Joseph B. Schechtman, Postwar Population Transfers in Europe 1945-1955, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1962.
Eugene M. Kulischer, Europe on the Move. War and Population Changes, 1917-1947, New York: Columbia University Press 1948.
Eine Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts müsste zugleich eine Geschichte des Verlustes und des Vergessens sein. Zu solchen Überlegungen wird gedrängt, wer die Studien von Joseph B. Schechtman und Eugene M. Kulischer über die Bevölkerungsverschiebungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Hand bekommt. Bekanntlich ist das Problem von Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedlungen im Zusammenhang der Jugoslawienkriege und anderer „ethnischer Säuberungen“ wieder zu einem brisanten Thema geworden, das die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf sich ziehen konnte. Für die neuere Forschung – etwa Klaus J. Bades „Europa in Bewegung“ (2000) oder Norman Naimarks „Fires of Hatred“ (2001) – sind Kulischer und Schechtman kein monumentaler Referenzpunkt, sondern nur eine Fußnote.1
Ich habe mich immer gefragt, wie so etwas möglich ist: Die gründlichsten Arbeiten zum Thema Zwangsmigration, glänzend recherchiert und ebenso glänzend geschrieben - es gibt sie nicht mehr. Allein Schechtmans Band zu den Umsiedlungen während des Zweiten Weltkriegs ist 1971 noch einmal neu aufgelegt worden. Wahrscheinlich kommt hier vieles zusammen: schlichte Ignoranz - man kennt die Literatur einfach nicht - und Originalitätsdrang von Forschern, die ein Problem damit haben, dass sie nicht die ersten sind, die zu einem Thema gearbeitet haben. Es kann auch wissenschaftsgeschichtliche Gründe geben, etwa dass der Ansatz, die Perspektive obsolet, anachronistisch geworden, nicht mehr „anschlussfähig“ an den Mehrheitsdiskurs sind - was nicht selten für die Dignität ignorierter Autoren spricht. Im Falle von Schechtman könnte dies der Umstand sein, dass er noch unmittelbar im Zeit- und Erfahrungshorizont der Weltkriegsepoche argumentiert und vertritt, was 1945 communis opinio war: dass Bevölkerungstransfers durchaus legitime Mittel seien, um die Welt ein für allemal von den durch ethnische Minderheiten erzeugten Konflikten und Krisen zu befreien, also die Theorie des „kleineren Übels“, wie sie vom Vertrag von Lausanne 1923 über den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch bis zur Konferenz von Potsdam 1945 mit dem Beschluss über die kollektive Umsiedlung der Deutschen formuliert und praktiziert worden ist. Zwar war diese Position auch 1945 unter den Alliierten nicht unumstritten, aber doch dominant, und angesichts der Millionen von Weltkriegsopfern auch nachvollziehbar. Bei Kulischer spielte vielleicht eine Rolle, dass seine Ansicht von einem fast naturwüchsigen Geschichtsprozess - demographische Entwicklung, Wanderungsbewegung, Kriege, Grenzverschiebungen - dem Rationalismus der Mainstream-Historiographie widersprach.
Der Hauptgrund für das „Verschwinden“ dieser großen Autoren und ihrer Arbeiten dürfte aber in dem Umstand zu suchen sein, dass im Europa des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs Umsiedlungs- und Fluchtbewegungen zum Stillstand gekommen waren. Mit der Zementierung des Status quo in Gestalt von Mauer und friedlicher Koexistenz schien Europa das Jahrhundert der Flüchtlinge hinter sich gebracht zu haben - bis es am Ende der Blockkonfrontation zum Zerfall Jugoslawiens und zur Wiederkehr der mit „ethnischer Säuberung“ verbundenen Gräuel kam. Ein halbes Jahrhundert hatte Europa es sich leisten können, seine Geschichte der gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen zu vergessen. Aber auch nach 1990 hat sich kein Verlag entschließen können, Kulischers oder Schechtmans Arbeiten neu aufzulegen - eine bedauerliche, ja schwere Unterlassung, die die Forschung viel Zeit und Kraft gekostet hat.
2
Was ist an diesen Arbeiten bis auf den heutigen Tag so eindrucksvoll? Zunächst sind es Autoren, denen der Gegenstand nah, vertraut, ja lebensgeschichtlich aufgezwungen war. Sie waren im besten und umfassenden Sinne „qualifiziert“. Beide waren russische Juden. Eugene Kulischer, Sohn des bedeutenden russischen Historikers und Ethnologen Michail Kulischer, war Anfang der 1920er-Jahre aus Petrograd nach Deutschland gekommen, musste Deutschland verlassen und gelangte 1941 in die Vereinigten Staaten. Joseph B. Schechtman, geboren 1891 in Odessa, ausgebildet in Russland und Deutschland, verließ Russland 1920 und arbeitete als Beauftragter zionistischer Organisationen, bevor auch er 1941 in die USA kam. Eugene Kulischer hatte zusammen mit seinem Bruder Alexander 1932 das bedeutende Buch „Kriegs- und Wanderzüge. Weltgeschichte als Völkerbewegung“ publiziert. Auch „Europe on the Move“ ist von beiden Kulischers konzipiert worden. Alexander gelang aber die Flucht aus Europa nicht; er starb 1942 im Konzentrationslager Drancy. Kulischer und Schechtman setzten ihre Forschungen in den USA während des Zweiten Weltkriegs im Research Bureau on Population Movements und im Office of Strategic Services fort. Schechtman hat darüber hinaus eine zweibändige Jabotinsky-Biographie geschrieben sowie zum Flüchtlingsproblem in Palästina und zur Entwicklung des Judentums in der Sowjetunion gearbeitet (er besuchte 1959 zum ersten Mal wieder seine Heimatstadt Odessa).
Die Arbeitsbedingungen im Research Bureau müssen ausgezeichnet gewesen sein. Beide Autoren standen, wie man den dicht gearbeiteten Texten, den Literaturangaben und Quellen entnehmen kann, hart an der Wirklichkeit. Ihnen war offensichtlich die gesamte Presse der Zeit zugänglich, auch entfernteste Regionalzeitungen, die sie als polyglotte Menschen ohne weiteres lesen und auswerten konnten (ein zentrales Problem der heutigen Forschungen zum Thema!).
Schechtmans Studien lesen sich nicht nur als empirisch gesättigte Bestandsaufnahme zum europäischen Umsiedlungskomplex, sondern auch als empirische Begründung für die Politik der Alliierten, die in Potsdam in die großmaßstäbliche Umsiedlung, die „Beseitigung der Minderheitenfrage in Europa“ und die ethnische Homogenisierung der Nachkriegsstaaten einmündete. Schechtman versucht, ein Gesamtbild von ethnischen Umsiedlungen in Europa zwischen 1913 und 1948 zu geben, aber im Zentrum steht der deutsche Umsiedlungskomplex: die von Deutschland ausgehende „Berichtigung der ethnographischen Landkarte“ wie auch die Austreibung und Umsiedlung der Deutschen nach 1945. Schechtman rekonstruiert einleitend den theoretischen und ideologischen Hintergrund - Bluntschli, Montandon, Nansen, Curzon. Am Ende werden die Argumente für und gegen die Umsiedlung abgewogen. Die Gegner der kollektiven Umsiedlung als „Allheilmittel“ kommen zu Wort (Stellio Seferiades, Stephen Ladas, Eugene Kulischer).
3
Der zweite Band schließt gewissermaßen an die Zwischenkriegszeit an und beschäftigt sich mit den Nachkriegsumsiedlungen. Dabei kommen stärker die zwischenstaatlichen Austausch- und Umsiedlungsaktionen zwischen der UdSSR und Polen, der UdSSR und der Tschechoslowakei, die Situation in Südosteuropa zur Darstellung. Ein großer Vorzug von Schechtmans Betrachtung ist, dass er Zwangsmigration als komplexen Vorgang sieht - verbunden mit Eigentumsfragen, Verkehr, Entvölkerung und Repeuplierung, kulturellen Verwerfungen, Rekultivierung und anderen Faktoren.
In den heutigen Diskussionen über Umsiedlung und Vertreibung wird ganz ahistorisch verkannt, dass diese Praktiken als Lösung von jahrhundertelangen Konflikt- und Krisenherden betrachtet wurden. So meinte Herbert Hoover: „In most cases the problem of mixed border people may have been solved by the heroic remedy of transfer of population. The hardship of moving is great, but it is less than the constant suffering of minorities and the constant recurrence of war.“ Der gegenwärtige, über weite Strecken moralisierende Vertreibungsdiskurs täte gut daran, diesen anderen, kriegs- und katastrophennahen Diskurs zur Kenntnis zu nehmen. Bis heute scheint mir Schechtmans Detailliertheit, die von ihm geschilderte Vielfalt der Verzweigungen der Minderheitenprobleme und des Ineinanders von Bevölkerungstransfers (Tirol, Wolhynien, Dobrudscha, Thrakien usw.) unübertroffen.
Zu Kulischers „Europe on the Move“: Man könnte dieses grandiose Werk fast als eine Geschichte Europas unter dem Gesichtspunkt demographischer und militärischer Verschiebungen und Erschütterungen bezeichnen. Es ist nicht einfach eine Wanderungsgeschichte, sondern betrachtet Europa aus der Perspektive freiwilliger und erzwungener Wanderungen. Dies gibt dem Werk einen epischen Zug. Es beginnt mit dem Ersten Weltkrieg, der Revolution und dem Bürgerkrieg in Russland, den sozialen Erschütterungen der Kollektivierung und Industrialisierung in der Sowjetunion. Die anderen Schauplätze sind Osteuropa, vor allem Polen, sowie Mitteleuropa und Südosteuropa. Die europäische Geschichte erscheint als grandioser Tumult „out of control“, sich übersteigernd in den gewaltsamen Bewegungen des Zweiten Weltkrieges und den durch ihn ausgelösten beispiellosen Vorgängen der Entwurzelung von Abermillionen Menschen. Das dynamische Zentrum in diesem Szenario Kulischers ist zweifellos Russland bzw. die Sowjetunion. Aber noch etwas anderes springt ins Auge: Kulischer hat einen Blick für den Gesamtzusammenhang der „Bewegung“, die ineinander übergehenden Formen spontaner Migration, durch demographische oder politische Entwicklungen ausgelöste Formen erzwungener und gewaltsamer Migration - Evakuierung, Deportation von Zivilbevölkerung aus Kriegsgebieten, Flucht, Abwanderung aus den Großstädten infolge des Bürgerkriegs, umgekehrt Landflucht und Immigration in die Großstädte in der Zeit der sowjetischen Kollektivierung und Industrialisierung. „Europe on the Move“ ist ein Versuch, Europa im Zeitalter pathologisch übersteigerter Dynamiken und Verwerfungen zu beschreiben. Viele Aspekte, die erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts in der Forschung aufgenommen worden sind - in Peter Gatrells Studien „A Whole Empire Walking“ (1999) und „Homelands“ (2004) oder Mark Mazowers „Dark Continent“ (1999) - sind bei Kulischer bereits alle vorhanden, noch dazu in einem stilistisch schmucklosen und doch hochdramatischen Narrativ. Keine künftige Gesamtgeschichte von „Europa in Bewegung“ wird an diesem großen Entwurf vorübergehen können - in empirischer, aber mehr noch in methodischer Hinsicht.
4
Es bleiben zwei Aspekte, die mir rätselhaft vorkommen und einer Klärung bedürfen: In Schechtmans und Kulischers Arbeiten kommen die innersowjetischen „ethnischen“ Bevölkerungstransfers nicht vor. Dies ist teilweise gewiss der Quellen- und Informationslage der Zeit geschuldet. Nicht erklärbar ist mir dagegen, weshalb in den Werken beider Gelehrter russisch-jüdischer Herkunft die Vernichtung der europäischen Juden nicht angesprochen wird. Sie hatte ja immerhin mit dem Exil aus Hitlerdeutschland und aus dem besetzten Mitteleuropa begonnen, und alle Transfers, die so sorgfältig registriert und rekonstruiert sind - Einsiedlung der Deutschbalten und Wolhynien-Deutschen in den Warthegau oder der Bessarabien-Deutschen ins Gebiet von Zamość - standen in unmittelbarem Zusammenhang mit Aussiedlung und Vertreibung von Juden sowie ihrer Deportation in die Gaskammern. Ob diese Lücke allein damit zu erklären ist, dass die Autoren die radikale Differenz zwischen Bevölkerungstransfer und Genozid berücksichtigen, ist mir nicht klar. Künftige Forschung hätte für das von Kulischer und Schechtman vor einem halben Jahrhundert souverän behandelte Gesamtthema nicht nur neue Quellen zur Verfügung, sondern würde vermutlich auch die Brücke schlagen zwischen Bevölkerungsverschiebungen im Allgemeinen und dem Ort der Judenvernichtung innerhalb der „Neuordnung der ethnographischen Verhältnisse in Europa“. Nach wie vor glaube ich, dass die beiden Werke neu herausgegeben und auch übersetzt werden sollten. Wir schulden es nicht nur den beiden großen Gelehrten, sondern ihre Arbeiten sind, solange es keine überbietende Gesamtdarstellung der Vorgänge gibt, unübertroffen und unersetzlich.
1 Im Gegensatz dazu vgl. aber auch Dirk Hoerder, Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium, Durham 2002.