Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980–1990, München: Carl Hanser 1990; München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1992, 2. Aufl. 1993.
Das Buch galt uns bei seinem Erscheinen als Geheimtipp – ein Werk nicht nur der genauen Analyse, sondern einer beeindruckenden Deutung. Für eine Interpretation des verwirrenden Geschehens, das wir erlebten, benötigten wir so etwas ganz dringend.1 Ich habe das Buch allerdings erst 1992 gründlich gelesen, zumindest steht in meiner Bibliothek die in jenem Jahr erschienene Taschenbuchausgabe. Die Seitenangaben im vorliegenden Text beziehen sich alle auf diese Ausgabe.
Garton Ashs Buch ist eine Sammlung von Reportagen und Essays, erstmals veröffentlicht zwischen Mitte der 1980er-Jahre und Anfang 1990. Es besteht aus zwei zunächst separaten Teilen: Der erste behandelt die Vorgeschichte von 1989 und trug im englischen, bereits 1989 publizierten Original den Titel: „The Use of Adversity. Essays on the Fate of Central Europe“. Der zweite Teil war in der englischen Erstausgabe 1990 als „We the People“ und in der US-amerikanischen Ausgabe im selben Jahr als „The Magic Lantern“ erschienen. Hier berichtet Garton Ash auf ungefähr 120 Seiten von den revolutionären Ereignissen vor allem in Ostmitteleuropa während des Jahres 1989, von der „Refolution“ (S. 399, nur eine der treffenden Worterfindungen des Autors). Dieses dünne Werk las sich spannend; es schilderte in persönlichen Eindrücken die unerwarteten Ereignisse jenes Sommers und Herbstes. Damals war Garton Ash als erster Zeithistoriker in der Lage, ein so umfassendes Panorama der Ereignisse zu entwerfen.2
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Man erfuhr nicht nur, was geschah, sondern zugleich, wie sehr diese Ereignisse die Akteure, die Helden jener Zeit überrascht hatten. Eine Diktatur, häufig als totalitär beschrieben, räumte (beinahe) gewaltlos das Feld. Auf S. 348 steht ein Aperçu Garton Ashs, das sehr bekannt wurde: „In Polen dauerte es zehn Jahre, in Ungarn zehn Monate, in der DDR zehn Wochen, vielleicht wird es in der Tschechoslowakei nur zehn Tage dauern!“ Das wurde Ende 1989 in Prag geäußert. Der dabei anwesende Václav Havel sorgte dafür, dass dieser Gedanke von einem Videoteam festgehalten wurde. Das Aperçu wurde später noch ergänzt: In Bulgarien dauerte es zehn Stunden, in Rumänien zehn Minuten. Die Wucht der Ereignisse war vielleicht vergleichbar mit einer sich immer schneller in Bewegung setzenden, nicht mehr aufzuhaltenden Lokomotive, die den Zug „Sozialismus“ mit großer Gewalt gegen den Prellbock am Ende der Schienen schob.
Die Erinnerung an das völlige Überraschtwerden der Akteure durch die Ereignisse ist auch einer der starken Eindrücke beim Wiederlesen des Buchs. Noch 1988 schien das „Ancien Régime“ mit dem Zentrum in Moskau Jahrzehnte vor sich zu haben; Veränderung war nur in kleinen Schritten vorstellbar. Kurz vor den Wahlen im Juni 1989 in Polen gingen die intellektuellen Berater der Solidarność von einer langjährigen Übergangsphase aus, in der die bisherigen Dissidenten weiterhin weniger direkt Macht ausüben, sondern vor allem die kommunistische Führung kontrollieren wollten.
Garton Ash war ein Insider aus dem Westen. Er hatte Anfang der 1980er-Jahre als Zeithistoriker über Ostmitteleuropa zu arbeiten begonnen, und die Humboldt-Universität war dabei seine erste Station. Seine beiden Bücher, in der deutschen Fassung wie in einigen anderen Sprachen in einem Band zusammen herausgebracht, sind eine große Erzählung über die Krise und den Beginn der Transformation in Ostmitteleuropa – vor allem in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Die DDR, von der aus er die unbekannte Landschaft zu durchstreifen begann, wird dabei vergleichsweise beiläufig behandelt. 1990 wurde Garton Ash Fellow am St. Antony’s College in Oxford und ist dort gegenwärtig „Isaiah Berlin Professorial Fellow“. Von ihm stammen inzwischen etliche weitere Bücher, die öffentliche Beachtung erlangten, etwa „Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent“ (1993) oder „Die Akte Romeo“ (1997).
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Das hier vorgestellte Buch wurde schnell in viele Sprachen übersetzt. Neben den englischen, amerikanischen und deutschen Ausgaben habe ich finnische, französische, polnische, portugiesische, schwedische, ungarische gefunden. 1990/92 lieferte dieses Buch eine erste Grundlage für das Verständnis der Ereignisse. So war es auch für mich. Beim jetzigen erneuten Lesen habe ich einige Leitfragen und Einsichten wiedergefunden, die mir eine plausible Interpretation der Ereignisse damals ermöglicht haben: Als einer der Ersten hat Garton Ash über die Ursachen des Niedergangs des Kommunismus nachgedacht – war Gorbatschow oder der polnische Papst entscheidend? Hat der Helsinki-Faktor (der Druck des Westens) eventuell die wichtigste Rolle gespielt? „Wenn 1989 das Ende war, was aber war der Anfang vom Ende?“ (S. 393) Die Antwort des Autors: Die herrschende Klasse des Staatssozialismus hatte ihren Glauben an die eigene Herrschaft verloren (S. 401). Das war eine genaue und treffende Beobachtung. Nur passt sie natürlich nicht zum immer noch verbreiteten Bild der omnipotenten Macht eines totalitären Systems. Garton Ash vergaß auch nicht, daran zu erinnern, dass das Programm jenes osteuropäischen Staatssozialismus anfangs das einer „emanzipatorischen Modernisierung“ gewesen war, die aus seiner Sicht Mitte der 1960er-Jahre scheiterte (S. 241).
In den Essays finden sich viele prägnante Begriffe, Bilder und Anekdoten: So wird Polen als der „Eisbrecher des politischen Wandels“ bezeichnet (S. 318). Sehr schön ist auch die Metapher von der „Ottomanisierung“ (zuerst im Essay über Mitteleuropa entwickelt, S. 192ff.), auch wenn sie sich als Prognose nicht bewährt hat. Oder genauer: Der Niedergang des sowjetischen Imperiums ging so viel schneller als der Niedergang jenes kleinasiatischen Imperiums, dass sich die Metapher sehr bald erledigt hatte. Und noch eine Anekdote bleibt im Gedächtnis. In einer Reportage über Ungarn im Frühjahr 1989 notiert Garton Ash den „Witz des Jahres“: „Was ist der Sozialismus? Der längste und schmerzlichste Weg vom Kapitalismus zum Kapitalismus.“ (S. 278)
Während mir Anfang der 1990er-Jahre der zweite Teil des Buches über das Jahr 1989 selbst am wichtigsten war, erscheint mir heute besonders der erste lesenswert. In ihm wird die Vorgeschichte des Systemwechsels beschrieben. Auch hier geraten zunächst die Metaphern in den Blick. Die Tschechoslowakei der „Normalisierung“ wird als eine Gesellschaft „unter dem Eis“ beschrieben (Text aus dem Jahr 1984): „Die tschechische Nation steht auf dem Kopf. […] Die Unabhängigsten, Besten und Intelligentesten sind am Boden, die Schlimmsten, Dümmsten und Servilsten an der Spitze.“ (S. 52)
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In seinem Mitteleuropa-Essay von 1986 („Mitteleuropa – aber wo liegt es?“) skizziert Garton Ash Gemeinsamkeiten und Unterschiede der intellektuellen Suche nach Alternativen in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei. Dieser Essay spart die Ambivalenz des Mythos Mitteleuropa nicht aus. Garton Ash zitiert den Schweizer Publizisten François Bondy, der treffend schreibe, „daß Kafka natürlich ein Kind Mitteleuropas gewesen sei, aber das sei Adolf Hitler auch gewesen“ (S. 169). Und schließlich: „Sobald man den Begriff Mitteleuropa ins Spiel bringt, ist man von zänkischen Gespenstern umgeben, von rivalisierenden historischen, geografischen und kulturellen Erinnerungen und Ansprüchen […].“ (S. 171)
In einem Essay aus dem Sommer und Herbst 1988 („Reform oder Revolution“) wird der englische Historiker bezogen auf die mögliche Zukunft der Region noch pessimistischer: „Der Traum einer emanzipatorischen Modernisierung, keineswegs nur der Alleinanspruch der Kommunisten nach 1945, kann in einer Realität enden, die nur allzu vertraut aus der mitteleuropäischen Geschichte ist: in einer wachsenden Rückschrittlichkeit im Vergleich zum Westen. […] Wirtschaftssysteme, die Kupferpfannen, eingelegte Früchte, billige Saucen und billige Arbeitskräfte exportieren. Eine Zone aus schwachen Staaten, nationalen Vorurteilen, Ungerechtigkeit, Armut und Schlamassel.“ (S. 284) Dieser Text passte natürlich nicht in die Landschaft der unmittelbaren postsozialistischen Euphorie – 2009 hingegen liest er sich wie eine Prognose der inzwischen eingetretenen negativen wirtschaftlichen Tendenzen und ihrer sozialen Folgen. Unter dem Eindruck des „Wunderjahrs“ hat Garton Ash dann zwar versucht, seine Sorgen wegzuschreiben, die moralischen Vorzüge der neuen Lage zu betonen. Aber was erstaunlich ist und mir bei der ersten Lektüre nicht auffiel – er bleibt am Schluss dennoch bei seiner ambivalenten Einschätzung der „Aussichten auf eine postkommunistische Zukunft, die der präkommunistischen Vergangenheit erstaunlich ähnlich ist“ (S. 412f.).
Obwohl Garton Ash in den dissidentischen Intellektuellen Osteuropas seine Helden gefunden hat, vergisst er nicht ihre konzeptionellen Schwächen. Die oppositionellen Intellektuellen hätten unter anderem die Bedeutung der Wirtschaft für eine unabhängige osteuropäische Entwicklung unterschätzt (S. 189). An anderen Stellen wird dann allerdings deutlich, dass sie zwar gewisse wirtschaftliche Vorstellungen entwickelt hatten, doch wurden diese später nicht umgesetzt. So stellt Garton Ash fest, Solidarność habe vor den Wahlen im Juni 1989 eine stufenweise eingeführte „sozialistische Marktwirtschaft“ propagiert. Selbst Tadeusz Mazowiecki, als erster nichtkommunistischer Regierungschef Polens seit Jahrzehnten, „war von den sozialen Lehren des Papstes zutiefst beeinflußt gewesen und hatte in jüngeren Jahren wissen lassen, daß er geneigt sei, an die Möglichkeit eines christlichen Sozialismus zu glauben“ (S. 318). Dann allerdings berief er Leszek Balcerowicz als Wirtschaftsminister, der weder eine sozialistische noch eine soziale Marktwirtschaft durchzusetzen half. Václav Havels Ausführungen über die geplante Wirtschaftstransformation (auf einer Pressekonferenz am 24. November 1989 in Prag) stellt Garton Ash in derselben Weise dar: „[…] natürlich sei er für soziale Gerechtigkeit und eine pluralistische Wirtschaft mit unterschiedlichen Eigentumsmodellen.“ (S. 363) Aber auch hier kam später Václav Klaus und realisierte als Finanzminister seine ganz andere Vorstellung von Marktwirtschaft. Diese Kluft zwischen ursprünglichen Zielen und realisierter Politik wird allerdings erst heute, im Abstand von 20 Jahren, richtig deutlich. Mit dem Verweis auf die Unterschätzung der wirtschaftlichen Aufgaben der Transformation bei vielen Dissidenten hat Garton Ash einen der Gründe für die späteren Defizite benannt. Ein anderer Grund liegt nach meiner Überzeugung in den damaligen überhöhten Erwartungen vieler Osteuropäer an das siegreiche westliche System.
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Ein Defizit von Garton Ashs Texten, das mir beim erneuten Lesen aufgefallen ist, besteht in der Unterschätzung der Rolle der staatssozialistischen Reformer und der mit ihnen verbundenen Gruppe von Intellektuellen für den Wandel in den 1980er-Jahren. In seinen Analysen Polens und Ungarns kommt Garton Ash zwar immer wieder auf die gerade in diesen Ländern auffallenden Initiativen von Reformern zu sprechen, aber er ist mit seinem analytischen Interesse oder gar seiner Sympathie nicht bei ihnen, sondern bei ihrem Gegenpart, den oppositionellen Gruppen. Gorbatschow wird erwähnt, aber dem Papst im Einfluss auf den Wandel Osteuropas gleichgestellt.3 Das ist keine Kleinigkeit, denn bei Aussparung der reformorientierten Intelligenz und ihres Zusammenspiels mit Reformern in der Parteispitze kann man die ganze Unterschiedlichkeit der osteuropäischen Entwicklung seit dem Tode Stalins nicht erklären. Der Mangel lässt sich gut an Garton Ashs Reportagen über Ungarn ablesen, vor allem an seinem Text von 1985. Ungarn unterscheide sich bezüglich der intellektuellen Freiheit nur graduell von anderen Ostblockstaaten; es gebe keine klare Trennlinie zwischen Kollaboration und Opposition (S. 132). Garton Ashs Erklärung für die trotzdem erspürte Öffnung fällt dann sehr einseitig aus: „Eine alarmierte und wachsame westliche Öffentlichkeit kann einen Staat beeinflussen, der so sehr auf seine Reputation im Westen bedacht ist wie Ungarn.“ (S. 140, dortige Hervorhebung) Dies ist ein Argument, das alle Anstöße für Veränderung nach außen verlagert und dem Staatssozialismus letztlich jeden inneren Antrieb zur Veränderung (und Reform) abspricht. Zudem passt die zitierte Deutung wohl eher zur DDR als zum spätsozialistischen Ungarn.
Inzwischen gibt es viele Texte, die jene Einseitigkeit widerlegen. Um nur einige zu nennen: Zu Ungarn hat Rudolf Tökés bereits in einer Studie von 1996 wesentliche Erkenntnisse über die Akteure und Mechanismen des inneren Wandels geliefert.4 Wichtige Erkenntnisse über die Triebkräfte des Wandels innerhalb des Staatssozialismus sind seit 1990 bei Analysen des Prager Frühlings oder der Wirtschaftsreformen herausgearbeitet worden – Reformen, in denen staatssozialistische Politiker und Angehörige der Intelligenz nach Auswegen aus den Fallen der Staatswirtschaft gesucht haben.5
Auch für die Erklärung der „Politik der deutschen Wiedervereinigung“, also des scheinbar alternativlosen Übergangs von den revolutionären Veränderungen in der DDR im Herbst 1989 zum 3. Oktober 1990, findet sich bei Garton Ash nur Konventionelles: Die entscheidenden Impulse seien von außen (aus der nicht- oder antisozialistischen Bevölkerung) und vom Westen gekommen. Die mit dem Projekt Sozialismus verbundene reformorientierte Intelligenz wird wiederum nicht beachtet. Das schmerzt natürlich besonders diejenigen, die seinerzeit dafür eintraten (wie auch ich selbst). Trotz solcher Defizite, die durch manche späteren Forschungen korrigiert worden sind, enthalten Garton Ashs Texte nach wie vor viele Anregungen. Gerade mit dem Abstand von rund zwei Jahrzehnten lohnt es sich, sie von neuem zu lesen.
1 „Wir“ meint hier eine Gruppe von reformorientierten DDR-Philosophen, die Ende der 1980er-Jahre an der Humboldt-Universität in Berlin (Ost) das Forschungsprojekt „Moderner Sozialismus“ entwickelten und nach 1990 dort ein Institut für Gesellschaftsanalyse unter dem Namen „Institut für interdisziplinäre Zivilisationsforschung“ gründeten. Vgl. zu unserer politischen Biographie mein Buch Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR, Wien 2008.
2 Inzwischen gibt es natürlich viel mehr Autorinnen und Autoren aus Geschichts- und Politikwissenschaft, die sich einen solchen breiten Überblick des Systemwechsels von 1989/90 zugetraut haben. Um nur die aktuellsten Arbeiten zu nennen: Archie Brown, Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin 2009; György Dalos, Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009.
3 Vgl. dagegen die überzeugendere und faktenreiche Argumentation von Archie Brown, Der Gorbatschow-Faktor. Wandel einer Weltmacht, Frankfurt a.M. 2000.
4 Rudolf L. Tökés, Hungary’s Negotiated Revolution. Economic Reform, Social Change, and Political Succession, 1957–1990, Cambridge 1996.
5 Vgl. u.a. Bernard Chavance, The Transformation of Communist Systems. Economic Reforms since the 1950s, Boulder 1994; Jiří Kosta, Die tschechische/tschechoslowakische Wirtschaft im mehrfachen Wandel, Münster 2005; Dieter Segert, Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – Drei Versuche, im Westen anzukommen, Frankfurt a.M. 2002, S. 174ff., S. 191ff.