„Gewalt – Gesellschaft – Kultur“: Ein Ersatz für „Krieg – Staat – Politik“?

Anmerkungen

Auch gut zehn Jahre nach dem militärgeschichtlichen Paradigmenwechsel, den John Keegan 1993 eingeleitet hatte, fällt es schwer, Chancen und Fallstricke des schwerbewaffneten „cultural turn“ gegeneinander abzuwägen. In seinem Werk „A History of Warfare“ - das zwei Jahre später ebenso programmatisch wie problematisch unter dem deutschen Titel „Die Kultur des Krieges“ erschien - hatte Keegan zu einer radikalen Abkehr von den traditionellen Perspektiven der Militärgeschichtsschreibung aufgerufen. In der Nachfolge von Clausewitz habe die Forschung das Phänomen Krieg falsch kontextualisiert und irrtümlich dem Beziehungsgeflecht von Staat und Politik zugeordnet. Anstatt den Krieg als „Fortführung der Politik mit anderen Mitteln“ zu definieren, sei es angebrachter, ihn als „Fortführung der Kultur mit ihren eigenen Mitteln“ zu analysieren.1

Das Plädoyer, den Krieg im Rahmen von Gewalt, Gesellschaft und Kultur methodisch neu zu situieren, stieß auf ein geteiltes Echo. Einerseits ließ sich leicht nachweisen, dass Keegan mit einem holzschnittartig verkürzten Verständnis des Clausewitzschen Kriegsbegriffs operierte. Entsprechend bot auch die Neuinterpretation des Klassikers Raum für sozialhistorische Fragestellungen und Anknüpfungspunkte für moderne MilitärhistorikerInnen. Aber vor allem beharrten die Kritiker darauf, dass sämtliche Ausformungen des Krieges politisch bestimmt seien. Gerade weil der Krieg niemals ein eigenständiges Ding, sondern immer ein politisches Mittel sei, könne Kriegsgeschichte nur als Gesellschaftsgeschichte geschrieben werden.2 Die Befürworter des Paradigmenwechsels wiesen hauptsächlich auf die Defizite der bisherigen Forschung hin, welche den Krieg vom Feldherrnhügel aus betrachtet und um das Töten und Getötetwerden immer einen großen Bogen gemacht habe. Aus der Stabsperspektive sei das Töten in Strategemen der Gewaltanwendung aufgelöst worden. Die Erforschung des Krieges solle nicht in einem Studium der militärischen Disziplin, der militärischen Institutionen und des Soldatenberufs aufgehen. Ebenso wenig dürfe sich eine Kulturgeschichte des Krieges auf seine gesellschaftliche Wahrnehmung beschränken.3

Angesichts der scharfen Frontstellung zur politikgeschichtlichen Kriegsbetrachtung ist leicht zu übersehen, dass die eingeforderte neue kulturgeschichtliche Forschungsperspektive auch mit konkurrierenden kulturgeschichtlichen Ansätzen hart ins Gericht ging. Das denkbar breite Spektrum an Methoden und Erkenntnisinteressen, welches für die neuere Kulturgeschichte insgesamt charakteristisch ist, kennzeichnet besonders auch die kulturgeschichtlich ausgerichtete Kriegs- und Militärgeschichte. Als kleinster gemeinsamer Nenner lässt sich noch am ehesten ein Interesse an der Interdependenz von Diskurs und Praxis ausmachen.4 Deshalb hat sich eine größere Zahl von Studien der Geschichte der Vorstellungen und Zuschreibungen gewidmet, die mit kriegerischem Geschehen und seinen Akteuren verbunden waren. Die Praxis der Kriegführung blieb bei diesem Zugriff nicht selten zugunsten des Diskurses auf der Strecke. Gegen solche Tendenzen polemisierten die Vertreter einer „Kulturgeschichte des Krieges“5 und stießen damit bei den übrigen KulturhistorikerInnen auf vorsichtige Distanz. Den programmatischen Ankündigungen und Keegans Pionierstudie sind jedenfalls im deutschsprachigen Raum bislang noch keine Arbeiten gefolgt, die sich ernsthaft um eine Operationalisierung der kulturgeschichtlichen Parameter bemüht hätten.6 Vielmehr scheint die „Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht“, auf halbem Wege in der politischen Publizistik steckengeblieben zu sein. Wenn etwa Martin van Creveld den Krieg zur ewigen, unveränderlichen Achse stilisiert, „um die sich die ganze menschliche Existenz dreht und die dem ganzen Dasein eine Bedeutung verleiht“,7 lauert hinter der vorgeblich schonungslosen Aufklärung über die dunklen Seiten der menschlichen Seele auch eine ganz und gar unwissenschaftliche mystische Verklärung des Kriege(r)s. Wissenschaftliche Beiträge zum Töten im Krieg stammen hingegen überproportional häufig aus der Feder von Anthropologen und vergleichenden Religionswissenschaftlern.8

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Im Folgenden sollen deshalb einige zentrale Probleme angesprochen werden, die einer veränderten Zentralperspektive der Militärgeschichte entgegenstehen. Innerhalb der wissenschaftlichen Debatte um den Primat des Politischen oder den Primat der Gewalt fällt auf beiden Seiten eine oftmals polemisch verkürzte Wahrnehmung der jeweils anderen Standpunkte auf. Der Position, dass Kriegs- und Machtpolitik nicht mit psychologischen Kategorien zwischenmenschlicher Aggressivität begründet werden könne, wird die Auffassung entgegengehalten, dass das massenhafte Töten und Getötetwerden den organisierten Kern jedes modernen Krieges ausmache. Angesichts dieses Grundsatzkonflikts erscheint es völlig unerheblich, dass weder die Vertreter des Primats des Politischen die Existenz wirk- und gewaltsamer Emotionen bestreiten noch die Vertreter des Primats der Gewalt die Realität politischer Interessen leugnen würden.9 Dennoch fallen in der Wahrnehmung beider Seiten kriegerische Gewaltanwendung und staatliche Kriegführung als unvereinbar auseinander, sobald der Krieg nicht mehr als politisches Machtmittel, sondern als kulturell kodierter Gewaltexzess wahrgenommen wird. Tatsächlich geht es bei einer Neukontextualisierung der Militärgeschichtsschreibung um mehr als nur eine Verschiebung innerhalb einzelner Themenschwerpunkte.

Eine der Hauptschwierigkeiten besteht darin, dass sich das heterogene Gewaltphänomen oftmals kaum eindeutig gegenüber anderen Arten von Zwang und Macht abgrenzen lässt. Am Anfang jeder solchen Diskussion muss daher die Frage beantwortet werden, was unter „Gewalt“ im jeweiligen zeitgenössischen Kontext zu verstehen ist.10 Im nächsten Schritt sollte eine nähere Eingrenzung des Kriegsbegriffs erfolgen, da sich dieser keineswegs selbstverständlich aus dem Gewaltbegriff ergibt. Mit dem weitgehenden Verzicht auf eine an politischen und rechtlichen Inhalten orientierte Definition wurden nämlich zunächst ganz bewusst die terminologischen Grenzen zwischen regulärer und irregulärer Kriegführung, Aufstand, Terror, kriminellen Verstößen gegen das staatliche Gewaltmonopol oder Polizeiaktionen verwischt.11 Tendenziell gerät dabei jede gewalttätige Konfliktaustragung zwischen zwei oder mehr feindlichen Gruppen zum Krieg, sobald „militärische Mittel“ eingesetzt werden und beide Seiten ganz bewusst das Risiko des eigenen wie des Todes des Feindes eingehen. Auch wenn es grundsätzlich zu begrüßen ist, dass die zeitgenössischen Legitimationsstrategien nicht unhinterfragt übernommen, sondern selbst zum Forschungsgegenstand erhoben werden, so kann ein bis an die Grenzen seiner Aussagefähigkeit überdehnter Kriegsbegriff kaum der Präzisierung des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses dienen. Das Töten allein stellt noch kein hinreichendes Merkmal für eine Kriegsdefinition dar, weil diese Handlung in einzelnen Gesellschaften bzw. Kulturen höchst unterschiedlich organisiert und legitimiert wurde. Auch bei der Frage der militärischen Mittel lässt sich kaum die Notwendigkeit umgehen, Schwellen der Gewaltanwendung festzulegen. Überspitzt formuliert: Fängt der Krieg schon beim Schusswaffengebrauch oder erst beim Raketeneinsatz, einem bestimmten Mobilisierungsgrad der Bevölkerung oder doch mit der wechselseitigen Anerkennung als (legitimer) Feind an? Die Forschung hat deshalb sehr genau zu benennen, was sie selbst und was die jeweils betrachtete Gesellschaft unter Krieg versteht.

Die Bemühungen zur Etablierung einer neuen existenziellen Kriegsauffassung stützen sich in erster Linie auf anthropologische Ansätze. Als exemplarisch kann die Definition Margaret Meads betrachtet werden, die den Krieg als einen Konflikt bezeichnet hat, der durch organisierte Kampfgruppen ausgetragen werde. Nur zu diesem Anlass sei das Töten von jenen gesellschaftlichen Sanktionen ausgenommen, die das Töten innerhalb der eigenen Gruppe sonst als Mord kriminalisierten. Die Krieger beider Seiten müssten nicht nur zum Töten, sondern auch zum Sterben bereit und von der Legitimität ihres Handelns subjektiv überzeugt sein.12 Der Rückbezug auf elementare Verhaltensmuster sorgte dafür, dass das emotionale Engagement der Kriegführenden in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gelangte. Als grundlegende Antriebskräfte des Kampfes gelten Gier, Wut, Hass, Todesangst, Sehnsucht nach Kameradschaft und sakrale Deutungsmuster des Krieges.13 Insgesamt bevorzugt die anthropologisch orientierte Militärgeschichtsschreibung eine Kombination aus biologischer Substruktur und kulturell tradierten Verhaltensmustern. Dabei herrscht größtenteils Einigkeit darüber, dass sich selbst der sogenannte primitive Krieg viel zu komplex und kollektiv gestaltet, als dass man ihn durch einen Trieb der individuellen Psyche erklären könnte.14 Tendenziell zeigt sich die Forschung an historischen Möglichkeiten interessiert, Kriege zu verhindern und zu kriminalisieren, wobei folgerichtig eine Analyse der gesellschaftlichen Konstruktion von Eigen- und Fremdgruppen in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses rückt.15

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Die Stärken des anthropologischen Ansatzes liegen im interkulturellen Vergleich und nicht etwa in der Feststellung anthropologischer Grundkonstanten. Bemühungen, beispielsweise die Kampfeslust zur archetypischen Größe zu stilisieren, wirken letztlich wie der groteske Versuch eines Beweises, dass die „Kerls“ - frei nach Erich Kästner - die „gleichen Affen“ geblieben sind. Insgesamt ist völlig unbestritten, dass Kriege trotz ihrer fortwährenden Aktualität niemals zeitlos waren, sondern wie jede andere historische Erscheinung einem ständigen Erklärungs-, Deutungs- und Bewertungswandel unterlagen. Aber erst durch die Wahrnehmung der Körperlichkeit und der Irrationalismen des Kampfes konnte auffallen, wie wenig die Militärgeschichtsschreibung über das konkrete Handeln im Krieg informiert war, was nicht zuletzt der so genannten Operationsgeschichte neue Impulse gegeben hat. Doch gerade wenn man den Krieg als geschichtliches Phänomen in einem konkreten Kontext begreift, kann nicht außer Acht gelassen werden, dass besonders für den westlichen Kulturkreis im 19. und 20. Jahrhundert die Vorstellung eines politischen Charakters des Krieges essenziell war. Paradoxerweise könnten sich bei der Analyse dieser Strukturen kulturgeschichtliche Ansätze als nützlich herausstellen.

Gleichwohl klammert der aktuelle Bielefelder Sonderforschungsbereich „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ die Semantiken und Codes der legitimen oder illegitimen Kriegführung aus. Gewaltphänomene werden vergleichsweise traditionell am Beispiel von Protesten und Revolten untersucht. Tatsächlich bereitet es einiges Unbehagen, den Krieg als zwischenstaatliche Kommunikationsvariante zu definieren und den Terrorakt als kommunikatives Angebot zu verstehen, welches der betroffene Staat annehmen oder zurückweisen kann, indem er seine erklärten Feinde als Kombattanten behandelt oder nicht.16 Wahrscheinlich resultiert diese Distanz aus der Sorge, dem gesellschaftlichen Ausnahmezustand, politischem Versagen und gescheiterter Kommunikation - als welche Kriege im Bereich der Geschichtswissenschaft meistens aufgefasst werden - ein zu großes Maß an systemischer Normalität und Rationalität zuzubilligen. Als sozial bzw. politisch angemessener gelten demgegenüber gewaltfreie Prozeduren der Konfliktregelung.17 Grundsätzlich wäre ein kulturgeschichtlicher Forschungsansatz aber in der Lage, neben den Feindbildkonstruktionen auch die Legitimierungsstrategien und Legitimitätsvorstellungen von Kriegen herauszuarbeiten, um im nächsten Schritt die Folgen für das konkrete Handeln im Krieg zu benennen - damit die Analyse nicht erneut auf der Ebene des diskursiven Handelns stecken bleibt.

Anmerkungen:

1 John Keegan, A History of Warfare, New York 1993, S. 51; dt.: Die Kultur des Krieges, Berlin 1995, Tb.-Ausg. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 84.

2 Stig Förster, „Vom Kriege“. Überlegungen zu einer modernen Militärgeschichte, in: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000, S. 265-281, hier S. 271ff.

3 Michael Geyer, Eine Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht, in: Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1995, S. 136-161, hier S. 152, S. 157.

4 Anne Lipp, Diskurs und Praxis. Militärgeschichte als Kulturgeschichte, in: Kühne/Ziemann, Was ist Militärgeschichte? (Anm. 2), S. 212-227, hier S. 212ff.

5 Ebd., S. 214.

6 Im angloamerikanischen Raum stellt sich die Situation anders dar; ausführlich diskutiert wird etwa die Studie von John A. Lynn, Battle. A History of Combat and Culture, Boulder 2003, in der sich Keegans Ansatz weitgehend durchgesetzt hat.

7 Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges, München 1998, S. 318.

8 Vgl. etwa Heinrich von Stietencron/Jörg Rüpke (Hg.), Töten im Krieg, Freiburg i.Br. 1995.

9 Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Stuttgart 2002, S. 192ff.

10 Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 366-386, hier S. 366, S. 373.

11 Zur möglichen Spannweite von Beiträgen, welche beispielsweise die Tötungserfahrung von Tätern thematisiert, vgl. etwa Thomas Kühne/Peter Gleichmann (Hg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert, Essen 2004.

12 Margaret Mead, Alternativen zum Krieg, in: Morton Fried/Marvin Harris/Robert Murphy (Hg.), Der Krieg. Zur Anthropologie der Aggression und des bewaffneten Konflikts, Frankfurt a.M. 1971, S. 235-252, hier S. 236.

13 Heinrich von Stietencron, Töten im Krieg: Grundlagen und Entwicklungen, in: ders./Rüpke, Töten im Krieg (Anm. 8), S. 17-56, hier S. 27ff.

14 Barbara Ehrenreich, Blutrituale. Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 17.

15 Burkhard Gladigow, Homo publice necans. Kulturelle Bedingungen kollektiven Tötens, in: Saeculum 37 (1986), S. 150-165, hier S. 153, S. 164.

16 Armin Nassehi, Der Erste Welt-Krieg oder: Der Beobachter als revolutionäres Subjekt, in: Dirk Baecker/Peter Krieg/Fritz B. Simon (Hg.), Terror im System. Der 11. September 2001 und die Folgen, Heidelberg 2002, S. 175-200, hier S. 178f.

17 Hans Joas, Die Modernität des Krieges. Die Modernisierungstheorie und das Problem der Gewalt, in: ders., Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2000, S. 67-86, hier S. 70f.

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