Menschliche Dinge und dingliche Menschen

Positionen und Perspektiven

Anmerkungen

Vertreter_innen der Akteur-Netzwerk-Theorie oder der Cyborg-Anthropologie kritisieren gegenwärtig die Privilegierung des Menschen als autonomem Akteur und handlungsmächtigem Gestalter seiner Umwelt.[1] Dadurch wird die Frage nach der Rolle und Bedeutung von Dingen für gesellschaftliche Dynamiken neu aufgeworfen. Galten sie bisher meist als passive Objekte menschlicher Agency, erscheinen sie nun zunehmend als Koproduzenten von Handlungsmacht. In diesem Sinn spricht Bruno Latour von menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten.

Besonders anschaulich lässt sich die genannte Frage anhand von Phänomenen diskutieren, die sich unmittelbar auf der Grenze zwischen Menschlichem und Dinglichem bewegen. Dazu gehören Mumien, Plastinate (Stichwort »Körperwelten«) und anthropomorphe Roboter ebenso wie transplantierbare Organe, eingefrorenes Sperma und eingefrorene Eizellen sowie Prothesen, die Körperteile ersetzen. Diese dinglichen Menschen und menschlichen Dinge führen das Problem, ob, wie und wo eine Grenze zwischen den beiden Polen gezogen werden kann, sehr deutlich vor Augen.[2] In geschichtswissenschaftlicher Perspektive lässt sich zudem fragen, wie historisch diese Grenze beziehungsweise ihre Auflösung ist. So verfügen einige an der Schnittstelle von Menschlichem und Dinglichem liegende Phänomene schon über eine längere Geschichte (zum Beispiel die Prothesen), andere dagegen sind erst in der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte entstanden (zum Beispiel Industrieroboter), und wieder andere sind Zukunftspläne (zum Beispiel empathische Pflegeroboter). Welches Potential birgt das Nachdenken über die Differenz oder das Zusammenspiel zwischen Menschlichem und Dinglichem für historische Fragestellungen? Wie lassen sich menschliche Dinge und dingliche Menschen historisieren?

Eiserne Lunge, 1952–1964, Hersteller: Drägerwerk Lübeck.
Die Eiserne Lunge kam bis Anfang der 1960er-Jahre in der Behandlung der Kinderlähmung vielfach zum Einsatz. Der Metallzylinder schließt den Körper des Patienten, mit Ausnahme des Kopfes und Halses, luftdicht ein. Rhythmisch wechselnd werden in der Kammer ein Über- und Unterdruck erzeugt, die Lungen somit passiv komprimiert und gedehnt, womit eine fortgesetzte Beatmung gewährleistet wird.
(Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Inv.-Nr. 2006/67; Foto: Thomas Bruns, Berlin)

Der Umgang mit diesen Themen hat weitreichende Konsequenzen für eine Disziplin, die Marc Bloch als »die Wissenschaft vom Menschen in der Zeit« profilierte. Die Unterminierung dieser Definition wird mitunter skeptisch betrachtet – sicher nicht immer zu Unrecht. Allerdings räumten bereits die Herausgeber der »Annales« mit der Rubrik »Mots et choses« den Dingen neben den Wörtern einen Platz in ihrer Zeitschrift ein.[3] Mit diesem klar umgrenzten Raum scheinen sich die Dinge gegenwärtig jedoch nicht mehr zu begnügen. Sie verlangen stattdessen eine intensivere Auseinandersetzung mit ihrem Verhältnis zu den Menschen und zur Geschichte. Dieses Verhältnis haben wir mit einer Historikerin, einem Medizinhistoriker und einer Soziologin diskutiert:

Annelie Ramsbrock (ZZF Potsdam) hat die Geschichte künstlicher Schönheit in der Moderne – von der Kosmetik bis zur plastischen Chirurgie – und die damit verbundenen Debatten als Spiegel gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen erforscht;

Thomas Schnalke (Charité Berlin/Medizinhistorisches Museum) erkundet mit Ausstellungen die Welt der menschlichen Dinge; seine Bitte um Verzeihung für den Umgang mit den Schädeln von Opfern des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika hat vor einigen Jahren für Furore gesorgt;

Paula-Irene Villa (Ludwig-Maximilians-Universität München) konzentriert ihre Forschungen auf das Zusammenspiel von Geschlecht, Körper und Gesellschaft; die Vielgestaltigkeit theoretischer Zugänge zu »Sexy Bodies« fächert sie in ihrem gleichnamigen soziologischen Bestseller auf, der zuerst im Jahr 2000 erschien und inzwischen in vierter Auflage vorliegt.

(Konzept und Fragen:
Simone Derix/Benno Gammerl/Christiane Reinecke/Nina Verheyen)

Zunächst eine konzeptionelle Frage: Anthropozentrische Positionen unterscheiden kategorial zwischen Menschen und Dingen und fassen das Verhältnis zwischen Menschen und Dingen hierarchisch, indem sie ausschließlich ersteren Handlungsmacht zugestehen, letztere dagegen als passive Materialien und Werkzeuge betrachten. Diese Sichtweise wurde in der letzten Zeit aus verschiedenen Richtungen kritisiert. Wie würden Sie die Differenz und Relation zwischen Menschen und Dingen oder zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Dingen konzeptualisieren?

Paula-Irene Villa: Ich will diese Grenzziehung selber nicht klären oder konzeptualisieren, sondern vielmehr rekonstruieren, wie sie vollzogen wird – und immer auch hinterfragt, unterlaufen, reformuliert. Außerdem will ich mich zunächst als einerseits konventionelle Soziologin outen, andererseits aber auch meine eher unkonventionelle Position in der Soziologie betonen. Als konventionell sehe ich mich, insofern ich lange dem Mainstream der Soziologie »gefolgt« bin, die eine hegemoniale Tradition der selbstverständlichen Hierarchisierung und Ontologisierung aufweist: Menschen seien Menschen, Dinge eben Dinge – und nur Menschen seien des soziologischen Blickes würdig. Die Soziologie ist in ihren Begriffen und Methoden erstaunlich nah am jeweiligen »Common Sense«, wie sich im Nachhinein bzw. in der distanzierteren Reflexion erweist. Es zeigt sich aber auch regelmäßig, wie sehr die Soziologie in der Lage ist, ihren eigenen Essentialismus zu hinterfragen und produktiv zu dekonstruieren. Dies lässt sich derzeit zum Beispiel in Bezug auf Konzepte wie Familie oder Handlungen und Praxis sehen. Oder eben auch in der – noch zögerlichen – Diskussion um »Akteur-Netzwerk-Theorie« (ANT), den »New Materialism« und dergleichen. Solche kritischen Dekonstruktionen werden in der Soziologie oft durch multi- oder interdisziplinäre Herausforderungen in Gang gesetzt, insbesondere durch die Rezeption von Debatten aus den (im weiteren Sinne) Kultur- und Geschichtswissenschaften. Hierzu trage ich auch selbst bei, da ich durch mein langjähriges Interesse an der somatischen Dimension des Sozialen bzw. an Prozessen der Verschränkung von Leib, Materialität, Wissen und Normativität – etwa im Kontext von Gender – immer in multidisziplinären Konstellationen geforscht und diskutiert habe. Vor allem in den international geprägten feministischen Theoriekontexten sowie in den »Critical Science Studies« gibt es eine lange Tradition der Skepsis gegenüber jeglicher Ontologie oder jeglichem Apriori-Essentialismus; es gibt eine starke Rhetorik des Plurals und der Reflexion von Ausschlüssen durch Singularisierungen (à la »die Frau«, »der Körper«, »der Mensch« usw.). Das forschende Selbstverständnis im Kontext der Gender Studies ist also stark der kritischen De-Ontologisierung und De-Naturalisierung verpflichtet. So würde ich zum Beispiel auch nicht mehr vom »Körper« im Singular sprechen, jedenfalls nicht affirmativ. Vor diesem zweifachen Hintergrund interessieren mich derzeit vor allem die sozialen Prozesse und Dynamiken der Grenzziehung und Hierarchisierung zwischen Menschlichem und Dinghaftem.

Thomas Schnalke: Ich sehe keinen kategorialen Unterschied zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Dingen. Die Objekte meiner Arbeit am Medizinhistorischen Museum bilden Gegenstände, in welche Menschliches immer bis zu einem gewissen Grad eingewoben oder eingeschrieben ist. Damit werden freilich nicht die Dinge zum Menschen – sie haben eben keine eigene Stimme, Seele oder auch nur eine irgendwie geartete autonome Agency. Vielmehr ist in diesen Gegenständen der Mensch in gewisser Weise zum Ding geworden, hat dort mehr oder weniger nachhaltig seine Spuren hinterlassen, die es nach allen Regeln der historischen Wissenschaften methodisch-kritisch aufzuspüren und auszudeuten gilt. An diesem Punkt allerdings beginnt die Herausforderung: Ein medizinisches Stück, in welches diverse Akteur_innen in ihrer physisch-psychischen, emotionalen und intellektuellen Gefasstheit, in ihren konkreten Praktiken, Ideen und Theorien, mit all ihren fachlichen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen eingelassen sind, als historische Quelle ernstzunehmen, ist kein triviales Unterfangen. Primär geht es nach wie vor darum, an und in den Dingen als geformter Materie die beteiligten Akteur_innen überhaupt erst »dingfest« zu machen und ihre qualitativen Anteile festzustellen, um daraus über Verflechtungen und Beziehungen die ausmäandernden Kontexte zu rekonstruieren. Hierzu bedarf es viel stärker noch der Entwicklung und vor allem auch der Erprobung spezifischer Methoden historisch angelegter Dinganalysen.

Knapps Ophthalmotrop, nach 1861. An diesem Lehrmodell, entwickelt durch den in Heidelberg und New York wirkenden Professor für Augenheilkunde Hermann Knapp (1832–1911), können der Verlauf der zwölf menschlichen Augenmuskeln und deren Einfluss auf die Stellung des Augapfels studiert werden. Eine Skala auf der Rückseite (nicht im Bild) zeigt die jeweilige Muskellänge in Millimetern an.
(Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Inv.-Nr. 2002/57;
Foto: Christoph Weber, Berlin)

Annelie Ramsbrock: Im Feld der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, in dem sich meine Forschungen vor allem verorten lassen, wird das Dingliche längst nicht mehr nur als das Materielle begriffen. Vielmehr sind im Anschluss an Bruno Latour auch die Tatsachen und Gegenstände, mit denen sich Wissenschaftler_innen befassen und die sie als »neu« bezeichnen oder von denen sie behaupten, dass sie sie »gefunden« oder »erfunden« hätten, an Dinge gebunden und eingebunden in Mensch-Ding-Netzwerke. In diesem Sinne ist etwa nicht nur die Prothese aus Holz, das Skalpell aus Stahl oder der Herzschrittmacher aus Plutonium als dinglich anzusehen, sondern ebenso die Schizophrenie als ein Krankheitsbild, der Phantomschmerz als ein neurologisches Konzept oder der Narkoseschlaf als eine biochemische Entdeckung. Begreift man aber Erkenntnisse als dinglich und das Dingliche (auch) als eine Wissensordnung, lässt sich eine Grenzziehung zwischen Menschen und Dingen oder zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Dingen kaum mehr vornehmen, weil menschliche Zustände, sofern sie zu einer wissenschaftlichen Tatsache erhoben worden sind, gleichermaßen als menschlich und dinglich zu begreifen sind. Fragt man also nach der historischen Dimension des Wissens und seinen Repräsentationsformen, seinen grundlegenden Kategorien und Medien, seinen Praktiken und kulturellen oder sozialen Texturen, lässt sich eine solche Grenzziehung kaum überzeugend vertreten. Bei der Frage nach der Handlungsmacht sieht es ähnlich aus: Der Mensch hat die Macht, Wissen zu generieren und Dinge zu erfinden; diese Dinge können aber möglicherweise ein Eigenleben oder einen Eigensinn entwickeln oder haben, dem der Mensch dann (mehr oder weniger) machtlos gegenübersteht.

Inwiefern spielen Grenzziehungen, Hierarchisierungen und Verknüpfungen zwischen Menschlichem und Dinglichem in Ihrer eigenen Forschung eine Rolle?

Paula-Irene Villa: Wie gesagt, interessiert mich vor allem, wie diese Grenzen gezogen, hinterfragt, unterlaufen und reformuliert werden. In unserem abgeschlossenen DFG-Forschungsprojekt zur Schönheitschirurgie zum Beispiel haben wir (mit den Mitarbeiter_innen Steffen Loick Molina, Anna-Katharina Meßmer und Julia Wustmann) herausgefunden, dass die visuelle und semantische Plausibilisierung der Chirurgie auf den Websites der Anbietenden den Körper via Fragmentierung und »Skulpturalisierung« verdinglicht – ihn also zum Objekt, genauer zum bearbeitbaren Rohstoff macht. »Dein Körper gehört Dir« ist die Botschaft, inklusive der Aufforderung, diesen strategisch zu bearbeiten. In einem nun beginnenden Projekt, gefördert durch die VW-Stiftung, wollen wir uns anschauen, wie das »digitale Selbst« durch Praxen der technologischen Subjektivierung performativ agiert. Am Beispiel von Fitness- und Ernährungs-Apps und dem entsprechenden »Lifelogging« wollen wir genauer verstehen, wie Dinge (Hardware), Wissen/Algorithmen (Software) und Affekte sich wechselseitig »hervorbringen«.

Thomas Schnalke: Im Medizinhistorischen Museum stehen für mich Objekte, in welchen Menschliches mit unterschiedlichen Gradierungen eingeschrieben ist, im Fokus der täglichen Arbeit. Mit ihnen beschäftige ich mich in Lehre und Forschung, besonders aber auch mit Blick auf ihren öffentlichen »Auftritt« im Rahmen von Ausstellungen. Das Spektrum reicht von anatomischen und pathologischen Feucht- und Trockenpräparaten über Lehrmodelle vorrangig aus Wachs (sogenannte Moulagen) bis hin zu Apparaturen und Instrumenten, wie sie früher in Forschungskontexten oder praxisrelevanten diagnostischen oder therapeutischen Zusammenhängen zum Einsatz kamen. Wesentlich erscheint mir hierbei eine stete Überprüfung und gegebenenfalls Nachjustierung des Status der Dinge. Dieser leitet sich nicht nur aus dem Anteil des aktiv in das Objekt eingearbeiteten oder auch nur mehr oder weniger beiläufig vorfindbaren menschlichen Gewebes in den Gegenständen ab, sondern ergibt sich auch aus spezifischen Schnittstellen zwischen organischen Strukturen und technischen Armierungen sowie aus teilweise hoch intrikaten Kontaktzonen zwischen menschlichem Original und medialem Ab-Bild.

Augenmoulage, nach 1900, Hersteller (Mouleur): Fritz Kolbow, Berlin. Diese Wachsmoulage wurde zu Beginn des 20. Jahrhundert als Lehr- und Studienmittel an der Charité-Augenklinik nach klassischer Technik gefertigt: Der Mouleur nahm zunächst von der darzustellenden Gesichtspartie des Patienten ein Gipsnegativ ab, goss dieses mit flüssigem Wachs aus, entnahm die erkaltete Wachsschale und bereitete sodann die Rohmoulage unter Sicht des Patienten durch Retuschieren, Bemalen und Einfügen von Fremdmaterialien, wie etwa Kunstaugen oder Haaren, realistisch auf.
(Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Inv.-Nr. 2007/M6;
Foto: Christoph Weber, Berlin)

Neben diesen nachvollziehbar menschennäher angelegten Dingen lassen sich letztlich in jeder medizinischen Gerätschaft – Aderlassmesser, Augenspiegel, DNA-Sequenzer – Einschreibungen von teilweise sehr verschiedenen Akteur_innen in einer weit über das rein Fachliche hinausgreifenden Beziehungshaftigkeit aufspüren. Damit werden diese mit Menschlichem so unterschiedlich tingierten medizinischen Dinge zu eminenten historischen Quellen nicht nur mit hohem Diskurs- und Erkenntnispotential, sondern auch mit einer besonderen ethischen Verhandlungsdimension. Unter dem Fokus auf Gesundheit und Krankheit verdinglichen sich hierin letztlich auch zeitgebundene Auffassungen, Haltungen, Hoffnungen, Erwartungen und Bewertungen, die aus Sicht der Medizin jedes Forschen, Lehren und Handeln am, im und mit dem Menschen zu einem eigens zu verantwortenden Tun machen – angefangen von jedem einfachen diagnostischen Test und jeder therapeutischen Routinemaßnahme bis hin zu existentiellen Entscheidungen am Lebensanfang und Lebensende.

Lassen Sie uns zu den historischen Dimensionen des Themas kommen: Die konzeptionellen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Menschlichem und Dinglichem stehen in engem Zusammenhang mit der Annahme, dass dieses Verhältnis nicht stabil ist, sondern sich permanent ändert. Ist das Verhältnis zwischen Menschlichem und Dinglichem Ihrer Meinung nach tatsächlich historisch variabel, und wenn ja: Wie hat es sich im Lauf der Zeit gewandelt, welche Entwicklungen lassen sich ausmachen?

Paula-Irene Villa: Als Soziologin bin ich bei Fragen zur Geschichte logischerweise zurückhaltend. Grundsätzlich gehe ich unbedingt davon aus, dass das Verhältnis zwischen Dinglichem und Menschlichem historisch variabel ist. Dies vor allem deshalb, weil die (immer umkämpfte) Grenzziehung zwischen beidem zwingend ein Effekt sozialer Praxen im weitesten Sinne ist. Das fußt nicht zuletzt darauf, dass die Bedeutung dessen, was »menschlich« und was »dinglich« meint, historisch variabel ist: Im Laufe der Moderne hat sich etwa der Begriff des Menschen ausgeweitet, indem auch Frauen oder Kinder als vollwertige Menschen rechtlich, kulturell und ökonomisch anerkannt worden sind. Diese Ausweitung hält bis heute an, sie lässt aber eben auch immer wieder die Frage virulent werden, was und wer »menschlich« ist. Daneben spielen konkrete technologische Entwicklungen eine wichtige Rolle bei der »Prekarisierung« des Menschlichen, wie sich im Feld der Medizin besonders gut sehen lässt: Ist eine für hirntot erklärte schwangere Frau, die technisch unterstützt ihr Kind austragen kann, ein Mensch? Sind umgekehrt nicht alle Menschen auch »durchsetzt« von Dingen, zum Beispiel Kleidung, Brillen, Zahnfüllungen, Schmuck, Medikamenten usw.?

Annelie Ramsbrock: Das Verhältnis zwischen Menschlichem und Dinglichem ist vor allem dann historisch variabel, wenn man die Frage nach »menschlich« oder »dinglich« in »natürlich« oder »künstlich« übersetzt und am Körper des Menschen ausbuchstabiert.[4] Besonders anschaulich lässt sich dies im Bereich des Körperersatzes zeigen, zum Beispiel bei der Entwicklung der Prothetik. Prothesen dienten immer dazu, den Körper zu ergänzen und zu vervollständigen, also das Abwesende zu ersetzen. Doch veränderte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts die Vorstellung dessen, was eigentlich genau (an genuin Menschlichem) abwesend war und was dementsprechend dinglich ersetzt werden sollte. Dienten Prothesen – meist einfache Holzstümpfe – noch um die Wende zum 20. Jahrhundert lediglich dazu, einfachste Bewegungen zu ermöglichen und den Raum zu besetzen, den zuvor das organische Bein oder der organische Arm eingenommen hatten, stand bei der Konstruktion multifunktionaler Metallprothesen seit dem frühen 20. Jahrhundert die Fähigkeit zur Industriearbeit im Vordergrund. Entsprechende Prothesen wurden nun aus Stahlrohren konstruiert, an deren Ende sich eine Hülse befand, in die verschiedene Werkzeuge geschraubt werden konnten. Dass diese Prothese auch als »Universalarbeitsarm« bezeichnet wurde, veranschaulicht das hier entstandene Verhältnis zwischen Menschlichem und Dinglichem wohl besonders gut.

Thomas Schnalke: Überblickt man das Spektrum medizinhistorischer Objekte in einschlägigen größeren Sammlungen, so gewinnt man durchaus den Eindruck, dass das Verhältnis von Menschlichem und Dinglichem in den Dingen ebenso wie in unseren Wahrnehmungen und Interpretationen der Dinge einem steten Wandel unterworfen ist. Dieser Wandel bezieht seine Impulse und Ausrichtung seitens der Medizin insbesondere aus den jeweils entwickelten und durchgesetzten Körperbildern, etwa jenen der Humoralpathologie (»Vier-Säfte-Lehre« seit der Antike), der Zellularpathologie oder der Genomik. Wesentliche neuere Entwicklungen lassen sich hierbei vor allem auf dem Gebiet einer weitgefassten Prothetik ausmachen, zum Beispiel hinsichtlich eines kontinuierlichen Vorrückens der Technik unter die Haut (Schrittmacher), eines immer weiter greifenden Organersatzes (Klone aus Bioreaktoren) oder einer technischen Eroberung der Sinne (Hör-, Seh- und Denk[?]-Prothesen). Insgesamt erscheint dabei das Menschliche auf dem Rückzug. Es wird anonymisiert, in die Nanosphären des Genoms verkleinert, verabschiedet sich in die Virtualität etwa der modernen medizinischen Bildgebung und wird zur Spielmasse einer breit in der Gesellschaft an Akzeptanz gewinnenden Bereitschaft, den Körper gestalterisch-manipulierend um- und neu zu formen und damit vermeintlich zu »verbessern« (enhancement). Hier stellt sich eine paradoxe Frage: Wird der Mensch letztlich ewig leben und zugleich verschwinden?

An diesem Punkt ist auch die Frage der Periodisierung wichtig. Welche Zäsuren hätte eine Geschichte der menschlichen Dinge und dinglichen Menschen zu beachten?

Thomas Schnalke: Wesentlichen Einfluss auf das Verhältnis von Dinglichem und Menschlichem nahmen in der Medizin jeweils neuere Vorstellungen und daraus abgeleitete konkrete Verortungen von Körperformen, -funktionen und -dysfunktionen sowie die daraus resultierenden, oftmals zeitversetzt realisierten technischen Zugriffe auf den Körper. Dazu können hier nur wenige Stichworte genannt werden: die bereits früh in der Antike entwickelte Vorstellung des lebenden Organismus als eines natürlichen solid-fluiden psycho-physischen Gleichgewichts; das Mitte des 16. Jahrhunderts nachhaltig wiederbelebte anatomische Interesse an den fassbaren Strukturen des menschlichen Körpers und den damit verbundenen Funktionen der Organe; die Erkenntnis eines dynamischen Kreislaufs des Blutes durch William Harvey (1628) und die daraus abgeleiteten – durch die von René Descartes vorgeschlagene gedankliche Trennung von Körperlichem und Geistigem entscheidend beförderten – Körpermaschinenmodelle des 17. und 18. Jahrhunderts; die Entwicklung eines auf Zellen basierenden Körperverständnisses und durch elektrische Phänomene vermittelten Sensoriums Mitte des 19. Jahrhunderts; die bakteriologischen, serologischen und immunologischen Körperinterpretationsansätze um 1900; die zeitgleich stattfindende Entwicklung aktiv und willentlich steuerbarer Prothesen; der Aufschwung der plastischen Chirurgie im Zuge des Ersten Weltkriegs; die rassebiologischen Volkskörperkonzepte der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus; die Beschreibung der DNA-Doppelhelix als zentraler Stützstruktur des Genoms 1953; die Ausdifferenzierung des medizinischen Labors sowie die Einführung von Mikroprozessoren und Computern in die Medizintechnik nach dem Zweiten Weltkrieg.

Annelie Ramsbrock: Die Verbindung von Mechanik und Prothetik stellt sicher eine Zäsur in der Restituierung von Körperteilen dar. Eine weitere ist der seit dem frühen 21. Jahrhundert zu beobachtende Einzug der Bionik in die Prothetik. Wie in der Bionik überhaupt geht es auch in der biomechanisch oder bioelektronisch inspirierten Prothetik darum, Phänomene der Natur (in diesem Fall der menschlichen Natur) auf die Technik zu übertragen. Dass die Prothese das Erleben von Empfindungen ermöglichen soll, hebt das Technische hier auf die Ebene der Emotionen. Elektroden, an bestimmten Nerven im Arm eingesetzt, eine Software, die die elektrischen Signale der Drucksensoren in Impulse übersetzt, und ein Rückkanal, der diese Impulse ans Hirn sendet, lassen Ding und Mensch auf besondere Weise verschmelzen. Bei einem anderen Prothesentyp, dem sogenannten neural-kontrollierten bionischen Bein, werden biologische und technische Eigenschaften insofern vereint, als die Prothese durch die Gedanken eines Menschen gesteuert wird. Restituiert wird hier also die Verbindung zwischen Hirn und Bewegungsapparat. Wenn der Träger einer solchen Prothese daran denkt, eine Treppe hinaufzusteigen, werden entsprechende Signale an das künstliche Bein gesendet, und dieses wird in Bewegung gesetzt.

Lässt sich für die Thematisierung und Problematisierung des Mensch-Ding-Verhältnisses eine eigene Periodisierung ausmachen? Ist die Schwierigkeit, zwischen Menschlichem und Dinglichem überhaupt unterscheiden zu können, ein historisch eher junges Phänomen?

Annelie Ramsbrock: In jedem Fall lässt sich konstatieren, dass diese Unterscheidung zunehmend schwieriger wird. Denn restituiert wird schon längst nicht mehr nur die Materialität des Körpers, also das Bein oder der Arm, sondern zudem werden auch bestimmte Eigenschaften dieser Körperteile wiederhergestellt, seien es die Fähigkeiten der Bewegung oder der Empfindung.

Thomas Schnalke: Die Frage nach dem Verhältnis und dem Unterschied von Menschlichem und Dinglichem bewegt die Menschen in kultisch-religiösen Zusammenhängen schon sehr lange; in säkularen, wissenschaftlich hochgerüsteten Zeiten stellt sie sich jedoch unvermittelt neu. Dabei wird das Distinktionsvermögen vor dem Hintergrund des vielfach beschworenen Material Turn gerade infolge einer um sich greifenden mythisch aufgeladenen Verlebendigung des Dinglichen, der Konzeption von Dingen als etwas partiell Menschlichem, gestört. Die »Sprache der Objekte« hat es inzwischen sogar bis in den Titel eines breitangelegten Förderprogramms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung geschafft.[5] Allein, Dinge sprechen nie aus sich, wenngleich sie wohl viel zu sagen hätten. Hier müsste dringend eine Ernüchterung einsetzen ob der allseits vermenschlichten Dinge – nicht um sie entzaubert wieder in Staub und Schmutz der Asservatenkammern versinken zu lassen, sondern um sie als das ernstzunehmen, was sie sind: Dinge, die als historische Quellen dienen können, die im besten Falle zu hochkomplexen epistemischen Objekten avancieren.

Die besondere Aufmerksamkeit, die das Verhältnis zwischen Menschlichem und Dinglichem heutzutage erfährt, ist erklärungsbedürftig. Warum wird es gerade jetzt Gegenstand einer immer ausführlicheren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatte?

Paula-Irene Villa: Ich meine, dass die Unterscheidung zwischen Menschlichem und Dinglichem heute aufgrund verschiedener Dynamiken bewusst thematisiert wird: technologische und mediale Innovationen, Reflexivierungen als De-Ontologisierungen ausgehend von verschiedenen sozialen Bewegungen (feministische, LGBT,[6] »Behinderte« usw.), transkulturelle Herausforderungen, steigende Ungleichheiten im globalen Kontext. Wir sehen auch im Alltag, dass Menschen ihren »Biorohstoff« wie Dinge verkaufen oder vermieten, zum Beispiel Organe, Eizellen oder die Schwangerschaft. Wir nehmen wahr, dass Eizellen oder Sperma produziert, verwahrt, verkauft, geprüft, genutzt, weggeworfen werden. Das sorgt für weitreichende ethische Diskussionen, in deren Zentrum immer die Frage steht: »Was soll ich tun?« Und aus soziologischer Perspektive lässt sich weiter fragen: »Wer ist das Subjekt dieser Frage bzw. das Subjekt des Problems?«

Thomas Schnalke: Der Mensch ist gegenwärtig, positiv gesprochen, auf der Suche nach neuen Verbündeten. Negativer: Er will seine Verantwortungen verlagern. Durch die Aufwertung der Dinge zu Akteuren sui generis lassen sich historische Kontexte sowie aktuelle Aktionsfelder auf mehrere »Köpfe« verteilt und in größerer Breite (re)konstruieren. Außerdem können sich denkende und handelnde Individuen, in meinem Fall etwa Forscher_innen und Ärzt_innen, mit ihren Konzepten und Konkretisierungen als relevante Subjekte gewissermaßen in materiell-geformte Dinge hinein versachlichen, somit Verantwortung auslagern und sich letztlich persönlich von den Folgen ihres Tuns entlasten.

Lassen Sie uns nun konkret die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts in den Blick nehmen und stärker empirisch werden: Wie produktiv kann die Debatte über menschliche Dinge und dingliche Menschen für zukünftige Forschungen im Bereich der Zeitgeschichte sein?

Thomas Schnalke: Aus Sicht einer materialen, objektfokussierenden Medizingeschichte lenkt die aktuelle Debatte über menschliche Dinge und dingliche Menschen den Blick produktiv auf das Menschliche zurück. Hierin scheint ein Rückweg aus der Aporie auf, in die die Fragmentierung, Minimalisierung, Gen-Zentrierung, Digitalisierung und das damit verknüpfte Verschwinden des Menschlichen aus den Blickfeldern der (wissenschaftlichen) Betrachtung geführt haben. Letztlich geht es im allfällig anzutreffenden Ringen um die Dinge nicht um eine gänzliche Neuankunft bei den Dingen etwa im Sinne eines »Anthropofizierens« der geformten Materie, sondern um einen neuen Zugang zum Menschlichen. Offenkundig ziehen zwar hybrid anmutende Gebilde wie Ganzkörperprothesen oder Pflegeroboter als anthropomorphe Integrale, die (auch) als dreidimensionale Emoticons räumliche Emotizones bevölkern, die Aufmerksamkeit auf sich. In ihren algorithmischen Festsetzungen liefern diese Geräte jedoch nur die aktuellen Voraussetzungen, unter welchen sich zunächst gefährdetes, gebrochenes oder vom Alter gezeichnetes Leben, sukzessive aber auch das »ganz normale Leben« neu justieren und gestalten kann.

Paula-Irene Villa: Auch hier kann ich nicht für die Geschichtswissenschaft antworten. Für die Soziologie ist diese neue Verunsicherung – was ist menschlich? was dinglich? – sehr produktiv; sie führt mindestens zu selbstreflexiven Überprüfungen des bisherigen Vokabulars, der Theorien und Methoden. Darüber hinaus kann diese Verunsicherung auch den disziplinären Blick dafür schärfen, wie hybrid und uneindeutig empirische Konstellationen faktisch schon lange sind. Die kosmetische Chirurgie ist hierfür ein gutes Beispiel, ebenso aber auch Prothesen, Acryl-Nägel oder Haar-Extensions. Zugleich sehe ich eine gewisse programmatische Enthusiasmierung für die neuen »Materialismen«, die konzeptuell und theoretisch so pauschal wie empirisch wenig plausibel ist. Das heißt, in manchen Konstellationen trübt die Begeisterung für diese neuen Perspektiven den Blick dafür, dass auch andere – tradierte – Perspektiven durchaus schon Grenzziehungen im Allgemeinen und diejenige zwischen Menschen und Dingen im Besonderen problematisiert haben. Die kybernetische Dimension in der Systemtheorie ist ein Beispiel, die Kritische Theorie und ihre Warnung vor der begrifflichen Singularisierung ein weiteres.

Annelie Ramsbrock: Fragen nach dem Cyborg, wie Donna Haraway sie bereits Mitte der 1980er-Jahre aufwarf, können sicher produktiv für die Debatte über menschliche Dinge und dingliche Menschen sein, zumal seit dieser Zeit die möglichen Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine deutlich andere geworden sind und immer mehr biologische Entitäten des Körpers technisch ersetzt oder nachgebildet werden können. Die Debatte über menschliche Dinge und dingliche Menschen kann aber auch auf einer ganz anderen Ebene in der Zeitgeschichte reflektiert werden, nämlich bezogen auf den Zusammenhang von äußerer Erscheinung (Stichwort: Attraktivität) und beruflichem Erfolg (Stichwort: Karriere). Gewiss: Fragen nach Zugehörigkeit werden nicht erst seit dem 21. Jahrhundert über den Körper verhandelt. Normative Vorstellungen von Geschlecht, Hautfarbe und Anatomie haben (der jeweils erwünschten Norm nicht entsprechende) Menschen seit jeher von der Teilhabe an bestimmten gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen. Heute aber, so scheint es, beeinflusst die Inszenierung des Körpers mehr denn je den gesellschaftlichen Status und den sozialen Erfolg einer Person – das jedenfalls glaubt die sogenannte Attraktivitätsforschung empirisch belegt zu haben. Auf den Arbeitsmarkt bezogen ist es längst zur Binsenweisheit geworden, dass nicht allein die fachliche Qualifikation und die berufliche Erfahrung über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Vielmehr gilt: Wer einen attraktiven Job haben möchte, muss selbst attraktiv sein. Obwohl offenbar keine empirisch belastbaren Zweifel mehr an der Statusrelevanz von körperlicher Attraktivität bestehen, oder anders formuliert: am körperlichen Ausdruck sozialer Ungleichheit, fehlt es noch immer, wie Cornelia Koppetsch zutreffend bemerkt hat, an soziologischen Untersuchungen und Theorien, die plausibel machen können, warum das so ist.[7] Es mangelt aber auch, so lässt sich ergänzen, an historischen Arbeiten, die konkrete Situationen und Konstellationen im 20. Jahrhundert aufzeigen, in denen soziale Teilhabe und sozialer Ausschluss von normativen Schönheitskonzepten geprägt waren – sieht man von der Beschäftigung mit extremen Formen körperlicher Abweichung, wie sie Körperbehinderte oder Kriegsverwundete oftmals aufwiesen, einmal ab. Hier könnte eine zeithistorische Forschung ansetzen und nach der Bedeutung des Dinglichen für die Feststellung menschlicher Attraktivität fragen. Inwieweit und mit welchen sozialen Konsequenzen beeinflusst ein verdinglichter, also künstlich (vor allem chirurgisch) verschönerter Körper, wie er seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffentlich immer präsenter wurde, tatsächlich die Wahrnehmung von Schönheit? Welche Rolle spielt in Schönheitsdebatten dieser Zeit das Natürliche? Ist es mit dem Menschlichen überhaupt noch gleichzusetzen, und wenn ja, welche Assoziationen ruft es hervor? So oder ähnlich könnten mögliche Fragen lauten, die das Verhältnis von sozialer Differenzierung und dem im Namen der Schönheit verdinglichten Menschen ausloten.

Thomas Schnalke: Hier lässt sich auch die Entwicklung der plastischen Chirurgie einbeziehen. Sie bedient vor allem eine große Illusionsmaschine: Alle sind gleich. Alles ist machbar. Alles lässt sich aus der Zeit rücken. Auf ewig jung und schön. Die plastische Chirurgie, die Gesicht und Geschlecht nach Belieben wandelt, agiert hier im Verbund mit einer tief in den Körper vordringenden, multisubstitutiven und »intelligenten« Prothetik. Die Biologie des menschlichen Körpers wird damit zur Spielmasse, aus welcher wohl nicht die neue Freiheit und die Lösung zentraler sozialer Fragen erwächst, sondern allenfalls das Egalitäre auf Kosten des je individuell Eigenen um den Preis eines fragwürdigen Gesundheitszustandes zur verbindlichen Norm erhoben wird.

Sehen Sie weitere Fragestellungen und Potentiale, um etablierte zeithistorische Narrative neu zu perspektivieren?

Thomas Schnalke: Kurz vorweg: Wichtig scheint mir, nicht nur nach neuen Themen und Forschungsfeldern zu fragen, sondern auch erneut die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Methodik einzufordern, die den Dingen gerecht wird, die als Gegenstände einer historischen Analyse in den Dienst genommen werden können. Neben der Feststellung ihrer Funktion und der Klärung ihrer Bedeutung in ihrer ursprünglichen Einsatzzeit stellt sich besonders die Frage, welche Rolle ihre Latenz – die Anreicherung und Aufladung während ihres Aus-der-Zeit-Gestelltseins, ihres Schlummerns in Lagern und Depots – für den Zugewinn epistemischer Valenz bedeutet. Es scheint, dass Dinge, je fremder und entfremdeter sie der Welt werden, ein desto größeres Frage- und Analysepotential bis dahin generieren, dass sie vermeintlich zu ihren Exegeten sprechen und von diesen ein beseeltes Eigenleben zugesprochen bekommen, das sie dann anscheinend auch noch zu führen beginnen.

Eine verstärkte Debatte über das Verhältnis von Dinglichem zu Menschlichem eröffnet ferner womöglich nicht ganz neue, sondern nur anders gelagerte Fragen, die in ihrer Neuperspektivierung an Aktualität gewinnen können. So geht es in den oben genannten technisch hochgerüsteten Dingen (Robotern und Prothesen) immer auch um Zutrauen, Vertrauen, Interaktion, Macht und Verantwortung – mithin um individuelle und kollektive Haltungen, soziale und ökonomische Bedingungen und ethische Dimensionen, deren Nach- und Neuverhandlung auf eine fundamentale Reorganisation unserer Lebenswelten hinauslaufen dürfte. Konkreter: Jenseits aller Raumsoziologien dürfte die Auseinandersetzung mit Relationen von Dinglichem und Menschlichem den Blick für eine Rekonstruktion und Rekonzeptualisierung spezifischer Dingräume schärfen, in welchen die beteiligten Akteure vormals agierten, sich heute orientieren und künftig ihr Zusammenleben gestalten.

Möglicherweise lässt sich hier auch an das noch junge Feld der historischen Emotionsforschung anschließen. Wie haben Ihrer Meinung nach beispielsweise affektive Bindungen an Computer und Smartphones Formen des Fühlens und Selbstverhältnisse verändert?

Thomas Schnalke: Die Formen des Fühlens, die Definition von Selbst und Sein, aber auch die Gestaltung der daraus abgeleiteten (Selbst-)Verhältnisse und sozialen Klimata haben sich nach meiner Einschätzung durch den Gebrauch von PC und Smartphone an den sichtbaren Oberflächen, in gewisser Weise also formal, gewandelt. In ihren Grundkoordinaten und Elementarbedürfnissen sind sie jedoch durchaus konstant geblieben. Die modernen Kommunikationsmittel haben allesamt ihre Unschuld verloren. Inzwischen verhandeln wir im Lichte von Hackerangriffen, Shitstorms und Cyberwars die übliche Palette der Conditio humana.

Paula-Irene Villa: Ich würde statt von Emotionsforschung von »Affect Studies« sprechen, da »Emotion« ein recht naturwissenschaftlich-psychologisch geprägter Begriff ist. Die »Affect Studies« werden in der deutschsprachigen Soziologie noch kaum wahrgenommen, in den Kultur- und Geisteswissenschaften etwas mehr, wenngleich zögerlich. Ich habe dabei eine gewisse Skepsis in systematischer Hinsicht, weil ich auch hier sehe, dass einerseits Traditionen, die sich schon lange mit Leiblichkeit, Affekten, Gefühlen auseinandersetzen – Leibphänomenologie, die interdisziplinäre »Körperforschung«, die Subjektivierungs- oder Sozialisationsforschung, nicht zuletzt Autoren wie Georg Simmel oder Max Weber – despektierlich behandelt bzw. unterschätzt werden, was nicht nur nicht redlich, sondern auch ignorant und ein Verlust ist. Etwas skeptisch bin ich außerdem, weil ich den Eindruck habe, dass es auch in der Sozialtheorie und der sich selber als kritisch verstehenden Soziologie eine Sehnsucht nach »guten Gefühlen« gibt, die dann politisch/normativ wirken. Auffällig ist das etwa bei den vielfach naiv-romantischen Annahmen zu den »Commons« oder der »Empörung«.

Jenseits solcher Bedenken aber meine ich grundsätzlich, dass die Berücksichtigung von Affekten als Teil der Mensch-Ding-Praxis-Assemblagen unhintergehbar und ungemein spannend ist. Es ist ja trivial, dass wir Objekte affektiv aufladen: das geliebte (oder eben verhasste) Erbstück, das Identität stiftet; der Ring als Liebesbeweis; das Motorrad (Cabrio, Rennrad, Skateboard), mit dem wir uns jung fühlen können. Solche »Trivialitäten« inklusive ihrer affektiven Dimension sind mit ihrer Bedeutung und Komplexität in der (soziologischen) Forschung bislang wenig präsent – auch ihr Eigensinn ist noch kaum beachtet worden. Eine Ausnahme bilden interessanterweise zwei Objektkulturen bzw. materielle Formen: die Architektur/Stadt und die bildende Kunst.

Lassen Sie uns noch über die philosophischen und politischen Implikationen des Themas sprechen: Mit posthumanistischen Positionen, die sich von anthropozentrischen Annahmen distanzieren, ist eine Reihe ethischer Ansprüche und Probleme verbunden. Die Affekttheorie stellt beispielsweise angesichts der transsubjektiven Wirkmächtigkeit affektiver Kräfte die individuelle Autonomie und Verantwortung der Einzelnen für ihre Handlungen in Frage.[8] In ganz anderer Zuspitzung forderte Peter Sloterdijk angesichts reproduktionsmedizinischer und pränatal-diagnostischer Möglichkeiten schon 1999 einen Codex der Anthropotechniken.[9] Und die Akteur-Netzwerk-Theorie beklagt schließlich die mit der Privilegierung des Menschen verknüpfte theoretische und politische Marginalisierung der Dinge. Das betrifft Fragen nach den Grenzen menschlicher Agency ebenso wie die nach dem Handlungspotential und den Partizipationsansprüchen nicht-menschlicher Aktanten. Wie würden Sie sich und Ihre Arbeit in diesem Feld einordnen? Ist Ihnen an einer »Entthronung des Menschen« oder an einer weiterreichenden Schaffung eines »parlement des hommes, des mots et des choses« gelegen?

Paula-Irene Villa: Ich glaube, dass ethische Debatten grundsätzlich gut und nötig sind. Bis vor einigen Jahren hätte ich das bedingungslos gesagt und gemeint, dass letztlich jede Infragestellung bisheriger »Konsense« oder Traditionen in Reflexivierungsgewinne mündet. Im Moment bin ich aufgrund der irritierenden Dynamiken in den digitalen Medien ratlos in dieser Frage. Wir haben ohne Zweifel wichtige ethische Debatten zu führen, die sich aus »posthumanistischen« Praxen ergeben – die Nutzung von Drohnen zum Beispiel oder der Einsatz von Robotern, etwa in der Pflege; und es gibt sehr viele weitere Beispiele. Eine zusätzliche, sehr wichtige Dimension der ethischen Problematik hier und heute ist die Frage nach der individuellen Verantwortung, die von einer letztlich unmenschlichen Fetischisierung der personalen Autonomie ausgeht. Judith Butler hat dazu sehr luzide Überlegungen formuliert, im Anschluss unter anderem an Emmanuel Lévinas.[10] Das finde ich überzeugender als die Positionen des »Posthumanismus«. Auch Butler stellt die Frage nach dem »Ich« der Ethik, sie betont aber die zwischenmenschliche Verstrickung, den Anderen im Ich und das gegenseitige Ausgeliefertsein, die alle Menschen teilen. Butler stellt das Menschliche nicht von den Dingen her in Frage, sondern von den Lebensweisen her, die als nicht-menschlich verworfen werden – Freaks, »Monster«, Terroristen usw. Mich interessiert das sehr, weil es so unmittelbar relevant und politisch ist.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit ethisch irritierenden Praxen kann auch gesellschaftlich/normativ produktiv sein. Aber zugleich weiß ich nicht, wo und wie heute Öffentlichkeit stattfindet, die – in demokratischen, rechtsstaatlichen Kontexten – ethische Debatten führen muss. Das ist ein echtes Problem. Ist Facebook eine Öffentlichkeit? Sind es die Talkshows? Die Demos auf der Straße? Die Petitionen auf den digitalen Plattformen? Ich glaube, wir brauchen auch mehr Forschung und wissenschaftliche Interventionen hinsichtlich zeitgemäßer Formen und Arenen ethischer Debatten.

Thomas Schnalke: Letztlich deuten wir bekanntlich immer nur die Welt, wir erkennen sie nie. Daher bietet zwar jede Neujustierung von Menschlichem und Dinglichem auch jeweils nur eine neue – bald und zu Recht auch wieder bestrittene – Interpretation. Allerdings halte ich es im Lichte der aktuellen Dingbetontheit in der Theorienbildung gerade mit Blick auf das teilweise auch seitens der Neurowissenschaften schon seit längerem ausgerufene Ende des freien Willens für fatal, die Agency und damit die Verantwortung des Menschen zu begrenzen und den Dingen im Gegenzug ein autochthones Handlungspotential sowie, daraus abgeleitet, zudem sogar noch Partizipationsansprüche zuzuschreiben. Dinge sprechen nicht per se. Sie denken, handeln, fühlen und empfinden nie aus sich selbst heraus. Alles, was sie sind und vermögen, wird von Menschen in sie hineingelegt, in sie hineinprojiziert und von Menschen aus ihnen herausgelesen. Das ist viel und faszinierend; es bietet reichlich Stoff für historische, kulturelle, soziale, politische und philosophische Analysen. Mehr aber auch nicht. Dinge weitergehend in Richtung Menschen zu ermächtigen, und sei es auch nur partiell für bestimmte Leistungen und Fähigkeiten, hieße in der Konsequenz, Verantwortung des Menschen in die Dinge auszulagern. Dies mag in einer Zeit, in der sich Menschen unter anderem über Piercing, Botox, chirurgisches Gender Rendering, schicke Prothesen und Gehirndoping immer mehr aus sich selbst verabschieden, als konsequent erscheinen, leistet aber letztlich einer selbstgewählten Entmündigung Vorschub, mit welcher nicht nur das Soziale mit seinen Säulen Solidarität, Respekt und kritischer Verantwortung zur Disposition gestellt, sondern auch das Menschsein selbst beschädigt würde.

Daher ziele ich weder auf eine »Entthronung des Menschen« noch auf ein »parlement des hommes, des mots et des choses«. Im Gegenteil, die analytische Klärung von Menschlichem und Dinglichem sollte das Menschliche schärfen und den Menschen als alleinig verantwortlichen Akteur seiner Geschichte und Geschicke in Natur, Kultur und Gesellschaft bekräftigen, um die Dinge zugleich als höchst spannende Gegenstände über methodisch stärker auszuarbeitende Zugriffe der (historischen) Forschung zuzuführen. Es kann im Kern auch nicht um eine bloße Grenzziehung, -lockerung oder gar -auflösung zwischen Mensch und Ding gehen, da dies eine Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit voraussetzen würde. Menschen und Dinge unterscheiden sich jedoch qualitativ fundamental. Jede Sphäre, die menschliche wie die dingliche, hat ihr eigenes Profil, ihr Gewicht und ihre Berechtigung. Die schillernden Bezüge zwischen ihnen machen das Faszinosum einer integralen Beschäftigung aus – mit Menschen und Dingen in Raum und Zeit.

Annelie Ramsbrock: Mir ist ebenfalls weder an einer »Entthronung des Menschen« noch an einer Marginalisierung der Dinge gelegen; überhaupt halte ich eine Höherbewertung des einen gegenüber dem anderen in einer historischen Perspektive nicht für sinnvoll. Da Mensch und Ding beides sein können, sowohl Objekt als auch Subjekt, sind für ein angemessenes Verständnis der Vergangenheit vielmehr die Eigenschaften und Bedeutungen entscheidend, die Menschen oder Dingen in einer bestimmten historischen Situation zugesprochen werden können. Eine Schönheitsoperation um 1900 etwa bedurfte eines Arztes, der sie durchführte, sie bedurfte aber nicht weniger der Asepsis und der Anästhesie, entdeckt in den 1860er-Jahren, die Operationen dieser Art überhaupt erst denkbar gemacht hatten. Mit dem Beispiel ist schon angedeutet, dass Dinge oder Menschen nicht als Vertreter einer Kategorie begriffen werden sollten; zu groß erscheint dabei die Gefahr einer monadischen Vereinheitlichung der Welt, in der der einzelne Mensch oder das einzelne Objekt aus dem Blick geraten. So fruchtbar die Sozialtheorie der Netzwerke auch sein mag: Es sind nicht die Menschen und die Dinge, die Netzwerke bilden, sondern nur bestimmte Menschen mit bestimmten Dingen. Historisch betrachtet scheint mir deshalb die Frage interessant zu sein, welche Bedeutung oder welcher Wert manchen Dingen zugesprochen wird und welcher Wahrnehmung des Menschen sie dementsprechend unterliegen – umgekehrt aber auch, wie Dinge Wahrnehmungen und Handlungen von Menschen (ihnen bewusst oder unbewusst) steuern.

Einen Zugriff auf die Welt der Dinge, der mir besonders einleuchtet, hat der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme in seinem Buch »Fetischismus und Kultur« entwickelt, das eine »andere Theorie der Moderne« präsentiert.[11] Er stellt die auf materielle Objekte bezogenen Projektionen des Individuums in den Mittelpunkt seiner Theorie und argumentiert, dass Dinge ihren kulturellen Wert vor allem dadurch erhalten, dass die Besitzer_innen und Benutzer_innen in den Dingen mehr erkennen, als den Objekten im Sinne objektiver Eigenschaften zukommt. Diese oftmals irrationale Aufwertung mancher Dinge rückt sie ins Zentrum moderner Identität. Was bei dieser Denkfigur sicher außer Acht gerät, sind all die Dinge, die keine Aufmerksamkeit erhalten, zu denen es keine emotionale Beziehung gibt und deren Fehlen nicht einmal auffällt. Dennoch sind auch diese Dinge in der Welt, sogar viele von ihnen, doch müssen sie nicht zwangsläufig, wie Böhme zeigt, zum Gegenstand einer kulturtheoretischen Analyse gemacht werden; und vielleicht müssen sie auch nicht in den Blick der Historiker_innen geraten. Wenn diese sich zunächst einmal den Dingen widmen, die menschliches Verhalten in einer bestimmten geschichtlichen Situation (mit) erklären können, ist schon viel gewonnen.

Anmerkungen:

[1] Vgl. die Einleitung zu diesem Heft und u.a. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007, 3. Aufl. 2014; Donna Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991.

[2] Vgl. dazu das BMBF-Verbundforschungsprojekt »Anthropofakte. Schnittstelle Mensch« des Deutschen Hygiene-Museums Dresden und der Technischen Universität Berlin: <https://www.anthropofakte.de>.

[3] Nach Reinhart Koselleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte [1986], in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 2010, S. 9-31, hier S. 11, wurde die Rubrik 1930 eingerichtet. Dem Auftakt-Artikel von Lucien Febvre folgten indes nur wenige verstreute Beiträge.

[4] Dazu noch immer grundlegend: Barbara Orland (Hg.), Artifizielle Körper – Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive, Zürich 2005.

[5] Siehe die Liste der geförderten Projekte: <http://pt-dlr-gsk.de/de/983.php>.

[6] Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender.

[7] Vgl. Cornelia Koppetsch, Die Verkörperung des schönen Selbst. Zur Statusrelevanz von Attraktivität, in: dies. (Hg.), Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität, Konstanz 2000, S. 99-124, hier S. 105.

[8] Ruth Leys, The Turn to Affect: A Critique, in: Critical Inquiry 37 (2011), S. 434-472; Gerda Roelvink/Magdalena Zolkos, Affective Ontologies. Post-humanist Perspectives on the Self, Feeling and Intersubjectivity, in: Emotion, Space and Society 14 (2015), S. 47ff. (Einleitung zu einem Themenheft unter demselben Titel).

[9] Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1999.

[10] Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M. 2003.

[11] Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006.

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