspiel mit der »FAZ« betriebenen) genau orchestrierten »Medienkampagne«.12 Was seinerzeit als Handlungsmaxime eher implizit blieb – die Vorstellung, dass westdeutsche Wissenschaftsmanager alles in der Hand behalten und den in der Bundesrepublik erreichten Stand der Demokratie nicht aufs Spiel setzen sollten –, wurde dadurch nicht weniger politisch.
1994, auf dem 40. Deutschen Historikertag in Leipzig, verabschiedete der Verband nicht weniger als vier Resolutionen, darunter eine zum Stil und Inhalt damaliger Kontroversen um die »Aufarbeitung« der DDR-Geschichte. Unter dem Titel »Zum Umgang mit Zeitgeschichte in der Öffentlichkeit« erinnert der damalige Text durchaus an die heutigen Besorgnisse: »Es gibt Mißbrauch zeithistorischer Informationen im tagespolitischen Kampf. Die Leichtfertigkeit, mit der bisweilen alle Grundsätze der Quellenkritik und der historischen Wahrheitsfindung über Bord geworfen werden, ist geeignet, die politische Kultur des Landes zu beschädigen und das Ansehen der Geschichtswissenschaft in der Öffentlichkeit zu beeinträchtigen.« Und ähnlich wie heute reagierten die Historiker/innen 1994 mit einigen relativ grobschlächtigen und dennoch richtungsweisenden »Grundsätzen« ihrer Wissenschaft, etwa zur Quellenkritik und Kontextualisierung. Der letzte Leitsatz tarnte den Begriff der »Politik« als »Ordnungsvorstellungen« und suchte die »Verständigung über Partei- und Lagergrenzen hinweg« verbindlich festzuschreiben: »Dies entspricht nicht nur wissenschaftlichen Grundsätzen, sondern auch den Erfordernissen der politischen Kultur im sich vereinigenden Deutschland.«13 Solche Beispiele belegen, dass die Suche nach öffentlicher Positionierung der Geschichtswissenschaft häufiger mit einer politischen Argumentation in Bezug auf das demokratische Gemeinwesen hantiert. So explizit wie nun in Münster geschah das allerdings kaum zuvor. Dabei zeigen internationale Interventionen des VHD im Namen der Wissenschaftsfreiheit mitunter durchaus eine klare Kante, jüngst etwa die Stellungnahme zur polnischen Gesetzesnovelle mit Bezug auf den Holocaust (Februar 2018) oder zur Bedrohung der Central European University in Ungarn (April 2017).14
Als zweites Thema der Kritik wurde das Stimmverfahren in Münster von einigen Kritikern sehr forsch delegitimiert. Geppert und Hoeres sprachen von »Gruppendruck« und einem »Zwang zum öffentlichen Bekenntnis« im VHD. Es sei in der Mitgliederversammlung weniger darum gegangen, »strittige Fragen sachlich und kontrovers zu diskutieren, als vielmehr, das moralisch vermeintlich Richtige per Akklamation zur Geltung zu bringen«. Dagegen habe sich »eine kleine Minderheit auf dem Historikertag« tapfer gewehrt, die sich nun in der Rolle der »Überstimmten« etwas dramatisch vom Ergebnis distanzierte.15 Sie seien für eine öffentliche Stellungnahme »in Haftung« genommen worden, die sie nicht teilten. Der Historiker Michael Wolffsohn vergriff sich mit dem Vergleich zur »Verkörperung der Volontée Générale«, die er mit dem »Mord an Millionen Menschen« in Verbindung brachte, und die »FAZ« druckte diesen offenen Brief an den VHD auch noch ab.16 Das mag alles Geschmacksache sein – so viel Dissens muss ein pluralistisches Gemeinwesen aushalten.
Dennoch kann diese Kritik nicht überzeugen. Dass es »überstimmte« Minderheiten gibt, ist ja ein demokratisches Basisprinzip. Niemand wurde daran gehindert, sich zu äußern, oder wurde wegen seiner/ihrer Meinung aus dem Verband herausgedrängt. Weder an der Entstehung der Resolution noch am Stimmverfahren war viel auszusetzen. Eine gesonderte Diskussionsveranstaltung am Tag vor der Mitgliederversammlung war dem Resolutionstext gewidmet.17 Zum Vergleich: Die erwähnten Erklärungen von 1990 wurden vom Vorstand ausgearbeitet und vom Ausschuss und sogar einer Unterkommission verabschiedet. Diesmal hatten die Mitglieder also sehr viel mehr Einfluss auf den Text, über dessen konkrete Formulierungen teilweise noch in der Mitgliederversammlung im Einzelnen abgestimmt wurde – leicht chaotisierend wie immer, und in der Tat nicht geheim, wie die Gegner beklagten. Eine geheime Abstimmung über eine solche Verbandserklärung wäre zwar möglich und vielleicht klug, aber nun wirklich ein Novum gewesen. Kurz und gut, die meisten dieser formalen Beschwerden wirkten vorgeschoben und wurden im Laufe der Debatte auch weitgehend ausgeräumt.18 Schon die Tatsache, dass anfangs so heftig auf die Prozedur geschimpft wurde, legte den Eindruck nahe, dass es eigentlich um andere Dinge ging.
Der dritte und wichtigste Kritikpunkt zielte auf den Inhalt der Erklärung ab und wurde von Bahners weitgehend vorweggenommen. In ihrer Kritik am begründenden Teil der Resolution haben er und andere Kritiker auch am meisten überzeugt – ohne allerdings verbandspolitisch brauchbare Alternativen zu formulieren. Zunächst ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Resolution »inhaltliche Aussagen zur Europa- und zur Flüchtlingspolitik« macht, die samt den daraus abgeleiteten Forderungen »in der heutigen deutschen Öffentlichkeit heftig umstritten sind«.19 Das ist richtig, und genau das war für eine Mehrheit der Anwesenden ein Grund, der Resolution zuzustimmen. Sie wollten für jene unter Druck stehenden Werte und Institutionen eintreten, mit denen sie ihr Fach verbunden sehen. Diesen Vorstoß haben allerdings die vereinfachenden und deklamatorischen Sätze, die ihn stützen sollten, geradezu unterlaufen. Die These, Migration als »eine historische Konstante« habe »die beteiligten Gesellschaften insgesamt bereichert«, kommentierte Bahners erstaunt: »Wie eine solche pauschale Bilanz in Ausübung historischer Fachkompetenz erstellt werden kann, ist nicht zu erkennen.«20 In der Tat konterkarieren derartige Aussagen die Grundsatzerklärungen über die Komplexität historischer Zusammenhänge. Sogar wohlwollende Leser/innen stellten fest, dass der zweite Teil des Textes den ersten letztlich »ad absurdum« führe: »Die konkreten Ausführungen zur Geschichte […] behaupten historische Wahrheiten bzw. Tatsachen, die keine sind, und schließen eine Diskussion um genau die problematischen Punkte, die es – pluralistisch, achtungsvoll, reflexiv – zu diskutieren gäbe.«21 Anders als in Münster fanden sich bei den Diskussionspanels Anfang 2019 kaum noch Kolleg/innen, die den zweiten Teil der Resolution uneingeschränkt verteidigen wollten.22
Viel umstrittener aber bleibt die Kritik, es sei unausgewogen und einseitig, in der Begründung nur auf »das Wörterbuch der Rechtspopulisten (›Volksverräter‹; ›Lügenpresse‹)« hinzuweisen: »Die entsprechenden Diffamierungen von links, die in gleichem Maße diskursabschneidend und ehrverletzend wirken (›Nazi‹, ›Rassist‹), blieben unerwähnt.«23 Muss eine Resolution ausgewogen sein? Eine deutliche Mehrheit im Fachverband wollte ein klares Zeichen gegen den Rechtspopulismus setzen. Eine Minderheit lehnte das ab. Mehr noch, sie hält eine solche Abgrenzung selbst für »politisch töricht«, weil diese »genau die Tendenzen befördert, die zu bekämpfen sie vorgibt. Pegida und AfD leben davon, dass in Deutschland das Juste milieu die Diskursgrenzen immer enger ziehen und vieles, was gesellschaftlich umstritten ist, aus dem Kreis des legitimerweise Diskutierbaren ausgeschlossen sehen möchte.«24 Hier geht es also tatsächlich um eine direkte politische Einschätzung der Gegenwart – und das ist es, was die beiden Lager am tiefsten trennt. Auch Bahners machte den »Fundamentalkonflikt, der sich seit 2015 in der deutschen Öffentlichkeit aufgetan hat«, zum Kristallisationspunkt der gesamten Angelegenheit.25 Abgrenzung vom Rechtspopulismus kann es für viele der Resolutionskritiker nicht geben, ohne zugleich oder sogar primär auf dessen (vermeintliche) Ursachen links und »links von der Mitte« hinzuweisen, wie ein »FAZ«-Briefschreiber prägnant offenlegte: »Denn einmal mehr werden die Symptome – AfD, Populismus, Beschimpfungen – mit den Ursachen der gegenwärtigen Polarisierung unseres Gemeinwesens – die offenkundig desaströse Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel seit 2014/15 – verwechselt.«26 Dies ist, wenn die Stimmverhältnisse in Münster nicht völlig trügen, für eine Mehrheit im Fach die verkehrte Welt. Genau hier, in der Einordnung und Bewertung der sogenannten »Flüchtlingskrise«, zeichnet sich die treibende Frage des gegenwärtigen Verbandskonflikts ab, die sich im Rahmen fachlicher Selbstverständigung allerdings nicht lösen lässt.
Festzuhalten bleibt, dass es den Befürworter/innen zwar gelungen ist, die Resolution zu verabschieden, doch nicht, das Fach gegenüber den rechtspopulistischen Bedrohungen zu vereinen. Der Text ist kein Grundsatzdokument für neue Orientierung geworden, sondern im Gegenteil Thema scharfer Diskussionen. Dies hat das Fach und seine Vertretung zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung vermutlich eher geschwächt als gestärkt.
Die große Frage lautet indes, ob und wie diejenigen, die den jetzigen Verbandsvorstoß aus welchen Gründen auch immer klar ablehnen, sich stattdessen eine Positionierung des VHD zu gesellschaftlich relevanten Themen vorstellen können. Dabei geht es nicht um individuelle Äußerungen von Historiker/innen in der Öffentlichkeit, denn diese werden von allen Seiten grundsätzlich begrüßt. Die Frage ist vielmehr, ob und wie sich der Verband als Berufsvertretung öffentlich, ja gar politisch einbringen könnte. Was von den Resolutionsgegnern in dieser Hinsicht bislang zu vernehmen war, ist bei aller Polemik recht dürftig.
Zum einen verweisen sie gern auf die Verfassung als das letzte Kriterium, das auch der Berufsverband bei eventuellen Interventionen zum Maßstab nehmen sollte. So lange also die AfD eine legitime, nicht verbotene Partei sei, müssten die Historiker/innen sie hinnehmen.27 Dies schließt die Duldung rechtspopulistischer Propaganda im Meinungsspektrum der Demokratie mit ein, bis der Verfassungsschutz tätig wird. Verbandspolitisch wie moralisch führt dieses Argument aber in eine Sackgasse. Ein Berufsverband soll womöglich nicht alles durchwinken, was auf der Verfassungsbasis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erlaubt ist – wozu gäbe es einen solchen Verband als Interessenvertretung sonst? Konsistent ist es auch nicht: Wie kann man dem VHD vorwerfen, er verspiele mit einer »regierungsnahen« Resolution seine Autonomie, und stattdessen das eigene Urteil an den Verfassungsschutz delegieren? Regeln und Grenzen geschichtswissenschaftlicher Arbeit werden ja nicht von Exekutivbehörden oder Verfassungsrechtler/innen, sondern von der Fachgemeinschaft bestimmt, die gewiss nicht nur, aber auch in ihrer Berufsorganisation sich äußert.
Bewusst richtet sich die Resolution nicht gegen eine politische Partei oder deren Mitglieder, sondern gegen gesellschaftliche Erscheinungen in Sprache und Verhalten, die man nicht nur in der AfD findet (und wohl auch nicht überall dort). Die Frage, von wem oder was man sich in der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus genau abgrenzt, wie man diesen »Gegner« benennt und adressiert, ist ein bekanntes Problem, auch in anderen Ländern.28 Man will ja weder persönlich noch parteipolitisch argumentieren. Eine Lösung könnte sein, als Verband strenger fallbezogen zu intervenieren, statt mit allgemeinen Resolutionen. Das würde Anlässe und Widersacher besser erkennbar machen, könnte allerdings zu kleinteilig wirken und Auswahlprobleme verursachen. In jedem Fall bräuchte es – selbstverständlich auf dem Boden der Verfassung – einen handhabbaren normativen Grundkonsens.
Zum anderen behaupten viele Skeptiker immer wieder gern die prinzipielle Neutralität oder Objektivität der Wissenschaft, die sich im Verhalten der öffentlichen Fachvertretung zu spiegeln habe. Selten fehlt hier der Verweis auf Max Weber. Im vorliegenden Streit wurde diese Linie am schärfsten vom Bayreuther Althistoriker Ralf Behrwald vertreten, der die Fachdisziplin Geschichte (und die Wissenschaften überhaupt) wegen der »funktionalen Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft« den »vor- und außerpolitische[n] Räume[n]« zurechnen will, die »dem politischen Streit weitgehend entzogen« sein sollten.29 »Eine politische Auseinandersetzung in den Verband hineingetragen zu haben«, schrieb er, »bleibt eine schwer verständliche Entscheidung seines Vorstands«, sogar »eine traurige Gedankenlosigkeit«. Das Argument überzeugt, wenn überhaupt, nur auf den ersten Blick. Denn gegen die prinzipielle Trennung von Politik und Wissenschaft werden viele Kolleg/innen grundsätzlich nichts einzuwenden haben, und doch können die wenigsten sich dabei in der heutigen Situation wohlfühlen. Das Argument hat den Schein bewusster Naivität gegen sich, denn gerade Historiker/innen wissen von Situationen, in denen (politische) Untätigkeit selbst eine (politische) Handlung wird. Wenn in der Gegenwart Grenzen überschritten werden, die die Praxis und die Normen, also die Grundbedingungen der professionellen Geschichtsschreibung von außen gefährden, wird es dann nicht notwendig, dass eine Berufsorganisation – und zwar, wie von Behrwald eingefordert, als »ein politisch völlig neutraler Wahrer der Freiheit von Forschung und Lehre« – zu Interventionen schreitet, die außerhalb der Wissenschaft dennoch eine politische Bedeutung erhalten?
Genau darin liegen der eigentliche Sinn und die Chance der Resolutionsdebatte: in einer Bekräftigung und Verteidigung der Rahmenbedingungen professioneller Geschichtsforschung in Deutschland. Und lassen sich diese Rahmenbedingungen nicht eher »normativ« als »politisch« begründen, wie die Münchener Soziologin Paula-Irene Villa es vorgeschlagen hat?30 Mehr noch: Ist ein Konsens auf dieser normativen Ebene zwischen den Resolutionsgegnern und -befürwortern nicht längst vorhanden? Denn bei aller Kritik an der »politischen« Ausformulierung der Resolution, die dann als Grund für deren Ablehnung diente, ist es auffällig, dass ihre prinzipielle Rahmung die Debatte ziemlich unbeschadet überstanden hat, ja von verschiedenen Seiten explizit bestätigt wurde. Der Kern sei noch einmal zitiert: »Geschichtswissenschaft hat die Aufgabe, durch die Analyse historischer Entwicklungen auch zur besseren Wahrnehmung von Gegenwartsproblemen beizutragen und die Komplexität ihrer Ursachen herauszuarbeiten.« Und am Schluss: »In jedem Fall setzt ein verantwortungsvoller Umgang mit der Vergangenheit die Befunde einer auch zur Selbstkritik bereiten Geschichtswissenschaft voraus, die von politischer Einflussnahme prinzipiell unabhängig ist. Ihre Erkenntnisse beruhen auf quellenbasierter Forschung und stellen sich der kritischen Diskussion. Nur so ist es möglich, die historischen Bedingungen unserer Demokratie auch zukünftig im Bewusstsein zu halten und gegen ›alternative Fakten‹ zu verteidigen.«
Grundsätze wie diese mögen theoretisch eher banal wirken, doch mitunter erfordern es die Zeitumstände, das scheinbar Selbstverständliche öffentlich zu wiederholen – ähnlich der erwähnten Leipziger Erklärung vor 25 Jahren. Jenseits der Frage, ob die Münsteraner Resolution den selbstgestellten Normen entspricht – das tut sie nicht –, trägt ihr Grundgedanke weiter, die Vergewisserung nämlich, dass professionelle Geschichtsschreibung nur in einer liberalen Demokratie wirklich funktionieren kann.31 Gerade in der Bundesrepublik hat die Reflexion über dieses Verhältnis eine lange Tradition, die noch so scharf auftretende Opponenten wie Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey in den späten 1970er-Jahren hinter der rechtsstaatlichen Demokratie vereinte.32 Heute liefern die in den zitierten Sätzen umrissenen Kernelemente dem Fach reichlich Profil, um rechts- oder auch linkspopulistischen Losungen und Argumentationsstilen im In- und Ausland öffentlich entgegenzutreten.
Demokratieverteidigung wird auf diese Weise weniger eine wie auch immer verstandene politische, sondern vor allem eine fachlich-professionelle Angelegenheit. Hier geht es also sehr wohl (mit Bahners gesprochen) um »die Benennung der Funktionsbedingungen einer unabhängigen Geschichtswissenschaft«,33 jener scheinbaren Selbstverständlichkeiten im Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft also, die vielleicht jede Forscher/innengeneration erneut bekräftigen sollte.34 Ob es höchste Zeit ist, die Demokratie als Funktionsbedingung zu verteidigen, wie die Befürworter der Resolution es empfinden, oder ob dies ein eher schädlicher Alarmismus ist, wie die Gegner behaupten – die Frage wird noch eine Weile offen sein und kontrovers diskutiert werden. Beide Seiten werden sich wie bisher fachlich und öffentlich einmischen und für die liberale Demokratie eintreten. Das gibt Vertrauen.
Anmerkungen:
1 Zur Begriffsdiskussion siehe etwa Wolfgang Knöbl, Über alte und neue Gespenster. Historisch-systematische Anmerkungen zum »Populismus«, in: Mittelweg 36 25 (2016) H. 6, S. 8-35.
2 Aus der Fülle an Beispielen seien genannt: Michael Wildt, Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017; Andreas Wirsching/Berthold Kohler/Ulrich Wilhelm (Hg.), Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, Ditzingen 2018; Norbert Frei u.a., Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019. Vgl. auch Aleida Assmann, Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte, München 2018; Claus Leggewie, Resist! Widerstand ist keine historische Reminiszenz, in: Eurozine, 27.9.2018.
3 Patrick Bahners, Die Lehrer Deutschlands, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.2018, S. 13. Resolution und Pressedebatte sind dokumentiert auf der Website des VHD. Vgl. auch die Blog-Einträge in Public History Weekly. Mitschnitte von zwei Paneldiskussionen: L.I.S.A.-Geschichtstalk, Düsseldorf, 10.1.2019; VHD-Panel, Berlin, 14.2.2019.
4 Frank Bösch/Johannes Paulmann, Es geht um unsere Sache, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2018, S. N3.
5 Matthias Berg/Olaf Blaschke/Martin Sabrow/Jens Thiel/Krijn Thijs, Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000, Göttingen 2018.
6 Peter Hoeres, Verabschiedete Resolution ist unausgewogen, in: Deutschlandfunk, 19.10.2018.
7 Bahners, Die Lehrer Deutschlands (Anm. 3).
8 Dominik Geppert/Peter Hoeres, Gegen Gruppendruck und Bekenntniszwang, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2018, S. N3.
9 Zit. nach Stefan Reinecke, Das Ende der Gemütlichkeit, in: tageszeitung, 6.10.2018, S. 16.
10 Klaus-Rüdiger Mai, Deutungshoheit statt Argumentation, in: Cicero, 1.10.2018.
11 VHD-Mitteilungsblatt 1991, S. 16-21. Dazu Berg u.a., Die versammelte Zunft (Anm. 5), S. 659-668, S. 681-691.
12 So etwa die Sicht von Werner Röhr, Abwicklung. Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR, Bd. 1: Analyse einer Zerstörung, Berlin 2011, S. 273-279.
13 VHD-Mitteilungsblatt 1995, S. 30f.
14 Abrufbar unter <https://www.historikerverband.de/presse/pressemitteilungen.html>.
15 Geppert/Hoeres, Gruppendruck (Anm. 8).
16 Michael Wolffsohn, Kein allgemeinpolitisches Mandat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2018, S. N3.
17 Vgl. Christoph David Piorkowski, Raus aus der Komfortzone, in: Tagesspiegel, 28.9.2018, S. 22.
18 Bösch/Paulmann, Es geht um unsere Sache (Anm. 4); VHD-Paneldiskussion (Anm. 3).
19 Bahners, Die Lehrer Deutschlands (Anm. 3).
20 Ebd.
21 Paula-Irene Villa, Ausgangsstatement zum L.I.S.A.-Geschichtstalk (Anm. 3); ähnlich der Beitrag von Achim Landwehr dort.
22 Vgl. die Mitschnitte der beiden Diskussionsveranstaltungen in Düsseldorf und Berlin (Anm. 3).
23 Geppert/Hoeres, Gruppendruck (Anm. 8); ähnlich Sven Felix Kellerhoff, Wie politisch dürfen Historiker sein?, in: Welt, 1.10.2018, S. 22.
24 Geppert/Hoeres, Gruppendruck (Anm. 8).
25 Bahners, Die Lehrer Deutschlands (Anm. 3).
26 Leserbrief Bernhard Neff, Eine Resolution ohne Forderungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.2018, S. 18.
27 So Bahners im L.I.S.A.-Geschichtstalk (Anm. 3).
28 Im niederländischen Fall wird die Geschichtswissenschaft, vertreten vom Koninklijk Nederlands Historisch Genootschap, ebenfalls regelmäßig von rechtspopulistischer Warte beschimpft und angegriffen. Meist zielt diese Kritik auf vermeintlich linke, »politisch korrekte« Themensetzung und Einladungspolitik etwa bei Jahreskongressen. Die Berufsvertretung reagierte darauf öffentlich bislang sehr zurückhaltend, nämlich bloß mit einer Stellungnahme der Geschäftsführerin. Sie grenzte sich nur in vagen und passiven Formulierungen von den Gegnern ab: »aggressive Kommunikationsweise«, »diese Personen« usw. Antia Wiersma, Zwijgende meerderheid, 10.12.2018, URL: <https://knhg.nl/2018/12/10/zwijgende-meerderheid/>. Die deutsche Diskussion wird in den Niederlanden natürlich auch verfolgt; siehe dies., Geschiedenis, een (on)politieke wetenschap?, 19.2.2019, URL: <https://knhg.nl/2019/02/19/geschiedenis-een-onpolitieke-wetenschap/>.
29 Ralf Behrwald, Der Historikerverband wendet sich von Max Weber ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2018, S. N3.
30 Villa, Ausgangsstatement (Anm. 21).
31 Antoon de Baets, Democracy and Historical Writing, in: Historiografias 9 (2015), S. 31-43.
32 Thomas Nipperdey, Kann Geschichte objektiv sein?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 30 (1979), S. 329-342; Jürgen Kocka, Legende, Aufklärung und Objektivität in der Geschichtswissenschaft. Zu einer Streitschrift von Thomas Nipperdey, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 449-455. Vgl. jetzt Gabriele Metzler, Der Staat der Historiker. Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945, Berlin 2018.
33 Bahners, Die Lehrer Deutschlands (Anm. 3).
34 Metzler, Der Staat (Anm. 32).