Religion in der Bundesrepublik Deutschland

Eine Einleitung

Anmerkungen

„Gott ist tot – macht nichts“, titelte kürzlich die „ZEIT“ und präsentierte ihren Lesern unter dieser Überschrift „Hausbesuche bei vier Atheisten“.1 Vergegenwärtigt man sich die Aufmerksamkeitsregeln von Printmedien, die ja vor allem auf das Außergewöhnliche als das Berichtenswerte setzen, dann sind auch diese Skizzen ein Beleg für die neue Konjunktur, die die Religion in all ihren Facetten findet. Hat die bewusste Abwendung von einem transzendental begründeten Glauben, gar an eine personal gedachte Gottheit (schon wieder) Neuigkeitswert? Dass Glauben nicht Wissen sei, sich die Entstehung der Welt auch ohne göttliche Fügung erklären lasse, moralisches Verhalten sich nicht ausschließlich aus religiösen Überzeugungen ableite – taufrisch sind die in den Gesprächen thematisierten Überlegungen nicht.

Zumindest bezogen auf die beiden großen Konfessionen in Deutschland gilt: Zwischen dem Christentum und seiner säkularen Umwelt herrscht weitgehend Entspannung. Die erbitterten Glaubens- und Weltanschauungskämpfe zwischen Liberalismus und Katholischer Kirche, die die politische Kultur noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geprägt haben, sind ebenso vorüber wie die heftige Fehde zwischen einem (in Deutschland ohnehin nur schwach ausgeprägten) kämpferischen Atheismus und den etablierten Kirchen. Ein entspanntes Mit-, vielleicht auch nur ein beliebiges Nebeneinander der Positionen prägt die religiöse Lage der Gegenwart: Kirchgang sei eine Frage der Kultur, bekennt der mit einer gläubigen Christin verheiratete Gottesleugner, der auswärtige Besucher selbstredend in die Marktkirche seiner Heimatstadt führt, in der „ZEIT“. „Hoffentlich wird dieser Atheismus-Artikel beim jüngsten Gericht nicht gegen uns verwendet“, scherzt ein anderer der Befragten. „Ein Land, das solche Atheisten hat, braucht beinahe keine Kirche mehr“, schließt die Autorin. Damit dokumentiert der Artikel vor allem eines: Über die althergebrachten Fragen von Glauben oder Nicht-Glauben, über die Positionen der etablierten christlichen Religionsgemeinschaften und damit über das, was manchem Altvorderen als Frage nach dem Allerhöchsten galt, parliert man in deutschen Feuilletons ähnlich schmerz- und anstrengungsfrei, leicht und locker wie über andere Lifestyle-Themen.2

In einem eklatanten Gegensatz zu dieser Tendenz steht die Diskussion um die Integration von Muslimen in den – zumindest der Theorie nach – weltanschaulich neutralen Verfassungsstaat. Nachdem die Präsenz des Islams lange Zeit mehr oder weniger desinteressiert hingenommen oder einfach ignoriert wurde, ist er aus den heutigen Religionskontroversen nicht mehr wegzudenken. Faktisch ist der Islam mindestens seit den 1970er-Jahren ein Teil der alten Bundesrepublik. Die aufgeregte Integrationsdebatte der letzten Monate zeigt aber, wie wenig diese Realität wahrgenommen und akzeptiert wurde.

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Die Irritation, die diese Pluralität neuerdings auslöst, resultiert nicht zuletzt aus der Schwierigkeit, mentale Wahrnehmungsmuster, die von einer Jahrhunderte alten kulturellen Hegemonie des Christentums vorgeprägt sind, so umzugestalten, dass ein unaufgeregtes Miteinander möglich wird. Will die historische Forschung zu diesen Debatten einen versachlichenden Beitrag leisten, dann kann sie dies nur, wenn sie nicht mehr den bekannten kirchen- und konfessions-geschichtlichen Einbahnstraßen folgt, sondern Religionsgeschichte als eine ‚geteilte Geschichte‘3 unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften in einer gemeinsamen gesellschaftlichen Umwelt schreibt.

Dass Religion wieder ein Thema ist, wird rasch Konsens finden in der Gruppe derjenigen Zeitdiagnostiker, die der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaft regelmäßig den Puls fühlen. Auf der Ebene der Phänomene lassen sich national wie international zahlreiche Beobachtungen anführen, ohne dass man gleich den islamistischen Terror bemühen müsste, um die Präsenz der Religion in der Geschichte der Gegenwart sinnfällig zu machen. In den politischen Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa Ende der 1980er-Jahre haben die katholischen wie auch die protestantischen Kirchen wichtige Rollen eingenommen und demonstrierten damit, dass der Religion wieder (oder immer noch) eine – auch in politischer Hinsicht – gestaltende Kraft in Europa zukommt. Während dieser Einfluss in den osteuropäischen Nachbarländern zum Teil noch bis weit in die 1990er-Jahre reichte, ist für die DDR und später das wiedervereinigte Deutschland ein zwiespältiges Bild zu zeichnen: Auf der einen Seite zählten die protestantischen Landeskirchen zu den wenigen eigenständigen Institutionen in der SED-Diktatur; mit ihrer Existenz und mit ihren Strukturen boten sie zweifellos wichtige Voraussetzungen für die friedliche Revolution. So hat das Ende der DDR seine Wurzeln unter anderem in den Verkündigungsblättern und Kirchenkellern. Es wurde nicht allein, wohl aber zu einem wichtigen Anteil mit bewirkt von einer Oppositions- und Bürgerrechtsbewegung, die maßgeblich dem protestantischen Milieu entstammte. Ebenso sehr sticht aber auch ins Auge, dass diese wichtige Funktion der protestantischen Kirche in den Jahren 1989 und 1990 sich danach weder in der Glaubenspraxis noch in der politischen Kultur des wiedervereinigten Deutschlands niederschlug: Der Osten der heutigen Bundesrepublik ist einer der am nachhaltigsten säkularisierten Regionen Europas, und den Bonner/Berliner Politikbetrieb haben die protestantischen Oppositionellen nur am Rande geprägt.4

All diese Überlegungen zeigen in der Summe eines deutlich: Die von vielen Technokraten und vermeintlichen Aufklärern lange Zeit gehegte Hoffnung, die Religion werde im Prozess der Modernisierung gleichsam von selbst verschwinden, hat sich nicht erfüllt. Die neue Sichtbarkeit des Islams – Moscheen, Kopfbedeckungen, islamischer Religionsunterricht –, die Transformation der jüdischen Gemeinden in Deutschland durch den Zustrom neuer Mitglieder aus Osteuropa, die mediale Präsenz des Christentums in Form von Pfarrer- und Nonnenserien oder Megaevents wie der internationale „Weltjugendtag“ der katholischen Kirche zeigen vielmehr, dass mit den Begriffen Religion und Religiosität auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch zentrale Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der kollektiven wie individuellen Identitätssuche angesprochen sind.

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Aber schon die Folgerungen, die aus diesen Beobachtungen gezogen werden, gehen weit auseinander: Sind diese Phänomene tatsächlich auf eine Renaissance des Religiösen zurückzuführen? War Religion als wichtiger Faktor des gesellschaftlich-kulturellen Lebens einfach nur eine Zeitlang aus dem Augenschein der Wissenschaft verschwunden und wird nun wieder wahrgenommen? Oder ist das Reden über Religion doch viel stärker zu unterscheiden vom Reden aus religiöser Überzeugung, so dass wir es vor allem mit einem Diskursphänomen zu tun haben, unter dessen feuilletonistischer Oberfläche die gelebte Religiosität weiterhin erodiert? Und was heißt überhaupt „Religion“ und „Religiosität“? Lassen sich diese Begriffe so operationalisieren, dass sie für historische Untersuchungen tragfähig sind? Zu offensichtlich ist die Tatsache, dass religiöses Leben heute kaum mit dem Glauben der Väter (und Mütter) deckungsgleich ist. Selbst dann, wenn die Konfessionsbezeichnung identisch geblieben ist, haben sich doch die mit diesem Etikett verbundenen Glaubensgehalte und -praktiken in der Regel fundamental verschoben. Die Rede von der „Rückkehr der Religionen“5 oder der „Wiederkehr der Götter“6 verdeckt, dass es nicht die alten Götter sind, die uns in Gestalt der neuen öffentlichen Präsenz der Religion begegnen. Vielmehr waren diese selbst – genauer: die Vorstellungen, die sich die Menschen von ihnen machten – in den letzten Jahrzehnten einem rasanten Transformationsprozess unterworfen. So sind beispielsweise die Gottesbilder der Mehrheit der europäischen Christen der 1950er-Jahre im heutigen religiösen und theologischen Diskurs kaum mehr anzutreffen.7 Auch sozial- und strukturgeschichtlich unterlag das Christentum in Westdeutschland wie in anderen europäischen Ländern einem deutlichen Gestaltwandel: Ließ sich in den 1950er-Jahren zumindest im Hinblick auf den bundesrepublikanischen Katholizismus noch mit guten Gründen von einem relativ geschlossenen sozial-moralischen Milieu reden, so erodierte dieses spätestens mit der „religious crisis of the 1960s“, die zu einem massiven Mitgliederschwund der christlichen Kirchen führte, der bis heute anhält.8 Insofern ist auch „Säkularisierung“ im Sinne voranschreitender Entkirchlichung ein Faktum, das die Entwicklung des religiösen Lebens immens prägt.9

Wenn wir heute dennoch von einer (neuen) Präsenz des Religiösen in den modernen westlichen Gesellschaften reden, dann handelt es sich daher nicht um eine Rückkehr des Alten, sondern allenfalls um Formen einer neuen „post-säkularen“ Religion (Jürgen Habermas), die gegenüber früheren religionsgeschichtlichen Mustern durch eine starke Pluralisierung und Individualisierung der persönlichen Glaubensinhalte sowie eine nicht minder starke Fragmentierung und Amalgamierung der unterschiedlichen Traditionsbezüge gekennzeichnet ist. Individuelle wie auch gruppenspezifische Sinnsuche findet vielfach in veränderten, wenn nicht gar neuen Kontexten statt. Auch wenn die Marktmetapher für den deutschen Zusammenhang nur sehr bedingt taugt, so ist auch hier die Zahl der „Anbieter“ religiöser Sinn- und Deutungssysteme enorm gewachsen.10 Die Nachfragenden suchen nach einem persönlichen wie auch zeitlich unmittelbaren Sinnangebot und einer damit verbundenen Transzendenzerfahrung – ein Bedürfnis, das trotz verschiedener Anpassungsleistungen der etablierten Religionsgemeinschaften in den Formen traditioneller, meist familiengebundener Kirchlichkeit nicht gestillt wird. Im internationalen, vor allem aber im transatlantischen Vergleich zeigt sich aber rasch, dass die Zahl derjenigen, die sich in Deutschland an diesen neuen Formen der religiösen Sinnsuche orientieren, vergleichsweise klein ist.11 Individualisiert sich die Sinnsuche dermaßen, dass sie wissenschaftlich nicht mehr fassbar und vielleicht gesellschaftlich nicht mehr relevant wird? Oder verschwindet hier ein von manchen Wissenschaftlern gar als anthropologisch konstant gedachtes Bedürfnis? Und, wenn ja, mit welchen (zivil)gesellschaftlichen Konsequenzen ist das verbunden?

Blickt man allein auf die Oberfläche des geschichtswissenschaftlichen Gesprächs, dann trägt diese Disziplin zu solchen Überlegungen bislang wenig bei. Und fokussiert man noch stärker auf das Verhältnis von Zeitgeschichte und Religion, dann zeigt sich schnell, dass die „Gretchenfrage“ in Bezug auf das 20. Jahrhundert nur äußert selten gestellt wurde.12 Die Deutung der Religion haben die Historiker zumeist den professionellen Religionsintellektuellen der großen Konfessionen überlassen. Selbst in den übergreifenden, die Geschichte der Bundesrepublik charakterisierenden Sammelbänden, die in den vergangenen rund zehn Jahren erschienen sind, waren es in der Regel an die Theologischen Fakultäten gebundene Historiker oder Sozialwissenschaftler, denen die Aufgabe übertragen wurde, die Geschicke der Großkonfessionen synthetisierend zu beschreiben.13

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Dass die historischen Forschungsanstrengungen, die zum Thema unternommen wurden, im Fach relativ wenig Resonanz fanden, hängt wohl auch mit der konfessionellen Struktur zusammen, in der sich die am Thema Interessierten organisiert hatten: In der katholischen „Kommission für Zeitgeschichte“ schlossen sich 1962 nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Vertreter der katholischen Kirche sowie christdemokratische Politiker zusammen, um insbesondere die Erforschung des Katholizismus im nationalsozialistischen Deutschland zu befördern. Später kamen in der ‚blauen Reihe‘ der Kommission dann auch Studien zur Geschichte der Bundesrepublik und zum DDR-Katholizismus hinzu. Das sentire cum ecclesia blieb aber zumindest für die Kommissionsmitglieder eine bindende Maxime.14 Das protestantische Pendant, die „Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“ mit ihrer Reihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“15 ging ähnlich vor und verfestigte so – ungeachtet all der verdienstvollen Forschung, die hier wie dort geleistet wurde – die konfessionelle Isolierung der historischen Religionsana-lyse. Die nicht minder ertragreiche ‚orange Reihe‘ „Konfession und Gesellschaft“, die Ende der 1980er-Jahre in dezidiert interkonfessionell-ökumenischer Ausrichtung und mit dem expliziten Ziel, die Beziehungen zwischen Christentum und Gesellschaft besonders zu beachten, ins Leben gerufen wurde,16 konnte diese Engführung nicht aufbrechen, ebenso wenig die gleichfalls grundsätzlich interkonfessionell angelegte, letztlich aber protestantisch ausgerichtete Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“17 – zu stark war die Skepsis der Allgemeinhistoriker gegenüber der weiterhin dominanten Anlehnung der historischen Forschung an konfessionelle Strukturen.

Bei nicht wenigen Vertretern der Geschichtswissenschaft, insbesondere aus dem Bereich der sozialgeschichtlichen Forschung, kamen ideologische Vorbehalte hinzu. Als sich die Sozialgeschichte in den 1960er- und 1970er-Jahren die modernisierungstheoretische Brille der Soziologie und der Politikwissenschaften aufsetzte, verengte sich der Blick schnell auf eine allzu einfach gestrickte Säkularisierungstheorie. Religion erschien dann bestenfalls als ein Atavismus, im schlechteren Fall aber als Hindernis bei der Überwindung des autoritären Obrigkeitsstaates und auf dem Weg in eine partizipatorisch-demokratische Gesellschaft.18

Insofern mag vieles dafür sprechen, dass sich die Religionsgeschichte, wie Mark Edward Ruff, einer der besten amerikanischen Kenner der deutschen Konfessionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, im Jahr 2009 konstatierte, noch immer im Ghetto der Konfession und außerhalb des „Mainstreams“ der Historio-graphie befindet.19 Obwohl Forschungsdesiderate aufgearbeitet worden seien und keinesfalls mehr „Kirchengeschichte“ inklusive ihrer vormals theologisch-heilsgeschichtlichen Aufladung im verengten Sinne betrieben werde, sei diese noch nicht in den allgemeinen Geschichtsbildern der Zunft angekommen. Selbst wenn eine solche Diagnose grosso modo zutreffen mag, legt der zweite Blick doch offen, welche thematischen wie auch methodischen Neuorientierungen eingeschlagen wurden und werden, die die Erklärungskraft derartiger Forschungen verstärkt haben und weiterhin stärken werden. Verschiedene Forschungsüberblicke bezeugen die Produktivität dieses Feldes,20 und auch die neuere Sozialgeschichte hat das Thema Religion längst für sich entdeckt.21

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Gemeinsamer Nenner der neueren Forschungen ist zunächst einmal die Distanz zu jeder Großtheorie. Insbesondere die Säkularisierungsthese hat unter Zeithistorikern gegenwärtig keine Konjunktur, ebenso wenig die rein quantitativen Ansätze der älteren Sozialgeschichte: Mit dem bloßen Auszählen von Konfessionsangehörigen und Mitgliedern in kirchlichen Verbänden, mit dem Erheben der Zahl von Kommunikanten und der Bestimmung von Betreuungsrelationen zwischen Priestern und Gläubigen ist es heute sicher nicht mehr getan, wenn man der Präsenz und Wirkmächtigkeit des Religiösen in der jüngeren Vergangenheit auf die Spur kommen will.22 Die vielfältigen „Privat-christentümer“ (Friedrich Wilhelm Graf), die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben – ganz zu schweigen von den zahlreichen hybriden Religionsformen heutiger Gesellschaften –, lassen sich nicht mehr in klaren Entweder-Oder-Kategorien abbilden. Benötigt werden vielmehr Modelle mit mehreren Variablen, die es erlauben, Religiosität jenseits formeller Mitgliedschaft in religiösen Organisationen analytisch in den Griff zu bekommen. Gefragt sind methodische Ansätze, die das ‚believing without belonging‘ ebenso in den Blick nehmen wie das ‚belonging without believing‘.23 Es gäbe viele Möglichkeiten, wie unser „Religions-Barometer“ neu kalibriert werden könnte; die Richtung, die dabei eingeschlagen werden müsste, erscheint jedenfalls eindeutig: weg von der alles überformenden Metatheorie, hin zu einer historisch kontextualisierten, qualitativ orientierten Analyse religiösen Wandels, die in besonderer Weise historisch-anthropologischen, diskursanalytischen oder auch begriffsgeschichtlichen Methoden verpflichtet ist.24

Ob das gegenwärtige Forschungsinteresse an Fragen der Religion mehr ist als eine bloße Konjunktur, wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, ob es gelingt, diese und andere methodischen Innovationen in das allgemeine zeithistorische Forschungsfeld zu integrieren. Sollte dies der Fall sein, dann kann einer erneuerten Religionsgeschichte eine wichtige Schrittmacherfunktion für eine Zeitgeschichte „nach dem Boom“ (Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael) zukommen. Zur Pluralisierung der Lebensstile, zur Aufweichung starrer soziokultureller Milieus, zum Wandel von Lebens- und Privatheitsformen, zu den Veränderungen in den Mustern primärer Vergemeinschaftung in Familie, Freundeskreis und Gesinnungsgruppen wie auch zur Erosion und Veränderung vormals akzeptierter Leitwerte der Moderne und Hochmoderne – zu all diesen und weiteren Prozessen, die die jeweils zeitgenössische Soziologie allenfalls formelhaft erfasst hat, könnte die religionsgeschichtliche Erforschung der letzten 30 bis 40 Jahre entscheidende Beiträge liefern.

In diesem Sinne ist es für eine Bilanz sicher noch zu früh. Auch die Artikel des vorliegenden Themenhefts können nur Schlaglichter auf verschiedene Momente der Präsenz von Religion in der Gesellschaft der Bundesrepublik werfen; auf ein Gesamtpanorama zielen sie nicht. Wichtig ist uns dabei, den Blick nicht nur auf die beiden Großkonfessionen des Christentums zu richten, sondern auch auf den Islam und das Judentum, die ebenso wie die vielen hybriden Formen ‚populärer Religion‘ heute zum Gegenstandsbereich einer modernen Religionsgeschichte dazugehören. Zudem werden die jeweiligen religiösen Formationen nicht nur binnenkonfessionell betrachtet, sondern mit den Wandlungsprozessen in ihrer politischen und sozialen Umgebung verbunden. Der zeitliche und räumliche Fokus auf (West-)Deutschland seit 1945 ist dabei nicht als nationalgeschichtliche Engführung gedacht, sondern soll dazu dienen, Gemeinsamkeiten und Vergleichsaspekte zwischen den einzelnen Beiträgen und den dort behandelten Gegenständen deutlicher hervortreten zu lassen. So belegt Claudia Lepp, wie verschieden die beiden großen christlichen Konfessionen auf die gleiche gesellschaftlich-politische Herausforderung reagierten, die mit dem Entstehen der Neuen Sozialen Bewegungen und deren Protestformen in der Bundesrepublik einherging. Tobias Freimüller und Bärbel Beinhauer-Köhler erläutern hingegen an ganz unterschiedlichen konfessionellen und sozialen Einheiten – der Entwicklung des städtischen Judentums in Frankfurt am Main und der Entstehung von Orten muslimischer Religiosität in der Bundesrepublik –, wie sehr die gesellschaftliche Präsenz von Religion durch den jeweiligen lokalen Raum und die dort ausgetragenen politischen, konfessionellen sowie nicht zuletzt generationellen Differenzen geprägt ist. Dass religiöse Veranstaltungen aber auch weit in transnationale, globale Dimensionen ausgreifen bzw. nur von diesen her verstanden werden können, zeigt schließlich der Beitrag von Uta Andrea Balbier über die Auftritte des evangelikalen Predigers Billy Graham in der Bundesrepublik und West-Berlin.

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Die anschließende Debatte beleuchtet einige neuere Konzepte zeithistorischer Religionsforschung und reicht damit über die Bundesrepublik als Untersuchungsfeld hinaus. Dabei geraten vor allem medienanalytische (Frank Bösch) und organisationssoziologische Perspektiven (Benjamin Ziemann) in den Blick, aber auch das Konzept der Zivilreligion (Heike Bungert/Jana Weiß). Nicht fehlen darf in diesem Zusammenhang eine kritische Würdigung der Säkularisierungstheorie, die möglicherweise doch mehr Potenzial bietet, als gemeinhin angenommen wird (Detlef Pollack).

Wie immer werden in den „Zeithistorischen Forschungen“ nicht nur Begriffe und Konzepte diskutiert, sondern auch thematisch einschlägige Quellen vorgestellt. In unserem Fall ist dies das so genannte Neue Geistliche Lied, in dem sich seit Anfang der 1960er-Jahre vielfältige Prozesse des religiösen Wandels manifestierten, wie Peter Bubmann zeigt. Eine besondere Facette des gegenwärtigen religiösen Pluralismus in Deutschland stellt anschließend Eva-Maria Schrage in ihrer Besprechung einer Frankfurter Ausstellung zur jüdisch-russischen Einwanderung in die Bundesrepublik vor. Nicht weniger facettenreich fallen die drei Beiträge der Rubrik „Neu gelesen“ aus. Während die Artikel von Mark Edward Ruff und Nicole Priesching anhand zweier Standardwerke die Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre zwischen konfessioneller Kirchengeschichte und allgemeiner Zeitgeschichtsforschung aus heutiger Sicht neu betrachten, erinnert Pascal Eitler an einen Gründungstext der New-Age-Bewegung.

Im vorliegenden Heft kommen neben Vertreterinnen und Vertretern der Geschichtswissenschaft solche der Soziologie, der Religionswissenschaft und der Theologie (sowohl der evangelischen wie der katholischen) zu Wort. Die Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern unterschiedlicher Fachkulturen ist nicht zufällig, sondern durch den Gegenstand bedingt: Die Pluralität religiöser Phänomene lässt sich wohl nur mit dem Methodenpluralismus der unterschiedlichen Fächer adäquat analysieren.

Anmerkungen: 

1 Evelyn Finger, Gott ist tot – macht nichts, in: ZEIT, 9.9.2010, S. 59. Siehe auch die weiteren Artikel in derselben Ausgabe, S. 57-60.

2 Selbst die Debatte um den so genannten Neuen Atheismus (Richard Dawkins u.a.) erwies sich hierzulande als Eintagsfliege, die keine breite Kontroverse auszulösen vermochte. „Sagen wir es zurückhaltend: Es hat schon einmal interessantere Formen von Religionskritik gegeben“, so Helmut Mayer in seiner Besprechung von Dawkins’ „Der Gotteswahn“: Ein Hypothesengott ist schnell erledigt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.9.2007, S. 45.

3 Siehe Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, S. 30-50; ders./Klaus Große Kracht, Einleitung: Religion und Gesellschaft im Europa des 20. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln 2007, S. 1-41.

4 Vgl. aus der umfangreichen Literatur jüngst Monika Wohlrab-Sahr/Uta Karstein/Thomas Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt a.M. 2009, S. 13 und passim.

5 Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000.

6 Graf, Wiederkehr der Götter (Anm. 3).

7 Siehe dazu den anregenden Essay von Friedrich Wilhelm Graf, Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009.

8 Hugh McLeod, The Religious Crisis of the 1960s, Oxford 2007.

9 Siehe Detlef Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos?, Tübingen 2003; ders., Rückkehr des Religiösen?, Tübingen 2009.

10 Siehe hierzu Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2009.

11 Pollack, Rückkehr des Religiösen? (Anm. 9), S. 86ff.

12 Dass sich dies inzwischen ändert, zeigt der instruktive Forschungsüberblick von Uta Andrea Balbier, „Sag: Wie hast Du’s mit der Religion?“ Das Verhältnis von Religion und Politik als Gretchenfrage der Zeitgeschichte, 10.11.2009, online unter URL: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-11-001>.

13 Vgl. die verdienstvollen Beiträge von Karl Gabriel, Zwischen Aufbruch und Absturz in die Moderne. Die katholische Kirche in den 60er Jahren, und Martin Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche in den 60er Jahren, beide in: Karl Christian Lammers/Axel Schildt/Detlef Siegfried (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 528-543, S. 544-581; siehe auch Gerhard Ringshausen, Die Kirchen – herausgefordert durch den Wandel der Gesellschaft in den sechziger Jahren, in: Werner Faulstich (Hg.), Die Kultur der 60er Jahre, München 2003, S. 30-48; ders., Religion in den siebziger Jahren: Sehnsüchte, Engagement und Desinteresse, in: Werner Faulstich (Hg.), Die Kultur der 70er Jahre, München 2004, S. 19-36; ders., Zwischen Weltveränderung und Innerlichkeit: Denken, Glauben und Handeln in den achtziger Jahren, in: Werner Faulstich (Hg.), Die Kultur der 80er Jahre, München 2005, S. 21-37.

14 Siehe <http://www.kfzg.de>.

15 Siehe <http://www.ekd.de/zeitgeschichte>.

16 Siehe <http://www.staff.uni-marburg.de/~kaiserj/kug.htm>.

17 Siehe <http://www.kirchliche-zeitgeschichte.de>.

18 Siehe dazu etwa die undifferenzierte, letztlich nur die autoritären Elemente des Katholizismus wahrnehmende Sicht bei Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973, 6. Aufl. 1988, S. 120ff.

19 Vgl. Mark Edward Ruff, Integrating Religion into the Historical Mainstream: Recent Literature on Religion in the Federal Republic of Germany, in: Central European History 42 (2009), S. 307-337, hier S. 307.

20 Neben den Überblicken von Uta Andrea Balbier (Anm. 12) und Mark Edward Ruff (Anm. 19) siehe vor allem Patrick Pasture, Religion in Contemporary Europe. Contrasting Perceptions and Dynamics, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 319-350; Christoph Kösters u.a., Was kommt nach dem katholischen Milieu? Forschungsbericht zur Geschichte des Katholizismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: ebd., S. 485-526; siehe demnächst auch Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011): Säkularisierung oder Rückkehr des Religiösen? Gesellschaft und Religion seit der Mitte des 20. Jahrhunderts (vgl. dazu vorerst den Tagungsbericht von Ronald Funke und Jana Ebeling, 16.10.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3313>).

21 Siehe Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2009; Klaus Tenfelde (Hg.), Religiöse Sozialisationen im 20. Jahrhundert. Historische und vergleichende Perspektiven, Essen 2010.

22 Siehe dazu die launigen Überlegungen von David Nash, Reconnecting Religion with Social and Cultural History: Secularization’s Failure as a Master Narrative, in: Cultural and Social History 1 (2004), S. 302-325.

23 Grace Davie, Religion in Britain since 1945: Believing without Belonging, Oxford 1994; Danièle Hervieu-Léger, Religion und sozialer Zusammenhalt in Europa, in: Transit 26 (2003/04), S. 101-119.

24 Siehe dazu die anregenden Überlegungen von Callum Brown zur ‚discursive Christianity‘: ders., The Death of Christian Britain. Understanding Secularization 1800–2000, Oxford 2001.

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