Editorial - 1/2020: Offenes Heft

United Kingdom Flag

Zu diesem Heft

Anmerkungen

Seit Gründung unserer Zeitschrift hat die Digitalgeschichte mehrfach einen Schwerpunkt gebildet: zum einen gegenstandsbezogen mit Blick auf die Geschichte der Computerisierung, zum anderen methodisch-theoretisch und auch anwendungsbezogen in Form von Zugängen, die inzwischen als »Digital Humanities« oder spezieller »Digital History« firmieren. Beide Forschungsperspektiven müssen nicht zwingend miteinander verbunden sein, können sich aber gut ergänzen, indem das Wissen um frühere Phasen der Computerisierung die heutige Reflexion über Phänomene digitaler Gesellschaft und digitaler Geschichtswissenschaft bereichert. So finden sich beide Ebenen auch im vorliegenden Heft.

Michael Homberg geht den Anfängen der elektronischen Partnervermittlung nach, die in die 1950er-Jahre zurückreichen, also lange vor der Internet-Ära liegen. Die zunächst eher spielerischen, bald aber auch kommerziell betriebenen Experimente mit dem Großcomputer als »Elektronen-Amor« bieten diverse skurrile Episoden, haben aus heutiger geschichtswissenschaftlicher Sicht jedoch eine weitergehende analytische Bedeutung: Das technisch unterstützte »Matchmaking« mit seinen vieldiskutierten Vor- und Nachteilen führte Erfahrungen mit Computern und Algorithmen in die Alltagswelt zahlreicher Menschen ein, selbst wenn sie die »Elektronengehirne« vorerst noch nicht selbst bedienen konnten.

Heute dagegen ist es längst Standard, einen Großteil aller privaten und beruflichen Tätigkeiten vom heimischen Computer aus erledigen zu können, und davon profitiert auch die quellen- und archivgestützte zeithistorische Forschung. Dennoch ist die Geschichtswissenschaft stärker als andere Fächer weiterhin auf die Verbindung digitaler und analoger Arbeitsgrundlagen angewiesen – schon deshalb, weil ein Großteil des Quellenmaterials nicht digital verfügbar ist und in absehbarer Zeit auch nicht verfügbar sein wird. Zugleich ist in den Archiven sehr viel in Bewegung gekommen: Digitale Zugänge werden mit durchaus beeindruckendem Tempo ausgebaut, und eine Vielzahl von Quellen entsteht ohnehin bereits digital, was neue methodische und theoretische Überlegungen erfordert. Um Archive und Zeitgeschichtsforschung dabei noch stärker als bisher in einen gemeinsamen Gesprächszusammenhang zu bringen, haben Frank M. Bischoff und Kiran Klaus Patel für die Rubrik »Quellen« in diesem Heft eine Debatte konzipiert, die eine Bestandsaufnahme unternimmt sowie Desiderate für die weitere Grundlagenarbeit im Bereich digitaler Quellenkunde und digitaler Hermeneutik benennt. Dies kann natürlich nur einen Zwischenstand markieren und ist auch als Impuls für künftige Beiträge zu verstehen.

Die Corona-Pandemie, das beherrschende und auch hier nicht völlig zu vermeidende Leitthema der vergangenen Monate, hat der Digitalisierung der Fachkommunikation und des Forschens selbst zweifellos einen weiteren Schub gegeben. Sie hebt zudem besonders hervor, wie viele gesellschaftliche und wissenschaftliche Praktiken schon längst digital organisiert sind – was sich jetzt als Vorteil erweist. So klingt Jürgen Kockas These plausibel: »Versucht man, auf größere Zusammenhänge zu blicken und bemüht man sich um eine Langzeitperspektive, dann zeigt sich, dass die Krise vor allem als Motor der Beschleunigung wirkt. Sie spitzt zu und beschleunigt Prozesse, die längst auf dem Weg sind. Jedenfalls in einigen Bereichen.«1 Freilich ist dies keine eindeutige Erfolgs- oder Fortschrittsgeschichte. Der unmittelbare, nicht technisch vermittelte soziale Austausch in Bibliotheken und anderen Orten der Wissensgesellschaft droht auf der Strecke zu bleiben. Die enormen Abhängigkeiten etwa von einer stabilen Stromversorgung und Internetverbindung liegen erst recht auf der Hand. Aber auch das ist nicht neu, und generell dürften Historiker/innen vorsichtiger sein als manche Soziolog/innen, gleich »eine weltgeschichtliche Zäsur« auszurufen.2 Interessanter als eine solche, etwas freihändige Zeitdiagnostik dürfte etwa der Ansatz aus der Public History sein, heute schon Dokumente der aktuellen Pandemie-Erfahrungen zu sammeln, um gezielt Grundlagen für eine spätere Historisierung zu schaffen. Dies kann wiederum Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Geschichtswissenschaft, Archiven und Museen eröffnen oder verstärken.3

Ansonsten dürfte die Geschichtswissenschaft gut beraten sein, bei aller Sensibilität für Gegenwartsphänomene weiterhin ihren eigenen Forschungsrhythmen und pluralen Forschungsinteressen zu folgen, um einer monothematischen Verengung vorzubeugen. So bietet das vorliegende Heft wieder ein breites Spektrum: von den sozialwissenschaftlichen »Lehren« aus den US-amerikanischen Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg (Sophia Dafinger) über den bundesdeutschen Umgang mit den Militärdiktaturen in Chile und Argentinien während der 1970er- und 1980er-Jahre (Felix A. Jiménez Botta) bis hin zur erstaunlich langen Geschichte steuerlich absetzbarer Auslandskorruption bundesdeutscher Unternehmen (Hartmut Berghoff). Der Essay-Teil widmet sich zwei wissenschaftspolitischen Grundsatzfragen, die beide nicht auf die Zeitgeschichte beschränkt sind: Welche beabsichtigten und unbeabsichtigten Lenkungseffekte hat der Trend zu quantitativen Leistungsindikatoren (wie Drittmittel-Quoten) für die Geschichtswissenschaft (Constantin Goschler)? Woher kommt der heute so populäre Begriff »Diversität«, welchen Bedeutungswandel hat er durchlaufen, und welche Blindstellen enthält dieses Amalgam aus biologischen und soziokulturellen Elementen (Georg Toepfer)? In der Rubrik »Neu gelesen« beschäftigen sich Monika Dommann und Henning Tümmers schließlich mit Werken von Sigfried Giedion und Robert Jay Lifton. Besonders Giedions Buch »Mechanization Takes Command« (1948) birgt in Form und Inhalt ein unabgegoltenes Erkenntnispotential. Zwar konnte Giedion das digitale Zeitalter noch nicht vorausahnen, aber seine Genealogie von Mechanisierung und Automatisierung schärft den kritischen Blick auch für die Gegenwart.

Jan-Holger Kirsch für die Redaktion


Anmerkungen:

1 Jürgen Kocka, Motor der Beschleunigung, in: Tagesspiegel, 17.5.2020, S. 5.

2 »Verwundbarkeit macht solidarisch«, in: Tagesspiegel, 21.4.2020, S. 19 (Interview mit Heinz Bude).

In this Issue

Notes

Digital history has been a focus of our journal on many occasions since its inception, whether with regard to the history of computerisation itself, or in terms of theory, methodology and applications in the form of approaches that now go by the name of ›digital humanities‹ or specifically ›digital history‹. These two research perspectives need not necessarily be linked, but they can be very complementary in that knowledge about earlier phases of computerisation enriches our reflections today on phenomena of a digital society and of digital history. Both levels are therefore reflected in the present issue.

Michael Homberg explores the beginnings of electronic matchmaking, which date back to the 1950s – long before the age of the internet. The experiments conducted with the supercomputer as an ›electronic cupid‹, initially for fun, but soon commercially as well, have occasioned a number of bizarre and unlikely incidents. For historians today, however, they have an additional, analytical significance: Technology-aided matchmaking with its widely discussed pros and cons brought experiences with computers and algorithms into the everyday lives of countless individuals, even if they were not yet able to operate these ›electronic brains‹ themselves.

Things have changed. It has long been standard practice for people to carry out the bulk of all private and professional tasks from their home computers, and archival and source-based contemporary history research benefit from this as well. Nevertheless, historical scholarship is still more reliant than other disciplines on a combination of digital and analogue practices, not least because most of the source material is not available digitally, nor will it become so in the foreseeable future. But a lot has happened in the archives, too, with digital access being expanded at a formidable pace and numerous sources already emerging digitally in the first place – requiring new methodological and theoretical approaches. To strengthen the conversation between archives and contemporary history research, Frank M. Bischoff and Kiran Klaus Patel have mapped out a debate for the ›Sources‹ section in this issue that takes stock of the current situation and identifies desiderata for further groundwork in the field of digital source studies and digital hermeneutics. This can of course be only preliminary, and should also be understood as food for thought for future contributions.

The coronavirus pandemic, the subject that has dominated in recent months and cannot be entirely avoided here either, has undoubtedly given the digitalisation of communication among scholars and of the research itself a further push. It has also underscored just how many social and academic practices have long been organised digitally already – something that is now proving advantageous. And so Jürgen Kocka’s thesis sounds plausible: ›If we try to look at the bigger picture and take a long-term perspective, it is evident that the crisis acts above all as an engine of acceleration. It intensifies and accelerates processes that have long been underway. At least in certain areas.‹1 This is certainly no straightforward story of progress or success. Direct social interaction unmediated by technology in libraries and other loci of the knowledge society is at risk of falling by the wayside. More than ever, the enormous dependencies on such things as a stable power supply and internet connection are clear. But this is nothing new either, and historians may generally be more cautious than some sociologists who have been quick to proclaim ›a world-historical watershed‹.2 Perhaps of greater interest than this kind of somewhat offhand Zeitdiagnose, are ideas such as the public history approach of setting out specifically to document experiences of the current pandemic in order to create the foundations for its subsequent historicisation. This can in turn create or strengthen opportunities for cooperation between historians, archives and museums.3

For the rest, and with all due sensitivity to contemporary phenomena, historians would do well to continue to follow their own research rhythms and pursue multiple research interests in order to avoid a narrow, monothematic focus. In this spirit, the present issue again covers a broad spectrum: from the social science ›lessons‹ of the American saturation bombing campaigns in the Second World War (Sophia Dafinger) and West Germany’s dealings with the military dictatorships in Chile and Argentina during the 1970s and 1980s (Felix A. Jiménez Botta) to the astonishingly long history of tax-deductible foreign corruption on the part of West German companies (Hartmut Berghoff). The essay section is devoted to two fundamental science policy questions, neither of which is limited to contemporary history: How is the trend towards quantitative performance indicators (like external funding quotas) impacting historical scholarship in intended and unintended ways (Constantin Goschler)? What is the origin of the now so popular term ›diversity‹, how has its meaning changed over time, and what are the blind spots of this amalgam of biological and sociocultural elements (Georg Toepfer)? Finally, Monika Dommann and Henning Tümmers look at works by Sigfried Giedion and Robert Jay Lifton in the ›Literature Revisited‹ section. There is much still to be learned from Giedion’s book Mechanization Takes Command (1948) in particular, in form and content alike. While Giedion could not have anticipated the digital age, his genealogy of mechanisation and automation hones our critical awareness of the present as well.

Jan-Holger Kirsch for the editorial team
(Translated from the German by Joy Titheridge)


Notes:

1 Jürgen Kocka, Motor der Beschleunigung, in: Tagesspiegel, 17 May 2020, p. 5.

2 ›Verwundbarkeit macht solidarisch‹, in: Tagesspiegel, 21 April 2020, p. 19 (interview with Heinz Bude).