Täterschutz und Strafverfolgung

Staatliche Akten in den Gerichtsverfahren gegen südamerikanische Militärs

Anmerkungen

Als im Laufe der 1980er-Jahre überall in Südamerika Militärdiktaturen von demokratischen Regierungen abgelöst wurden, schürte das Erwartungen, endlich Genaueres über die unmittelbar zurückliegende Zeit der Repression zu erfahren. Vor allem während der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre waren die Regime mit großer Brutalität gegen die eigene Zivilbevölkerung vorgegangen. Schon damals hatten Menschenrechtsorganisationen Aufklärung gefordert; nun fragten sie mit neuer Vehemenz nach: Wo waren die Kommilitonen, Arbeitskollegen, Verwandten oder gar die eigenen Kinder geblieben, die am helllichten Tag in Autos gezerrt oder klammheimlich aus der Wohnung geholt worden waren? Wie viele Menschenleben hatten die staatlichen Repressionsmaßnahmen gefordert? Wer hatte sich an ihnen beteiligt? Im Kampf um Akten, die Aufschluss hätten geben können, standen sich nach wie vor die alten Lager gegenüber: auf der einen Seite die konservativen Eliten, die bereits unter den Militärdiktaturen gedient hatten und die in vielen Fällen ihre politische Laufbahn in den sich neu formierenden Parteien des rechten Spektrums fortsetzen konnten. Sie wollten die zurückliegende Epoche als berechtigten Kampf gegen die kommunistische Gefahr gedeutet sehen. An einer Freigabe von Akten aus der Zeit der Repression, die dieser Deutung zuwiderliefen, hatten sie kein Interesse. Auf der anderen Seite befanden sich ehemalige Dissidenten, Opferverbände, Menschenrechtsorganisationen und Publizisten. Sie suchten nach Beweisen, die die These von der Notwendigkeit der Repression widerlegten und mit deren Hilfe sich Forderungen nach Wiedergutmachungszahlungen und strafrechtlicher Ahndung der Verbrechen untermauern ließen.

Dieser Beitrag fragt danach, welche Rolle der Kampf um Information in der justiziellen Auseinandersetzung mit den Junta-Verbrechen spielte, und spürt dabei vor allem grenzübergreifenden Zusammenhängen nach: Wie versuchten die verschiedenen Regierungen, den Zugang zu Akten im Laufe des Demokratisierungsprozesses zu regeln? Inwiefern hatten informationspolitische Weichenstellungen, die den spezifischen Konstellationen innerhalb eines Landes geschuldet waren, Folgen für die strafrechtliche Ahndung in anderen Staaten?

In den meisten südamerikanischen Staaten wurde der Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Etappen vollzogen. In allen Ländern gelang es Angehörigen der alten Eliten, über den Systemwechsel hinaus einen gewissen Einfluss zu bewahren. Das ermöglichte es ihnen, Vorsorge zu treffen: Sie setzten sich erfolgreich für Amnestiegesetze ein, die eine strafrechtliche Ahndung der Verbrechen verhindern sollten. Vor allem aber trugen sie Sorge, dass informationspolitische Weichenstellungen vorgenommen wurden. Akten, die als belastendes Material in Verfahren hätten dienen können, verschwanden entweder ganz oder wurden durch gesetzliche Regelungen unzugänglich gemacht.1 In Brasilien beispielsweise gab Präsident José Sarney kurz nach seinem Amtsantritt 1985 die Order, alle Akten des militärischen Geheimdienstes zu vernichten, „die für die Zukunft von Militärs, die in illegale Operationen verwickelt waren, Folgen haben könnten“. Die Akten des Unterdrückungsapparates DEOPS wurden der Polizei anvertraut und blieben unzugänglich.2 Sarney hatte seine politische Karriere bereits unter den Militärs begonnen und sich erst in den letzten Jahren der Diktatur von der Regierungspartei entfernt.

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Die Vernichtung oder Sperrung von Dokumenten war jedoch nicht die einzige informationspolitische Maßnahme unter der ersten demokratisch gewählten Regierung Brasiliens seit den 1960er-Jahren. 1988 wurde eine neue Verfassung eingeführt. In der verfassungsgebenden Versammlung hatten die konser-vativen Mitte-Rechts-Parteien eine klare Mehrheit. Sie waren größtenteils aus der Aliança Renovadora Nacional hervorgegangen, der offiziellen Regierungspartei während der Militärdiktatur. Viele Abgeordnete hatten schon in den 1960er- und 1970er- Jahren höhere Ämter bekleidet. Über sie konnten auch die Militärs Einfluss nehmen. Diese Versammlung definierte erstmals weltweit das Habeas-Data-Prinzip. Es besagt, dass jeder Bürger ein Recht darauf hat, ihn betreffende Daten in staatlichen und öffentlichen Institutionen einzusehen, zu ergänzen oder zu korrigieren. Als Vorbild diente dabei die portugiesische Verfassung von 1976, die ebenfalls nach einer langjährigen Diktatur verabschiedet worden war.3 Brasilianische Rechtswissenschaftler sahen diese Neuerung aber auch in einer Traditionslinie mit dem Urteil des westdeutschen Bundesverfassungsgerichts von 1983, das das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gestärkt hatte.4

Der Habeas-Data-Artikel kam nicht nur den Interessen derjenigen entgegen, die aufgrund ihrer Erfahrung mit der Diktatur darum bemüht waren, die Rechte des Einzelnen gegen den Staat zu schützen. Er räumte den ehemaligen Machthabern und ihren Handlangern über den Machtwechsel hinaus ein gewisses Kontrollrecht über die sie betreffenden Informationen ein. Um die Aufklärung der Vergangenheit jedenfalls ging es bei der Einführung des Prinzips nicht: Als Angehörige versuchten, mithilfe der Habeas-Data-Bestimmungen an Informationen über verschwundene Dissidenten zu kommen, wurden sie von der Justiz abgewiesen.5

Allerdings fand das Habeas-Data-Prinzip schnell Nachahmer in anderen südamerikanischen Staaten, so auch in Paraguay. Hier wurde der seit 1954 regierende General Alfredo Stroessner 1989 aus dem Amt geputscht – nicht etwa von Regimegegnern, sondern von seinen ehemaligen Verbündeten. Die alten Eliten, die nun den Demokratisierungsprozess einleiteten, verfügten deshalb auch in Paraguay nach wie vor über großen Einfluss. Die Vertreter der ehemaligen Staatspartei hatten in der verfassungsgebenden Versammlung eine komfortable Mehrheit. Trotz der selbstauferlegten Machtbegrenzung hatten sie ein großes Interesse daran, ein gewisses Maß an Kontrolle über die Informationen zu behalten, die in den staatlichen Behörden lagerten. Die Übernahme des Habeas-Data-Prinzips in die paraguayische Verfassung versprach, genau das zu ermöglichen.

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Kaum war jedoch die Verfassung Mitte 1992 in Kraft getreten, zeigten sich die Ambivalenzen der Neuerung: Dieselben Dokumente, die Auskunft über die ehemaligen Unterdrücker gaben, enthielten häufig auch Informationen über ihre Opfer. Diese machten sich unverzüglich daran, ihr neues Recht einzuklagen. Im August 1992 begann Martín Almada, ein Verfolgter des Stroessner-Regimes, Einsicht in ihn betreffende Akten zu fordern – zunächst erfolglos. Anders als in Brasilien, wo die Regierung die Akten des Unterdrückungsapparates vorsorglich in staatliche Obhut gegeben hatte, gab es in den meisten anderen südamerikanischen Ländern lediglich Gerüchte darüber, ob noch Akten über die Repression vorhanden waren – und wenn ja, wo diese sich befanden. Einiges deutete darauf hin, dass ein großer Teil vernichtet worden war.6

So tappte auch Almada zunächst im Dunkeln. Doch dann kam es zu einer einzigartigen Begebenheit: Er erfuhr, dass die während der Diktatur über ihn angelegte Akte möglicherweise in einer Polizeistation in einem Vorort Asuncións lagerte. In Begleitung einiger Oppositionspolitiker sowie eines Pulks von Journalisten verschaffte er sich am 22. Dezember 1992 mithilfe des sehr jungen Richters José Augustín Fernández Zugang zum Gebäude. Dort stieß die Gruppe auf einen Berg von Akten der paraguayischen Sicherheitsbehörde, die alle aus der Zeit der Diktatur stammten. Niemand hatte es für nötig befunden, die Dokumente zu vernichten. Möglicherweise glaubte der Leiter der für die Repression verantwortlichen Geheimpolizei, der sich bis zu diesem Tag im Amt befand, dass sie irgendwann noch einmal nützlich werden könnten. Nun ordnete der Richter Fernández an, den Fund zu bergen und in das zentrale Gerichtsgebäude der Landeshauptstadt bringen zu lassen. Dort waren einige wenige Verfahren gegen unmittelbar an der Repression beteiligte Beamte anhängig. Zwar rief der paraguayische Präsident am folgenden Tag persönlich beim Obersten Gerichtshof an, um sein Missfallen über das Vorgehen der Justiz zum Ausdruck zu bringen. Doch das Ereignis sorgte bereits für großes Aufsehen in den Medien, die die Archiventdeckung live verfolgt hatten. Fernández erhielt Rückendeckung von seinen Vorgesetzten, die sich entschieden, die Unabhängigkeit der Justiz eindrücklich zu demonstrieren. Für die ehemaligen Amtsträger, die während der Militärdiktatur nicht direkt in Repressionsmaßnahmen verwickelt gewesen waren, erwiesen sich die Funde jedoch nicht als unmittelbare Bedrohung: Es handelte sich vor allem um Verhörprotokolle und Dissidentenkarteien, die neben den Namen der Opfer lediglich die Namen der Mitarbeiter des Sicherheitsapparates enthielten. Für die laufenden Gerichtsverfahren gegen einige dieser Mitarbeiter waren die Unterlagen hingegen äußerst wertvoll.7

Das Video zeigt, wie der Richter José Augustín Fernández und Martín Almada sich im Dezember 1992 Zugang zu den Akten des paraguayischen Sicherheitsapparats verschaffen. Fernández erläutert dem Polizisten, dass sich seine Forderung auf den Habeas-Data-Artikel der Verfassung stütze, und fügt hinzu: Wir befinden uns in einer Demokratie und in einer Demokratie muss das Gesetz herrschen.“ Auf die Bitte des Polizisten, zuerst seinen Vorgesetzten kontaktieren zu dürfen, versichert Fernández ihm, dass die Forderung nach Aktenzugang vom Gesetz abgedeckt sei und er sich keine Sorgen zu machen brauche. Daraufhin erhält die von Almada angeführte Gruppe Zugang zur Polizeistation. Ein Beamter erklärt, dass die Akten sich bereits im Gebäude befinden würden, seit er dort Dienst tue. Anschließend wird die Tür aufgeschlossen. Schnell wird deutlich, dass der Fund nicht nur für den Fall Almada relevant ist.

Das Aktenkonglomerat wurde unter dem Namen „Archivo del Terror“ bekannt und blieb der einzige umfassend zugänglich gemachte Bestand eines südamerikanischen Unterdrückungsapparates.8 Es enthielt aber nicht nur Dokumente, die Paraguay betrafen. 1975 hatten sich die Geheimdienstchefs verschiedener südamerikanischer Länder in Santiago de Chile getroffen, um ein grenzübergreifendes Programm zur Verfolgung von Dissidenten auf den Weg zu bringen („Operación Condor“). Ein Protokoll dieses Treffens wurde nun in den von der paraguayischen Justiz sichergestellten Aktenbergen entdeckt und erlangte sofort internationale Berühmtheit. Für die strafrechtliche Ahndung zahlreicher Junta-Verbrechen wurde es zu einem Schlüsseldokument.

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Da die Strafverfolgung in Südamerika aufgrund zahlreicher Amnestie- und Schlusspunktgesetze (Chile: 1978; Brasilien: 1979; Argentinien: 1986) nie Fahrt aufgenommen hatte bzw. fast vollständig zum Erliegen gekommen war, brachten Opferverbände 1996 in Spanien mehrere Verfahren gegen argentinische und chilenische Junta-Mitglieder in Gang. Der zuständige Richter Baltasar Garzón kam zu dem Schluss, dass es sich bei den Verbrechen unter den südamerikanischen Diktaturen um Völkermord gehandelt habe. Die spanische Zuständigkeit sei somit aufgrund einer Besonderheit im spanischen Recht gegeben, obwohl die Täter nicht die spanische Staatsbürgerschaft besaßen und die Taten nicht in Spanien begangen worden waren. Um die Völkermord-These zu belegen, benötigte Garzón Dokumente, die es in Chile und Argentinien nicht gab. Die dortigen Sicherheitsbehörden hatten rechtzeitig dafür gesorgt, dass keine Akten über die Repression aus der Zeit der Militärdiktatur auffindbar waren. Garzón griff deshalb auf das in Paraguay entdeckte Protokoll des Geheimdiensttreffens zurück. Dieses belege, dass die Juntas einen umfassenden Plan zur systematischen Ausrottung von Teilen der Bevölkerung entwickelt hätten. Ihr Handeln sei somit als Völkermord zu klassifizieren. Auf dieser Grundlage erließ er 1998 gegen mehrere ehemalige represores internationale Haftbefehle. Der aufsehenerregendste davon war derjenige gegen den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet,9 der die Verhaftung des in London weilenden Angeklagten durch Scotland Yard und ein spanisch-britisches Auslieferungsverfahren nach sich zog. Nachdem das britische Unterhaus bereits dem spanischen Ersuchen stattgegeben hatte, intervenierte die Regierung und sorgte dafür, dass Pinochet nach Chile zurückreisen konnte.10

Die Aufmerksamkeit, die das Archivo del Terror durch den Haftbefehl des Richters Garzón international fand, führte dazu, dass auch in den anderen südamerikanischen Staaten Publizisten und Menschenrechtsorganisationen die Freigabe von Akten mit Nachdruck forderten. Infolgedessen wurden im Laufe des Jahres 1999 in verschiedenen Teilen Argentiniens Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur entdeckt und öffentlich zugänglich gemacht.11 Zwischen den Opferverbänden der verschiedenen Länder entstanden enge Netzwerke, die nicht zuletzt dafür sorgten, die Suche nach Akten über die Junta-Verbrechen länderübergreifend zu koordinieren.

Dieses Netzwerk blieb nicht auf Südamerika beschränkt. Die spanischen Ermittlungen gegen Pinochet riefen der medialen Öffentlichkeit in Erinnerung, dass dieser Mann, der nun wegen Völkermordes angeklagt wurde, lange Zeit ein Verbündeter der Westmächte gewesen war. Parallel zu den Ermittlungen Garzóns bemühte sich deshalb ein Kreis von Mitarbeitern der National Security Archives unter der Leitung des Historikers Peter Kornbluh und in Zusammenarbeit mit südamerikanischen Opferverbänden in Washington um die Freigabe von Akten, die die chilenisch-amerikanischen Beziehungen der 1970er-Jahre betrafen. Die 1985 gegründete Nichtregierungsorganisation hatte es sich als Aufgabe gesetzt, vom Recht auf Zugang zu Dokumenten der Exekutive, wie es seit 1966 im amerikanischen „Freedom of Information Act“ festgelegt war, Gebrauch zu machen und regelmäßig die Freigabe von Akten zu fordern. Anlässlich des 25. Jahrestages des Putsches, durch den Pinochet an die Macht gekommen war, veröffentlichten die National Security Archives am 11. September 1998 ein Set von Dokumenten. Infolge der Verhaftung Pinochets in Lon-don und des neu entflammten Interesses an Archivmaterial über die Operación Cóndor erhöhten Menschenrechtsorganisationen den Druck auf die amerikanischen Behörden, weiteres Material freizugeben. So wurden Mitte 1999 über 5.300 Dokumente veröffentlicht, die aus der CIA, dem FBI und dem State Department stammten.12 Kornbluh und seine Mitstreiter profitierten dabei davon, dass die Regierung Clinton den Zugang zu staatlichen Akten liberalisiert hatte.13

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Das freigegebene Archivmaterial, das Geheimdienstberichte aus den südamerikanischen Ländern und diplomatische Gesprächsprotokolle enthielt, zeigte, dass CIA, FBI und das Außenministerium recht gut über die Methoden informiert gewesen waren, mit denen die Juntas gegen Dissidenten vorgegangen waren. In einigen Fällen ließen sich sogar die von den Juntas begangenen Morde belegen. Die amerikanischen und paraguayischen Archivfunde ermöglichten es, den dokumentarischen Nachweis zu konstruieren, dass auch hochrangige chilenische Militärs für Morde verantwortlich waren, die an chilenischen Oppositionellen in Argentinien begangen worden waren – selbst wenn sie sich nicht direkt an der Tat beteiligt hatten: Schließlich hatte Manuel Contreras, der ehemalige chilenische Geheimdienstchef, laut dem in Asunción entdeckten Protokoll die konstituierende Sitzung zur Operación Cóndor einberufen, in deren Rahmen Auslandsmorde durchgeführt worden waren. Und Contreras hatte stets behauptet, nur auf Anweisung Pinochets gehandelt zu haben. Vor diesem Hintergrund stießen Opferverbände im Juli 2001 in Argentinien ein Verfahren gegen verschiedene Schlüsselfiguren des chilenischen Sicherheitsapparates an, deren strafrechtliche Verfolgung in Chile selbst nur schleppend vorankam. Auch gegen Mitglieder des paraguayischen, uruguayischen und argentinischen Regimes, deren Geheimdienste sowohl an der Sitzung in Santiago teilgenommen hatten als auch an Morden in Argentinien beteiligt gewesen waren, konnten mithilfe des Protokolls und des amerikanischen Archivmaterials in Argentinien Verfahren eröffnet werden.

Solche Verfahren außerhalb des Heimatlandes der Angeklagten führten zwar selten zu Verurteilungen, da die betreffenden Personen in der Regel nicht ausgeliefert wurden. Aus Sicht der Menschenrechtsaktivisten und Opferverbände erfüllten sie aber andere Funktionen: Sie dienten dazu, die Justiz in den Heimatländern der Täter unter Handlungsdruck zu setzen. Darüber hinaus zogen Auslieferungsverfahren Unannehmlichkeiten für die Angeklagten nach sich: Sie mussten sich mit zusätzlichen Prozessen herumschlagen. Contreras wurde wegen des argentinischen Auslieferungsersuchens gar unter Hausarrest gestellt.14

Auch in Chile kam allmählich Bewegung in die strafrechtliche Ahndung der Junta-Verbrechen; die Militärs sahen sich mit einer wachsenden Anzahl von Verfahren wegen diverser Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. 2001 und 2002 wurden schließlich auch zwei Anklagen wegen Beteiligung an der Operación Cóndor erhoben – gegen Pinochet, Contreras und weitere Militärs. Die Anklage konnte sich neben Zeugenaussagen auf zahlreiche Dokumente aus dem Archivo del Terror stützen, die belegten, dass chilenische Dissidenten in Paraguay verhaftet und auf Anordnung Contreras’ nach Chile verschleppt worden waren. Der Richter Juan Guzmán verurteilte daraufhin Contreras sowie zwei weitere Militärs und ordnete die Aufhebung von Pinochets Immunität an.15 Immer deutlicher zeigte sich: Die uneinheitliche Handhabung sensibler Akten über die Zeit der Militärdiktaturen in den verschiedenen nord- und südamerikanischen Staaten schwächte die Wirkung ab, die die Juntamitglieder mit ihren informationspolitischen Weichenstellungen während der Übergangsphase hatten erzielen wollen.

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Und auch in den USA zeitigten die Archivfunde Folgen: Anfang 2001 erschien ein Buch von Christopher Hitchens mit dem Titel „The Trial of Henry Kissinger“. Darin forderte der ebenso renommierte wie umstrittene Journalist ein strafrechtliches Verfahren gegen den ehemaligen US-Außenminister. Seine Forderung untermauerte er mithilfe der unmittelbar zuvor von den National Security Archives zugänglich gemachten Dokumente. Sie belegten, dass Kissinger Anfang der 1970er-Jahre an der Planung von Aktionen in Chile beteiligt gewesen war, die die Destabilisierung der linken Regierung unter Allende zum Ziel gehabt und mit der Ermordung unliebsamer Personen geendet hatten.16

Die Antwort auf Hitchens’ Buch folgte rasch. Am 11. September 2001, dem 28. Jahrestag des Putsches gegen Allende, reichten die American Association of Jurists, die Nobel Foundation sowie einige Einzelpersonen bei einem chilenischen Gericht Klage gegen Kissinger ein. Vor einem Washingtoner Gericht forderte die Kommunistische Partei Chiles von Kissinger eine Wiedergutmachung in Höhe von 11 Millionen Dollar. Von Spanien aus richtete Baltasar Garzón Rechtshilfeersuchen an die Vereinigten Staaten und an jedes andere Land, in das Kissinger reiste, mit der Bitte, den elder statesman vernehmen zu lassen. All diese Vorgänge stützten sich auf die Geheimdienstdokumente, die unter Präsident Clinton auf der Grundlage des Freedom of Information Act zugänglich gemacht worden waren.17 Zwar konnten sie Kissinger nichts anhaben, sondern bescherten ihm lediglich negative Schlagzeilen. Aber für die Republikaner, die 2001 die Regierung übernommen hatten, waren sie ein Zeichen dafür, wie gefährlich sowohl eine liberale Informationspolitik als auch international gültiges Recht für die eigene Politik werden konnten. Sie verhinderten, dass die USA den 1998 ins Leben gerufenen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anerkannten. Dabei wurden weder Kissinger noch seine Parteikollegen müde, auf die fatalen Folgen des spanischen Pinochet-Prozesses zu verweisen.18 Gleichzeitig arbeitete die Regierung unter George W. Bush klammheimlich an einer Neuausrichtung der Informationspolitik. Die Erleichterungen beim Zugang zu Akten, die von der Clinton-Administration vorgenommen worden waren, wurden revidiert und bereits freigegebene Akten wieder gesperrt.19 Inwiefern diese Kehrtwende nicht nur eine Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 war, sondern auch auf die am selben Tag eingereichten Klagen gegen Kissinger, muss hier offenbleiben.

Der Fall Südamerika ist ein gutes Beispiel dafür, dass es vielfach notwendig ist, die Auseinandersetzungen um den Zugang zu Information als eine über Ländergrenzen hinweg verflochtene Geschichte zu erzählen: Die Entdeckung und Öffnung des Archivo del Terror in Paraguay kann ohne die Einführung des Habeas-Data-Prinzips durch die verfassungsgebende Versammlung in Brasilien nicht erklärt werden. Genauso wenig lässt sich die Wirkungsgeschichte der dort aufgefundenen Dokumente angemessen analysieren, wenn man nicht die Ahndungsmaßnahmen in Spanien, Argentinien und Chile berücksichtigt sowie auch die informationspolitischen Praktiken in den USA.

Anmerkungen: 

1 Vgl. Alfredo Boccia Paz u.a., En los sótanos de los generales. Los documentos ocultos del Operativo Cóndor [In den Kellern der Generäle. Die geheimen Dokumente der Operation Condor], Asunción 2008, S. 265-277.

2 Ebd., S. 270f. Zitat übersetzt aus dem Spanischen, S. 271.

3 Vgl. Dalmo de Abreu Dallari, El Hábeas Data en Brasil [Habeas Data in Brasilien], in: Ius Et Praxis 3 (1997), S. 71-80.

4 Vgl. Andrés Guadamuz, Habeas Data vs. the European Data Protection Directive, in: Journal of Information, Law and Technology 3/2001, URL: http://www2.warwick.ac.uk/fac/soc/law/elj/jilt/2001_3/guadamuz, dort 1.1. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts siehe den Beitrag von Dominik Rigoll in diesem Heft.

5 Vgl. Abreu Dallari, Hábeas Data (Anm. 3), S. 77.

6 Vgl. Boccia Paz u.a., En los sótanos (Anm. 1), S. 265-295.

7 Vgl. Stella Calloni, Operación Cóndor. Lateinamerika im Griff der Todesschwadronen, Frankfurt a.M. 2010, S. 47-61. Einen guten Einblick in diese Ereignisse vermitteln die Originalaufnahmen und Interviews im Dokumentarfilm „Los Archivos del Terror“ (Producción de la Fundación CIRD, Asunción 2011).

8 In Brasilien werden die Akten des DEOPS nur sehr selektiv freigegeben. In anderen Ländern gab es lediglich kleinere Aktenfunde.

9 http://www.derechoshumanos.net/jurisprudencia/1998-12-10-JCI5-%28Pinochet%29-Auto-Procesamiento-Pinochet.htm.

10 Vgl. Naomi Roht-Arriaza, The Pinochet Precedent and Universal Jurisdiction, in: New England Law Review 35 (2001), S. 311-319, hier S. 311f. Eine ins Deutsche übersetzte Dokumentensammlung zum Auslieferungsverfahren findet sich bei Heiko Ahlbrecht/Kai Ambos (Hg.), Der Fall Pinochet. Auslieferung wegen staatsverstärkter Kriminalität?, Baden-Baden 1999.

11 Francisco Rojas Aravena/Arolina Stefoni (Hg.), El „caso Pinochet“. Visiones hemisféricas de su detención en Londres [Der Fall Pinochet. Verschiedene Perspektiven auf seine Verhaftung in London], Santiago de Chile 2001, S. 73f.; Boccia Paz u.a., En los sótanos (Anm. 1), S. 267-270.

12 Vgl. Presseerklärung der NSA, 9.11.1998 und 30.6.1999: http://www.gwu.edu/~nsarchiv/latin_america/chile.htm.

13 Vgl. Thomas James Connors, The Bush Administration and „Information Lockdown“, in: Margaret Procter/Michael Cook/Caroline William (Hg.), Political Pressure and the Archival Record, Chicago 2005, S. 195-208, hier S. 198f.

14 Vgl. Informe de Derechos Humanos (IDH) [Menschenrechtsbericht], 2. semestre 2001, S. 42f.

15 Vgl. IDH, 2. semestre 2003, S. 10f.; IDH, 2. semestre 2004, S. 12-27; Fallo de la Corte de Apelaciones de Santiago [Urteil des Appellationsgerichts Santiago], 5.7.2004, URL: http://www.derechos.org/nizkor/chile/doc/desafpin8.html.

16 Christopher Hitchens, The Trial of Henry Kissinger, London 2001, S. 55-76.

17 IDH, 2. semestre 2001, S. 43; IDH, 1. semestre 2002, S. 53; IDH, 2. semestre 2002, S. 53.

18 Vgl. u.a. Henry Kissinger, Does America Need a Foreign Policy? Toward a Diplomacy for the 21st Century, New York 2002, S. 273-282.

19 Vgl. Connors, „Information Lockdown“ (Anm. 13).

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