BAP, Kristallnaach, Text: Wolfgang Niedecken/Musik: BAP; aus dem Album: Vun drinne noh drusse (1982). Der Text ist abgedruckt in: Wolfgang Niedecken/Oliver Kobold, BAP. Die Songs 1976–2006, Hamburg 2006, S. 120-123.
Vor 30 Jahren erschien auf dem vierten Album der Kölner Band BAP der Song „Kristallnaach“. Prominent platziert als Eröffnungsstück und mit einer Spiellänge von fast fünf Minuten das längste Stück des Albums, ist „Kristallnaach“ die vielleicht bekannteste Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Form eines Popsongs. Das Album erreichte nach Erscheinen Platz 1 der deutschen Charts, und der Song stieg bis auf Platz 25 der Singlecharts.1 Doch nicht dieser Erfolg macht ein ‚neues Hören‘ interessant, sondern die Tatsache, dass erst mit dem zeitlichen Abstand erkennbar wird, wie stark der Song an verschiedenen pop- und zeithistorischen Schnittstellen angesiedelt ist.
Die frühen 1980er-Jahre markieren den kommerziellen Durchbruch deutschsprachiger Popmusik hin zu einem heterogenen Massenpublikum. Abgesehen von „Einzelerscheinungen“ der 1970er-Jahre wie Udo Lindenberg oder Ton Steine Scherben begann für die Bundesrepublik erst hier eine szenen- und genreübergreifende „eigenständige Rockentwicklung“.2 Sie ist zum einen mit der ‚Neuen Deutschen Welle‘ verbunden, zum anderen mit dem ‚Deutschrock‘ von Künstlern wie Herbert Grönemeyer, Wolf Maahn und Heinz Rudolf Kunze. BAPs „Kristallnaach“ ist erkennbar an diesem Übergang positioniert. So besteht die musikalische Gestaltung bereits aus elektrifizierter, eingängiger und Gitarrenriff-orientierter Rockmusik, wie sie im Popsong der Bundesrepublik erst ab Beginn der 1980er-Jahre aufkam. Die Textstruktur jedoch erinnert noch deutlich an deutschsprachige politische Folksongformen der 1960er- und 1970er-Jahre wie etwa „Wölfe mitten im Mai“ von Franz Josef Degenhardt und vor allem an die Songs von Bob Dylan. Der Einfluss von Stücken wie „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, den Wolfgang Niedecken mehrfach selbst betont hat, zeigt sich in „Kristallnaach“ vornehmlich in der für eine Single-Auskoppelung ungewöhnlich hohen Anzahl von sechs Strophen, dem fehlenden Refrain und stattdessen der am Ende jeder Strophe wiederkehrenden variierten Erwähnung des titelgebenden Ereignisses.3 Die repetitive und zunehmend bedrohliche Nennung der „Kristallnaach“, aber auch die Komplexität und bildsprachliche Dichte des Textes im Ganzen entwickeln eine Dynamik, die von der musikalischen Gestaltung des Songs noch intensiviert wird.
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Die Musik ist als kontinuierliche Steigerung arrangiert: Die erste, sehr leise Strophe ist ausschließlich mit einer Synthesizer-Fläche und einer taktgebenden, ‚clean‘ gespielten E-Gitarre instrumentiert. Von Strophe zu Strophe kommen Instrumente hinzu. In der zweiten folgen Drum-Hi-Hat und Percussion, in der dritten die Bass-Drum, während die Synthesizer-Fläche oktaviert wird. Nach der dritten Strophe verändert sich das Hörbild komplett. Eingeleitet mit einem Snaredrum-Crescendo, das Marschmusik imitiert, setzt das gesamte Rockinstrumentarium ein – E-Bass, Schlagzeug mit der Snaredrum auf der Zählzeit 2 und 4, verzerrte E-Gitarren. Dieses Arrangement zielt auf das infernale Outro des Songs, in welchem zunächst ein E-Gitarrensolo eine klassische Rockklimax erzeugt und der Song schließlich in einem militaristisch wirkenden Marsch-Trommel-Klangbild verschwindet. Unabhängig vom genauen Textverständnis ist für den Hörer schon durch die musikalische Gestaltung eine zunehmende Bedrohlichkeit des Geschehens spürbar: Aus einer zunächst abstrakt-latenten Gefährdung entwickelt sich nach einem Wendepunkt schnell eine unkontrolliert ausbrechende und schlussendlich radikalisierte Gewalt.
Auch zeithistorisch war „Kristallnaach“ Teil einer Umbruchphase. Anfang der 1980er-Jahre erstarkten in Westeuropa rechtskonservative Parteien (wie zum Beispiel die British National Front oder die französische Front National), und in der Bundesrepublik häuften sich rechtsextremistische Gewalttaten.4 Gleichzeitig veränderte sich – um mit Norbert Frei zu sprechen – ab Ende der 1970er-Jahre der gesellschaftliche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit dahingehend, dass die vorher dominanten „Enthüllungsdiskurse“ über die ‚unbewältigte Vergangenheit‘ allmählich in den Hintergrund traten und die Frage zentral wurde, „welche Erinnerung an diese Vergangenheit bewahrt werden soll“.5
Betrachtet man beispielhaft die sechste und letzte Strophe des Songs, dann ist zu erkennen, wie Wolfgang Niedecken einerseits ganz im Sinne der „Enthüllungsdiskurse“ noch Schuldige benennt (sowohl in Form von persönlichem Fehlverhalten wie auch als Fehler des Gesellschaftssystems). Andererseits wird das historisch spezifische Ereignis ‚Reichskristallnacht‘ 1938 zu einer Metapher für menschliches Fehlverhalten verallgemeinert. In voller Länge lautet die Strophe, die textlich als Klimax angelegt ist:
Do, wo Darwin für alles herhällt,
ob mer Minsche verdriev oder quält,
do, wo hinger Macht Jeld ess,
wo Starksinn die Welt ess,
vun Kusche un Strammstonn entstellt.
Wo mer Hymne om Kamm sujar blööß,
en barbarische Gier noh Profit
‚Hosianna‘ un ‚Kreuzigt ihn‘ rööf,
wemmer irjend ne Vorteil drin sieht
ess täglich Kristallnaach
nur noch Kristallnaach
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Ins Auge fällt, dass das Geschehen in der Gegenwart angesiedelt wird. Signalisiert wird dadurch, dass hier nicht die ‚Kristallnacht‘ von 1938 gemeint ist – im Übrigen eine problematische Bezeichnung6 –, sondern vor neuen Pogromen gewarnt wird. In Form einer Kausalargumentation werden psychologische und gesellschaftliche Voraussetzungen benannt, die eine Wiederholung der Geschichte ermöglichten. Dabei spielt der monetäre Aspekt eine herausragende Rolle – gleich dreimal wird mit den Schlagwörtern „Geld“, „Gier“ und „Profit“ eine materialistische Faschismusanalyse angedeutet. Ein solches Geschichtsbild, das den Nationalsozialismus (als spezifische deutsche Faschismus-Variante) als Instrument des Kapitals zum Zwecke des Machterhalts versteht, ist charakteristisch für die NS-Analysen in den politischen Songs der 1970er-Jahre von Liedermachern wie Franz Josef Degenhardt oder Politrockbands wie Floh de Cologne und Die Schmetterlinge.7 BAPs „Kristallnaach“ steht erkennbar in deren Nachfolge.
Niedecken betont das finanzielle Motiv auch in allen vorherigen Strophen. So beschreibt die zweite Strophe eine „Volksseele“, die „Richtung Siedepunkt wütet und schreit“. Als Ursache für Gewalttätigkeiten (symbolisiert durch den mehrdeutigen Ausruf: „Heil Halali“) nennt der Songtext „Neid“.8 Noch deutlicher jedoch erläutert Niedecken die Folgen kapitalistischer „Gier“ in den folgenden Strophen. Sie schildern eine kafkaeske Gesellschaft, die durch das Fehlen einer funktionierenden Gerichtsbarkeit bei gleichzeitig autoritärer bürokratischer Verfolgung Unschuldiger gekennzeichnet ist.9 Wenn mögliche „Auswääje pulverisiert und verkäuf“ (also kapitalistischen Interessen unterworfen) würden (Strophe 4), seien die Folgen barbarisch: Der „Lynch-Mob“ zeige sein „wohre[s] Jeseech“ (Strophe 5), und die Opfer der „Kristallnaach“ würden eingepasst in den Inbegriff kapitalistischer Inhumanität, den Menschenhandel (ebd.):
– die Galeeren stonn längs unger Dampf –
weed em Hafen op Sklaven jewaat,
op dä Schrott uss dämm unjleiche Kampf
uss der Kristallnaach
Bereits an diesen kurzen Textausschnitten wird sichtbar, wie weitreichend die ‚Novemberpogrome‘ ihrer spezifischen historischen Situation enthoben und als überzeitliches, beständig wiederholbares sowie auch nicht auf Deutschland beschränktes Geschehen präsentiert werden. Dabei fügt Niedecken der kapitalismuskritischen Sicht noch eine weitere Erklärung für gewalttätiges Verhalten hinzu. Die Verführbarkeit hierzu gründe in einer besonderen charakterlichen Disposition (Strophe 3):
Doch die alles wat anders ess stührt,
die mem Strom schwemme, wie’t sich jehührt,
für die Schwule Verbrecher sinn,
Ausländer Aussatz sinn
bruuchen wer, der se verführt.
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Offenkundig werden hier massenpsychologische Theorien des ‚autoritären Charakters‘ rezipiert, wie sie von Wilhelm Reich und Erich Fromm bis zu Max Horkheimer und Theodor W. Adorno formuliert wurden: Konventionalismus, autoritäre Fremdaggression, Stereotypisierung usw. resultierten in einer kollektiven Sehnsucht nach Unterwerfung unter eine Autorität, die Gewalt gegen externe ‚Sündenböcke‘ zu legitimieren helfe.10 Fast resignierend folgt ein Ausblick, der die Gleichgültigkeit und/oder Hilflosigkeit der ‚Trivial-‘ bzw. ‚Popkultur‘ gegenüber solch einer Charakterdisposition anhand eines teilnahmslosen Superhelden demonstriert (Strophe 3):
Un dann rettet kein Kavallerie,
keine Zorro kömmert sich do dröm.
Dä piss höchstens e „Z“ enn dä Schnie
un fällt lallend vüür Lässigkeit öm:
„Na un? – Kristallnaach!“
Aus heutiger Perspektive sind es insbesondere diese beiden Aspekte – die Erweiterung einer materialistischen Faschismusanalyse um massenpsychologische Theorien und die Parallelführung nationalsozialistischer Verbrechen mit der bundesdeutschen Gegenwart –, die „Kristallnaach“ aufschlussreich machen. Im Rückblick kann der Song als ein herausragendes Beispiel für die veränderte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im deutschsprachigen Popsong um 1980 erkannt werden. Bei allen noch vorhandenen formalen und inhaltlichen Bezügen auf die politischen Songs der 1970er-Jahre weist BAPs „Kristallnaach“ bereits voraus auf eine bemerkenswerte erinnerungsgeschichtliche Entwicklung der Popmusik der 1980er-Jahre. Auch unter dem Einfluss des ‚Historikerstreits‘ und der ‚Schlussstrich‘-Debatten stellten viele erfolgreiche Songschreiber die nationalsozialistischen Verbrechen als allgemeingültige Metapher für menschliches Verhalten dar oder setzten sie gar mit anderen Gewalttätigkeiten gleich.11 Konstantin Wecker, Reinhard Mey, Ina Deter, DAF und andere veröffentlichten derartige Songs. Als Beispiel für solche Gleichsetzungen seien hier nur die ersten zwei Verse aus Heinz Rudolf Kunzes Stück „Die kommen immer wieder“ von 1982 genannt. Über den ersten Libanonkrieg heißt es dort in entlarvender Wortwahl: „Ich habe Hitler gesehn / er schrie Shalom und spielte Holocaust im Libanon“.12 Von einer platten Analogiebildung dieser Art ist BAPs „Kristallnaach“ weit entfernt. Der Song zeigt aber die Problematik einer popmusikalischen Herangehensweise an die NS-Vergangenheit, die keine künstlerische Darstellung der historischen Ereignisse sein will, sondern diese lediglich verwendet, um die Warnung vor Entwicklungen der Gegenwart zu intensivieren – auf Kosten historischer Tiefenschärfe und Differenzierung.
Dennoch ist es auch 30 Jahre später schwer, sich der Faszination des Songs zu entziehen. Die bildsprachliche Kraft des Textes, die Eingängigkeit der Melodie und das originelle Arrangement der Musik schaffen eine im politischen Rocksong der Bundesrepublik selten erreichte Intensität. Von dieser Faszination des Songs bis in die Gegenwart zeugen zahllose Liveaufnahmen und euphorische Publikumsreaktionen.13 An ihnen lässt sich jedoch zugleich erkennen, wie der politische Song über den Nationalsozialismus in der speziellen Aufführungssituation eines Rockkonzertes an seine Grenzen stößt. Irritierend ist es auch heute noch, wenn das Publikum lautstark und begeistert die Zeile „ess täglich Kristallnaach“ mitsingt. Zu dieser Problematik hat sich Wolfgang Niedecken in einem dpa-Interview vom November 1990 geäußert: „Da singen alle mit, und keiner denkt darüber nach, wovon eigentlich die Rede ist. Aber ich kann das niemandem verübeln, denn die Leute kommen ja zum Konzert und nicht, um mit mir über die Judenpogrome nachzudenken.“14
1 Vgl. Frank Laufenberg/Ingrid Laufenberg, BAP, in: dies., Hit-Lexikon des Rock und Pop, Bd. 1, aktualisierte und erweiterte Neuausg. München 2007, S. 138ff.
2 Peter Wicke/Wieland Ziegenrücker, Neue Deutsche Welle, in: dies., Rock Pop Jazz Rock, Leipzig 1985, S. 318f., hier S. 318.
3 Vgl. Niedecken zu Dylan in: Jörg-Peter Klotz (Hg.), Wolfgang Niedecken und BAP. In eigenen Worten, Heidelberg 1999, S. 122.
4 Vgl. z.B. Armin Pfahl-Traughber, Der organisierte Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945. Zur Entwicklung auf den Handlungsfeldern „Aktion“ – „Gewalt“ – „Kultur“ – „Politik“, in: Wilfried Schubarth/Richard Stöss (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn 2000, S. 71-100, hier S. 80-85.
5 Norbert Frei, Deutsche Lernprozesse, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 23-40, hier S. 37ff.
6 Vgl. Thorsten Eitz/Georg Stötzel, Reichskristallnacht, in: dies. (Hg.), Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, Bd. 1, Hildesheim 2007, S. 523-531.
7 Vgl. Ole Löding, „Deutschland Katastrophenstaat“. Der Nationalsozialismus im politischen Song der Bundesrepublik, Bielefeld 2010, S. 261-319.
8 Vgl. auch Werner Faulstich, Zwischen Glitter und Punk. Tübinger Vorlesungen zur Rockgeschichte, Teil 3: 1971–1984, Rottenburg-Oberndorf 1986, S. 113.
9 Vgl. die intertextuellen Verweise auf Franz Kafkas Texte „Der Process“ und „Vor dem Gesetz“ in Strophe 4.
10 Dieser Komplex kann hier nur angedeutet werden; vgl. u.a. Theodor W. Adorno, The Authoritarian Personality, New York 1950, v.a. das Kapitel „Types and Syndromes“, S. 744-783; Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus [1933], Köln 1971, v.a. S. 59-94; vgl. auch Peter O. Güttler, Sozialpsychologie, 4., durchgesehene und erweiterte Aufl. München 2003, S. 119-122.
11 Zu dieser Entwicklung, ihren Ursachen und Ausprägungen sowie ihrem zeithistorischen Kontext vgl. Löding, „Deutschland Katastrophenstaat“ (Anm. 7), S. 382-411.
12 Heinz Rudolf Kunze, Die kommen immer wieder, Text: Heinz Rudolf Kunze/Musik: Heinz Rudolf Kunze, Hendrik Schaper; aus dem Album: Eine Form von Gewalt (1982), hier Strophe 1.
13 Vgl. z.B. die zuletzt veröffentlichte Livefassung auf dem Album: BAP, Live und in Farbe (2009).
14 Zit. nach Klotz, Wolfgang Niedecken und BAP (Anm. 3), S. 149f.