Wie Sisyphos mit zwei Steinen

Zur Lage der Juristischen Zeitgeschichte zwischen Rechts- und Geschichtswissenschaft. Positionen und Perspektiven

Anmerkungen

Für diese Debatte haben wir vier prominenten Vertreter*innen beider Disziplinen, der Rechts- und der Geschichtswissenschaft, schriftlich Fragen zur Situation, zum Potential und zu den Herausforderungen einer Zeitgeschichte des Rechts gestellt.

Justin Collings (Brigham Young University, Provo) forscht zur Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, Italien, Südafrika und den Vereinigten Staaten im Kontext des nationalen geschichtlichen Erbes.

Lena Foljanty (Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt a.M.) leitet eine Nachwuchsgruppe, die Rechtspraktiken in Japan, China und dem Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts untersucht.

Martin Löhnig (Universität Regensburg) widmet sich neben der Juristischen Zeitgeschichte dem Familien- und Erbrecht.

Annette Weinke (Friedrich-Schiller-Universität Jena) arbeitet zu deutsch-jüdischen juristischen Netzwerken im amerikanischen Exil.

Für jede Frage übernahm ein Autor oder eine Autorin das Eröffnungsstatement; anschließend hatten alle Diskutant*innen die Möglichkeit, aufeinander zu antworten. Am Ende haben wir als Herausgeber*innen in Absprache mit den Beiträger*innen den Verlauf der Diskussion überarbeitet.

Julia Eichenberg/Benjamin Lahusen/
Marcus M. Payk/Kim Christian Priemel

Wie verhält sich die Rechtsgeschichte zur »allgemeinen« Geschichtswissenschaft in Deutschland? Woher rührt das ausgeprägte disziplinäre Selbstbewusstsein der juristischen Rechtshistoriker*innen, und sollten Allgemeinhistoriker*innen dem etwas entgegensetzen?

Martin Löhnig: Das Verhältnis der Rechtsgeschichte zur allgemeinen Geschichtswissenschaft war lange Zeit sehr distanziert. Das lag vor allem daran, dass Rechts­historiker*innen mit dem, was sie gemacht haben, und der Art, wie sie es gemacht haben, überhaupt nicht gesprächsfähig waren und offenbar auch nicht sein wollten. Nach meiner Wahrnehmung hat sich dies nun erheblich verändert. Die Rechtsgeschichte hat sich zu einer historischen Wissenschaft entwickelt, die persönlichen Kontakte funktionieren, es lassen sich gemeinsame Gesprächsebenen finden. Viele allgemeinhistorisch geprägte Forschungsverbünde zählen zu ihren Mitgliedern auch juristisch geschulte Rechtshistoriker*innen, weil in der Geschichtswissenschaft zunehmend ein Bewusstsein dafür zu entstehen scheint, dass zahlreiche der dort verhandelten Fragen dezidiert rechtshistorische Aspekte haben und entsprechende Kompetenz erfordern.

Rote Roben am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, 2002
(photothek.net/Süddeutsche Zeitung Photo)

Rechtshistoriker*innen sind allerdings immer auch Volljurist*innen. Sie müssen in Forschung und Lehre stets ein Bein im geltenden Recht haben. Das mag anstrengend sein, ist jedoch unverzichtbar. Auch wenn die Geschichte des Rechts inzwischen mehrheitlich von Allgemeinhistoriker*innen betrieben wird, erscheint mir eine dezidiert geltendrechtliche Ausbildung unverzichtbar für rechtshistorisches, also auf Rechtsquellen im weitesten Sinn gestütztes Arbeiten. Ob wir Rechtshistoriker*innen deshalb ein ausgeprägtes disziplinäres Selbstbewusstsein haben, würde ich trotzdem bezweifeln – allenfalls gibt es eine ausgeprägte disziplinäre Selbstwertkrise, die seit Jahrzehnten anhält und die wir gerade so langsam überwinden. An den juristischen Fakultäten sind wir seit Jahren mit der Frage konfrontiert, wozu man uns brauche. Lehrstühle, die früher rechtshistorisch besetzt waren, werden umgewidmet. Daran sind wir zu einem guten Teil selbst schuld, weil wir vielfach mit der arroganten Haltung durch die Gegend laufen, nur durch uns Grundlagenforscher*innen unterschieden sich die juristischen Fakultäten von Fachhochschulen. Dabei vernachlässigen wir mitunter die Kontaktaufnahme mit den für das geltende Recht zuständigen Kolleg*innen, die folglich auch nicht so genau wissen, was wir eigentlich machen und warum man das machen sollte. Die eigentliche Ursache der Selbstwertkrise dürfte aber darin liegen, dass Rechtshistoriker*innen dies über Jahre hinweg selbst nicht mehr zu wissen schienen.

Mangels Existenz muss man unserem ausgeprägten disziplinären Selbstbewusstsein also nichts entgegensetzen. Freilich glaube ich manchmal ein starkes disziplinäres Selbstbewusstsein einiger allgemeinhistorischer Kolleg*innen zu verspüren, einen ignoranten Unterton zu hören: »Wozu brauchen wir Euch eigentlich? Ihr seid doch keine vernünftigen Historiker*innen, und wir können mit Euren Quellencorpora auch ohne Euch wunderbar umgehen.« Einige geschichtswissenschaftliche Kolleg*innen ignorieren uns und unsere Erkenntnisse systematisch, was besonders schmerzt, weil wir umgekehrt in den letzten Jahren versucht haben, uns ihnen, ihren Methoden und ihren Erkenntnissen gegenüber zu öffnen. Immer häufiger vermeine ich aber auch zu hören: »Oh, spannend, ich hätte da ganz andere Fragen an diese Quellen gestellt und eine ganz andere Geschichte erzählt.« Gelungene Rechtsgeschichte funktioniert nur dort, wo juristischer und historischer Sachverstand vereint arbeiten, was in aller Regel nicht in einer einzigen Person funktioniert. Wir sollten also keine disziplinären Selbstverständnisse entgegensetzen, sondern mit unseren jeweiligen Stärken zusammenarbeiten – und das tun wir vielfach ja auch schon.

Methodisch und epistemologisch sind Rechtshistoriker*innen selbst als Voll­jurist*innen primär Historiker*innen. Auch unser Erkenntnisziel ist ja ein historisches: Wir trennen nicht Recht und Unrecht, sondern erzählen aus Quellen eine Geschichte, wie es gewesen sein könnte, und belegen dies gegen andere mögliche Geschichten, suchen mithin (so es sie gibt) nach historischer Wahrheit, die sich freilich – deshalb Rechtsgeschichte – oftmals damit befasst, wer einmal wo und wem gegenüber etwas für Recht oder Unrecht gehalten hat, generell oder im Einzelfall, und warum und mit welchen Folgen. Also: Wir (sollten) arbeiten wie Historiker*innen, denen wir jedoch voraus haben, dass wir (vor allem in der Neueren Rechtsgeschichte und Juristischen Zeitgeschichte ist das wichtig) eine qualifizierte Vorstellung davon haben, wie die Menschen, die unser Quellenmaterial produziert haben, gedacht und gearbeitet haben, etwa bei ihrer Tätigkeit in der Gesetzgebung, in der Rechtswissenschaft, in den Gerichten und Notariaten. Deshalb können wir diesen Quellen andere, auch zuverlässigere Aussagen entnehmen. Wir sind, wie Histo­riker*innen, methodisch nicht zwingend festgelegt, arbeiten exegetisch, empirisch, aber zudem durchaus auch dogmengeschichtlich.

Annette Weinke: Zwar wurde hier bewusst nach dem Verhältnis der Rechtsgeschichte zur allgemeinen Geschichtswissenschaft gefragt. Da das Thema im Jahr 2003 Gegenstand einer intensiven fachübergreifenden Debatte in der Zeitschrift »Rechtsgeschichte« war, würde ich mich – auch vor dem Hintergrund meiner eigenen Orientierung – lieber darauf beschränken, die Beziehungen und Nichtbeziehungen zwischen Juristischer Zeitgeschichte und Zeitgeschichte zu problematisieren. Wenn ich heute als rechtsgeschichtlich interessierte Historikerin auf das schaue, was sich während der letzten 25 Jahre im Bereich der Neueren Rechtsgeschichte und Juristischen Zeitgeschichte getan hat, entdecke ich eine Reihe paradoxer Entwicklungen. Zum einen fällt auf, dass die Schwanengesänge der späten 1980er-Jahre nicht Wirklichkeit geworden sind. Stattdessen zeichneten sich die noch jungen Subdisziplinen durch eine bemerkenswerte Produktivität aus, messbar unter anderem in zahllosen neuen Schriftenreihen und Fachjournalen, umfassenden Editionsprojekten und ehrgeizigen Digitalisierungsvorhaben. Auf der anderen Seite fand aber im Zuge des allgemeinen Ökonomisierungsprozesses eine dramatische Ausdünnung rechtshistorischer Lehrstühle und Professuren statt, die nach und nach von den juristischen Fakultäten verdrängt wurden. Aufgrund dessen sind die Historiker*innen in Deutschland heute damit konfrontiert, dass die meisten Lehrstühle Rechtsgeschichte nur noch im Verbund mit weiteren Rechtsgebieten betreiben, was erfahrungsgemäß das Interesse an Kooperationen mit anderen Disziplinen eher senkt als steigert.

Trotz dieser massiven institutionellen Schwächung, die die Neuere Rechts­geschichte und die Juristische Zeitgeschichte nach meinem Eindruck sogar über­proportional betroffen hat, trugen neuere Trends wie eine vermehrt europäisch ausgerichtete Verbundforschungsförderung dazu bei, dass sich zumindest punktuell und beschränkt auf einige wenige Felder eine fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Jurist*innen, Historiker*innen und Kulturwissenschaftler*innen entwickeln konnte. Teilweise dürfte dieser Drittmittelboom wohl auch eine Reaktion auf das Ende des Sowjetimperiums und die Entstehung einer europäischen Rechts- und Wertegemeinschaft gewesen sein. Der Umstand, dass die deutsche Rechtsgeschichte heutzutage einen nicht unerheblichen Teil ihrer drittmittelgeförderten Projekte im Verbund mit Historiker*innen betreibt, hat den Direktor des Max-Planck-Instituts (MPI) für europäische Rechtsgeschichte sogar dazu veranlasst, vor Problemen bei der »Integration von grundlagenbezogenen und dogmatischen rechtswissenschaftlichen Forschungen« und dem Verlust ausreichender disziplinärer Bindung an die Rechtswissenschaften zu warnen.1 Zwar kann ich mangels näherer Kenntnisse nicht beurteilen, inwieweit jene Diagnose die Lage zutreffend wiedergibt. Ich habe diesbezüglich eher meine Zweifel. Doch scheint einiges dafür zu sprechen, dass die Zukunft der Zeitgeschichte des Rechts an deutschen Universitäten keine rosige sein kann, wenn bereits »Normal«-Jurist*innen aufgrund schwankender institutioneller Strukturen und diffundierender disziplinärer Grenzen immer größere Schwierigkeiten haben, miteinander ins Gespräch zu kommen. Was ich damit sagen will: Es ist eben etwas ganz anderes, ob die Zusammenarbeit mit der Geschichtswissenschaft deshalb in Gang gesetzt wird, weil dies der Logik der DFG-Förderrichtlinien entspricht, oder ob sich ein Dialog deshalb entwickeln kann, weil es stabile Infrastrukturen mit entsprechend interessierten Forscherpersönlichkeiten gibt, wie dies beispielsweise in Frankfurt a.M. mit Michael Stolleis lange Zeit der Fall war.

Vor dem Hintergrund der hier beschriebenen Veränderungsprozesse stellt sich für mich die praktische Frage, was die Rechtsgeschichte im Allgemeinen und die Juristische Zeitgeschichte im Besonderen eigentlich tun können, um ihre Randständigkeit und prekäre institutionelle Verankerung so zu wenden, dass sowohl die Rechts­wissenschaften als auch die allgemeine Zeitgeschichte etwas davon haben. Martin Löhnigs Statement enthält zwei Aussagen, die in ihrer Widersprüchlichkeit das gegenwärtige Dilemma der Rechtsgeschichte auf den Punkt zu bringen scheinen: So fordert er einerseits, dass Rechtshistoriker*innen immer auch »Volljurist*innen« zu sein hätten, während er andererseits konstatiert, Rechtsgeschichte werde »inzwischen mehrheitlich von Allgemeinhistoriker*innen betrieben«. Dies bestätigt das alt­bekannte Bild, demzufolge Akademiker*innen mit Doppelqualifikation2 eine äußerst rare Spezies sind, von denen zudem nur ein kleiner Teil in der Wissenschaft verbleibt. Was aber wird aus der Rechtsgeschichte, wenn man derart hochqualifizierte Wunderwesen in der Tiefebene des Universitätsalltags mit der Lupe suchen muss? Ich glaube daher nicht, dass es besonders förderlich für das gemeinsame Ziel ist, Ausgrenzungskriterien und Ausschlussklauseln zu formulieren, um »echte« von »unechten« Rechts­histori­ker*innen zu unterscheiden. Es hilft meines Erachtens auch nicht, wenn die Rechtsgeschichte weiterhin an ihrem epochenübergreifenden Kompetenz­anspruch festhält, um für die Kolleg*innen an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten gesprächsfähig zu bleiben. Denn für die allgemeine Zeitgeschichte, die einen eigenen, hochelaborierten Fachdiskurs führt, ist sie es deswegen oft gerade nicht.

Im Hinblick auf eine mögliche stärkere Annäherung beider Subdisziplinen erscheint mir die Beobachtung wichtig, dass sich seit einiger Zeit in den Rechts- wie auch in den Geschichtswissenschaften interessante Parallelentwicklungen voll­ziehen, die man als Wiederentdeckung des Staates und als Neuentdeckung zivil­gesell­schaftlicher Institutionen bezeichnen könnte. Damit einhergehend sind Themenfelder wie Terrorismus und Terrorismusbekämpfung, Staatsnotstand und Aus­nahmerecht, Politische Strafjustiz, Transitional Justice, staatliche Überwachung und Asylrechtsentwicklung in den Blick getreten, die theoretisch viele gemeinsame Anknüpfungspunkte bieten würden, von denen aber die meisten bisher nicht aufgegriffen werden. So frage ich mich beispielsweise, warum sich die Rechtswissenschaft – mit Ausnahme einer polemischen Intervention aus der Feder Bernhard Schlinks3 – zu den vielen ministeriellen Aufarbeitungsprojekten kaum geäußert hat, obwohl die dabei behandelten Fragen gewissermaßen zum disziplinären Proprium gehören. Auch scheint sich aus der Rechtswissenschaft niemand dafür zu interessieren, warum der Aufarbeitungsschwung zwar die bundesdeutschen Geheimdienste erfasst hat, aber an den führenden deutschen Gerichten und bis vor Kurzem auch der Bundesanwaltschaft völlig vorbeigegangen ist.

Justin Collings: Ich teile mit Annette Weinke die Ansicht, dass die Subdisziplin Rechtsgeschichte eher ökumenisch ausgerichtet sein sollte. Das Zelt ist schon klein; es nützt nichts, darin noch starre Grenzlinien zu ziehen. Trotzdem herrscht ein latentes gegenseitiges Unbehagen zwischen Zunfthistoriker*innen und Rechtshistoriker*innen. Martin Löhnig verspürt eine gewisse Arroganz seitens der Allgemeinhistoriker*innen, die uns nicht als »echte«, »vernünftige« Historiker*innen betrachten. Vielleicht verspüren die Historiker*innen jedoch umgekehrt eine überheblichkeit seitens der Jurist*innen, die sich etwas auf ihre dogmatischen Fähigkeiten und ihr angeblich nuancierteres Quellenverständnis einbilden. Diese Jurist*innen fühlen sich vielleicht den Jurist*innen der Vergangenheit näher; die Historiker*innen womöglich der Vergangenheit selbst. Wir sollten diese beiderseitige Skepsis überwinden. Es müsste möglich sein, die Stärken sowie die Defizite beider Seiten in einem Geist der Kooperation statt der Konkurrenz anzuerkennen.

Die Skepsis innerhalb der Jurisprudenz gegenüber der Rechtsgeschichte, von der Martin Löhnig gesprochen hat, stellt hingegen ein ganz anderes Problem dar. Sicherlich findet die »Selbstwertkrise« der Rechtshistoriker*innen üppige Nahrung in den Bedenken der eigenen Fachkolleg*innen. Diese betrachten Geschichte nicht nur als Gegensatz zu einer theoretischen oder konzeptionellen Betrachtungsweise, sondern als dieser wesentlich untergeordnet. Ein Kollege sagte mir kürzlich, dass Geschichte sich nur um die Fakten kümmere, nicht aber um die Ideen. Fakten seien zwar nützlich als Grundlagen von Ideen, für sich allein erschienen sie aber beliebig. Aus dieser Sicht bedarf die Geschichte der Theorie, bietet sie aber nicht. Als ich meinem akademischen Mentor, einem Juristen, erklärte, ich wolle eine Dissertation über die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts schreiben, antwortete er etwas irritiert: »Nun gut. Aber was ist Deine Idee?« Ich hatte damals keine Idee, nur ein Thema. Wie konnte ich zu Beginn meiner Forschungen bereits eine Idee haben, ohne zu wissen, was das Bundesverfassungsgericht genau getan hatte? Eine solche Grundlagenarbeit aber betrachtete mein Professor – übrigens ein eher historisch gesinnter Wissenschaftler – als eine intellektuell wenig befriedigende Aufgabe.

Ich kann dem, was Martin Löhnig über den Gegenwartsbezug der Rechts­histo­riker*innen schreibt, nur zustimmen. Wir müssen immer auch »ein Bein im geltenden Recht haben«. Das gilt selbst dann, wenn wir »[m]ethodisch und epistemologisch [...] primär Historiker*innen« sind. Denn die Frage, »wie es gewesen sein könnte«, ist für Jurist*innen selten eine Frage der reinen historischen Spekulation, sondern zielt immer auf das gegenwärtige Recht und seine Fortbildung. Wie es gewesen sein könnte, verweist mindestens implizit darauf, wie es noch sein oder werden könnte. Wenn ich Rechts- oder Verfassungsgeschichte unterrichte, ziele ich immer darauf, dass meine Student*innen sich als zukünftige Akteur*innen in einer längeren Tradition sehen.

Annette Weinke fragt, warum sich die Rechtswissenschaft »zu den vielen ministeriellen Aufarbeitungsprojekten kaum geäußert hat, obwohl die dabei behandelten Fragen gewissermaßen zum disziplinären Proprium gehören«. In jenem »gewissermaßen« liegt vielleicht der Schlüssel. Die Institutionenorientierung der Rechtswissenschaft ist immer noch stark gerichtszentriert – besonders in den USA. Man darf sich natürlich auch mit anderen Institutionen befassen. Aber sich mit der Geschichte solcher staatlich-bürokratischer Institutionen – die nicht zu den traditionellen Gegenständen rechtswissenschaftlicher Forschung gehören – zu beschäftigen, würde die Toleranz der juristischen Fachkolleg*innen vielleicht überfordern.

Worin sehen Sie die »großen Themen« und methodischen Trends der aktuellen rechtshistorischen Forschung, besonders der Juristischen Zeitgeschichte in der Bundesrepublik?

Annette Weinke: Auf den ersten Blick wirkt die Frage nach den »großen Themen« etwas überraschend. Denn es spricht ja einiges dafür, dass die »großen Themen« qua Begriff in die Entstehung der »Juristischen Zeitgeschichte« eingeschrieben sind. Üblicherweise werden die Anfänge dieser Subdisziplin in den späten 1960er-Jahren verortet. Damals fanden erste Ringvorlesungen zum NS-Recht statt, Zeitschriften wie die »Kritische Justiz« wurden gegründet, und die Werke jüngerer Wissenschaftler*innen – etwa Bernd Rüthersʼ vielbeachtete Habilitationsschrift »Die unbegrenzte Ausle­gung«4 – thematisierten die Problematik einer weitgehend unangetasteten Rechtskontinuität über die Zäsuren des 20. Jahrhunderts hinweg. Nach einer längeren Latenzphase, die durch die methodischen Lagerkämpfe der 1970er-Jahre mitbedingt war, fand dann zu Beginn der 1990er-Jahre ein zweiter Institutionalisierungsschub statt. Im Vergleich zur alten Bundesrepublik ging es nun allerdings nicht mehr nur darum, Strukturen und Begriffe eines gerade untergegangenen Rechtssystems zu erklären, sondern auch darum, eine erste Einordnung des NS- und DDR-Rechts in die langen Linien des 20. Jahrhunderts vorzunehmen.

Schon der kursorische Rückblick zeigt also, dass die Geburt der Juristischen Zeitgeschichte das typische Produkt einer gesellschaftspolitischen Aufbruchsphase darstellt, die für die Entwicklung der Bundesrepublik insgesamt konstitutiv war. Aus meiner Sicht ergeben sich daraus bis heute einige fachspezifische Besonderheiten. Teilweise sind es Merkmale, die die Juristische Zeitgeschichte und die seit 1949 betriebene bundesdeutsche Zeitgeschichtsforschung gemeinsam haben. Doch lassen das aktuelle Profil und der Interessenhorizont auch darauf schließen, dass sich zumindest ein Teil der Juristischen Zeitgeschichte ein gutes Stück von dem sich dynamisierenden zeithistorischen Feld entfernt hat. Ebenso wie die allgemeine Zeitgeschichte arbeitete sie sich mehrere Jahrzehnte lang an den großen Themen der deutschen Nationalgeschichte ab; schon dies hat zu einem gewissen methodischen Konservatismus geführt. So wurde zunächst vor allem das NS-Recht in all seinen Facetten erforscht, später kamen die DDR-Rechtsordnung und die rechtlichen Folgen der Wiedervereinigung hinzu. Der Erwerb wissenschaftlicher Expertise auf diesen Gebieten garantierte fast automatisch ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit und Nachfrage. Dadurch ergaben sich nicht nur interessante Kooperations- und Reibungsverhältnisse zu zentralen Institutionen der bundesdeutschen »Aufarbeitung« (Strafjustiz, parlamentarische Enquête-Kommissionen, Stasi-Unterlagen-Behörde). Zeitweise gingen der Aufgabenzuwachs und das gestiegene Prestige auch mit geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Vereinnahmungstendenzen einher.

New Yorker Kinder betrachten die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948
am zweiten Jahrestag ihrer Verkündung.
(Flickr, United Nations Photo; Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0)

Vorläufig gesprochen scheinen die allgemeine Zeitgeschichte und die Juristische Zeitgeschichte jeweils unterschiedlich mit den Herausforderungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts umgegangen zu sein. Während das Ineinandergleiten von Politik, Erinnerung und Wissenschaft sowie die zunehmende Internationalisierung für die Zeitgeschichtsforschung als Katalysatoren einer intensivierten selbstreflexiven Debatte wirkten, orientiert sich die hiesige Juristische Zeitgeschichte heute wieder stärker an der Rechtswissenschaft und an einem traditionalistischen Selbstverständnis als »Normen-, Wissenschafts- und Praxisgeschichte« (Peter Oestmann).5 Auf der Suche nach vermeintlich sicherem Terrain wurde gewissermaßen der Zeitpunkt verpasst, sich der Historizität der eigenen Disziplin zu stellen und die Zeitgebundenheit der eigenen Gegenstände, Begriffe und Methoden kritisch zu hinterfragen. Damit geht nicht nur ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber einer eher populärwissenschaftlichen NS-Forschung einher (welche man zwar zuweilen etwas herablassend als »Bewältigungs«-Literatur einstuft, in der aber trotzdem gern der eine oder andere Beitrag platziert wird). Vielmehr erstreckt sich die Distanzierung paradoxerweise auch auf die allgemeine Zeitgeschichte und deren vorsichtige Öffnung gegenüber rechtsgeschichtlichen Fragen, von denen inzwischen nicht wenige einen transnationalen oder globalen Zuschnitt haben. Diese doppelte Rückzugsbewegung ist einer der Hauptgründe für die hierzulande zu beobachtende Divergenz zwischen rechtswissenschaftlicher Juristischer Zeitgeschichte und einer vermehrt rechtskultur­geschichtlich interessierten und arbeitenden Zeitgeschichtsforschung.

Martin Löhnig: Die behauptete Divergenz zwischen einer traditionalistischen Rechtsgeschichte im Sinne einer »Normen-, Wissenschafts- und Praxisgeschichte« einerseits und einer »rechtskulturgeschichtlich interessierten und arbeitenden« Zeitgeschichte sehe ich nicht. Wenn sich Kulturgeschichte mit der Geschichte menschlichen Handelns und Deutens befasst, wäre Rechtskulturgeschichte derjenige Teil der Kulturgeschichte, der sich mit dem menschlichen Handeln und Deuten im Hinblick auf die Frage nach Recht und Unrecht beschäftigt, also besonders mit allen auf diesem Feld entwickelten und handlungsleitenden Wertvorstellungen, Normen, Institutionen, Verfahrensregeln und Verhaltensweisen. Damit ist freilich zugleich der Gegenstand der Rechtsgeschichte insgesamt umrissen. Es gibt – wie die zitierte Formulierung Oestmanns zeigt – verschiedene Arten, sich diesem Gegenstand zu nähern, weil es ganz unterschiedliches Quellenmaterial gibt: den Zugang über Normen, über Denktraditionen und über die Rechtsanwendung. Keiner dieser Zugänge ist besser oder schlechter, denn jeder von ihnen vermag einen spezifischen Blick auf die Geschichte menschlichen Handelns und Deutens in Fragen von Recht und Unrecht zu eröffnen. Sie ergänzen sich im Idealfall also, oftmals freilich nicht in der Person eines einzelnen Wissenschaftlers, und sie schließen kulturwissenschaftlich geprägte Fragen etwa nach der Inszenierung, Rhetorik oder Medialität des Rechts ebensowenig aus wie beispielsweise eine transnationale Herangehensweise. Ich würde also behaupten: Wir betreiben Rechtskulturgeschichte, was sonst? Eine Distanzierung gegenüber der allgemeinen Zeitgeschichte und »deren vorsichtige[r] Öffnung gegenüber rechtsgeschichtlichen Fragen« kann ich daher nicht erkennen.

Annette Weinke: Als Historikerin, die schon lange zu justizgeschichtlichen Themen forscht und dabei stets auch den engen Austausch mit Jurist*innen aus dem In- und Ausland gesucht hat, bin ich mir bewusst, dass Kooperationen zwischen Histori­ker*innen und Rechtswissenschaftler*innen inzwischen Teil des akademischen Alltags geworden sind, auch wenn es in Deutschland immer noch an festen institutionellen Zentren mangelt, die auch dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine dauerhafte Perspektive bieten könnten. Trotzdem würde ich an dem Argument festhalten, dass der oft beschworene interdisziplinäre Austausch seit Jahren auf sehr niedrigem Niveau stagniert und dass diese Problematik zumindest in Teilen mit der Art und Weise zu tun hat, wie Neuere Rechtsgeschichte und Juristische Zeitgeschichte heute überwiegend verstanden, betrieben und gelehrt werden.

Neben den bereits angesprochenen strukturellen Erschwernissen lassen sich immer wieder Dissonanzen zwischen den verschiedenen Wissenschaftskulturen und -sprachen feststellen, die für anhaltende Kommunikationsbarrieren zwischen rechtsgeschichtlich arbeitenden Zeithistoriker*innen und Rechtshistoriker*innen sorgen. Ein bis auf weiteres nicht zu lösendes Hauptproblem liegt für mich darin, dass ein großer Teil der Rechtshistoriker*innen seine Erkenntnisinteressen und Forschungsfragen nach wie vor aus der Binnnenperspektive des Rechts heraus formuliert. In vielen Fällen steht dabei das gegenwärtige Recht im Blickpunkt oder das, was der jeweilige Forscher oder die jeweilige Forscherin darunter verstehen will. Obwohl dieser Ansatz seine Berechtigung hat, weil er die historische Gewordenheit des Rechts für die gegenwärtige Rechtsanwendung nachvollziehen und erklären will, ist er für den allgemeinen Zeithistoriker oft zu eng, um darin Anknüpfungspunkte für seine eigenen Forschungsthemen zu finden. Umgekehrt haben viele Zeit­historiker*innen, die sich mit rechtshistorischen Fragen auseinandersetzen, die Neigung, sich in quasi vorauseilendem Gehorsam die Denkstile der Rechtswissenschaft anzueignen und diese kritiklos zu reproduzieren. Damit leisten sie einer Essentialisierung und Kanonisierung der Geschichte des Rechts Vorschub, die sowohl dessen relative Autonomie als auch die Einbettung in politische, soziale und ökonomische Konflikte ausblendet.

Im Großen und Ganzen lässt sich wohl schwerlich bestreiten, dass sich die Rechtsgeschichte in Deutschland, wo – anders als in Österreich – kaum rein rechtshistorische Lehrstühle existieren, schon seit längerer Zeit in schwerem Fahrwasser bewegt. Die Kritik an der jetzigen Situation wird ja auch innerhalb der Rechtswissenschaft selbst geäußert. Kürzlich erschien unter dem Titel »Zukunftsfähig?« eine lesenswerte, wenn auch trübsinnig stimmende Bestandsaufnahme eines Rechtsprofessors und einer Rechtsprofessorin zur Juristenausbildung in Deutschland: »Das Eingehen auf geschichtliche, politische oder wirtschaftliche Hintergründe einer gesetzlichen Regelung löst im Hörsaal Seufzen oder Langeweile aus. Dies kann man den Studierenden gar nicht vorwerfen, sie verhalten sich rational apathisch. Ein Prädikatsexamen ist durchaus auch erreichbar, [...] wenn man im gesamten Studium keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Bundesgerichtshofs im Original oder im Ganzen gelesen hat und erst recht keinen Aufsatz oder auch nur eine Anmerkung.«6 Zeitgleich vermutete ein Artikel im FAZ-Magazin »Einspruch«, mit den Namen zeithistorischer Akteure wie Fritz Bauer, Hannah Arendt und Adolf Eichmann verbänden viele Nachwuchsjurist*innen nichts mehr.7

Es ist ja nicht das erste Mal, dass den Absolvent*innen deutscher Jura-Fakultäten eine Neigung zur Geschichts-»Apathie« attestiert wird. Michael Stolleis hatte bereits in den 1990er-Jahren davor gewarnt, »geschichtsblinde« Juristen auszubilden.8 Aber woher kommt dieses Phänomen, und wie lässt es sich erklären? Wird die Rechts­geschichte von den Student*innen als exotisches Beiwerk oder als überflüssige Spezialisierung betrachtet, die von vermeintlich Wichtigerem ablenkt? Welche Verantwortung trägt dafür möglicherweise das Fach selbst? Gibt es vielleicht doch eine Tendenz zur Verinselung und Selbstgenügsamkeit, die sich positiv in gesunder Skepsis gegenüber »modischen« Turns, negativ aber in mangelnder Experimentierfreude und fehlendem Entdeckersinn zeigt?

Lena Foljanty: Zunächst einmal möchte ich widersprechen: Es stimmt, dass sich viele Jura-Student*innen nicht für rechtshistorische Fragen interessieren, das gilt aber ebenso für rechtssoziologische und rechtsphilosophische Fragen. Der Grund liegt weniger in der Art, wie diese Fächer betrieben werden, als in der Ausrichtung des Studiums auf praktische Verwertbarkeit. Die Juristische Zeitgeschichte kommt hierbei noch vergleichsweise gut weg. Ich erlebe es immer wieder, dass Seminare zum Recht des Nationalsozialismus oder zur juristischen Aufarbeitung auf Interesse stoßen, zumindest bei denen, die etwas vertiefter über das Recht nachdenken wollen. An einigen Fakultäten beklagen sich die Student*innen sogar, dass das Lehrangebot in diesem Bereich nicht genüge.

Mir ist aber ein anderer Punkt wichtig. Nehmen wir die Trias der Normen-, Wissenschafts- und Praxisgeschichte, so fällt auf, dass die »vorsichtige Öffnung« der Geschichtswissenschaft gegenüber rechtshistorischen Fragen oft stark auf Gesetzgebung bzw. Rechtspraxis und wenig auf die Wissenschaft fokussiert. Mir fällt dies besonders in der Zeitgeschichte auf. Prozesse und Gesetzgebung werden gut mit allgemeingesellschaftlichen Debatten verknüpft, aber nur wenige Arbeiten aus der Feder von Historiker*innen leisten eine profunde Analyse rechtswissenschaftlicher Diskurse. Ich frage mich, ob dies davon zeugt, dass die Deutungsmacht und der Einfluss der Rechtswissenschaft von Historiker*innen, die nicht über einen juristischen Hintergrund verfügen, unterschätzt werden. Die von Jurist*innen betriebene Zeitgeschichte nimmt wiederum möglicherweise die Geschlossenheit des juristischen Feldes zu ernst – sie kann von Historiker*innen lernen, wo es darum geht, Verknüpfungen zu allgemeingesellschaftlichen Entwicklungen herzustellen. Es gibt also auf beiden Seiten disziplinär bedingte blinde Flecken, ich halte es aber nicht für sinnvoll, die Disziplinen gegeneinander auszuspielen. Die Pluralität der Ansätze im Umgang mit juristischen historischen Quellen ist grundsätzlich produktiv.

Ich stimme Martin Löhnig ganz zu, wenn er argumentiert, dass die Juristische Zeitgeschichte selbstverständlich Rechtskulturgeschichte ist. Sie fragt nicht nur eng nach der Entstehung bestimmter Normen oder dogmatischer Figuren, sondern auch nach Denkweisen, Rechtfertigungsnarrativen, professionellen Netzwerken und Selbstverständnissen – genau das ist Rechtskultur. Aus meiner Sicht könnten kulturwissenschaftliche Ansätze hierbei allerdings stärker furchtbar gemacht werden. Ich denke dabei nicht allein an globale oder transnationale Perspektiven, die von der Rechtsgeschichte zunehmend aufgenommen werden, sondern an die im Hinblick auf politische Umbrüche des 20. Jahrhunderts so wichtige Erinnerungstheorie. Die Konstruktion von Vergangenheitsdeutungen und ihr Einfluss auf das Recht, aber auch der Umstand, dass Erinnerung kein linearer Prozess ist, werden wenig reflektiert. Wie prägen Verdrängtes und Unbewusstes das Recht, vielleicht auch ohne dass die Zusammenhänge auf den ersten Blick erkennbar sind? Hier gibt es im englischsprachigen Raum, besonders im Umfeld der Association for the Study of Law, Culture and the Humanities, einige spannende Arbeiten, die in Deutschland viel zu wenig rezipiert werden.

Wieviel Theorie und Methodik braucht die Rechtsgeschichte? Wo sehen Sie Potential für neue Perspektiven, und inwieweit sollte eine zeitgemäße Rechtsgeschichte über den nationalen Rahmen hinausgehen?

Lena Foljanty: Geschichte und Theorie gelten vielen als Gegensätze. Doch tatsächlich ist historisches Arbeiten theoretisch voraussetzungsvoll: Geschichte ist Interpretation und baut damit immer auf Vorverständnissen auf. Für die Rechtsgeschichte ist das offensichtlich – was Recht in einer jeweiligen Zeit ist, gegenüber welchen anderen normativen Ordnungen es abzugrenzen ist und wie es sich in Wechselwirkungen mit ihnen entwickelt, ist kaum ohne begriffliche Reflexion zu erfassen. Umgekehrt bietet insbesondere die jüngere Rechtsgeschichte einen reichen Fundus, um die Funktionsweise des Rechts auch für die Gegenwart zu erforschen. Anhand von historischem Material lässt sich beobachten, wie das Recht durch gesellschaftliche oder wissenschaftliche Diskurse geformt wird, welche Resistenzen und Stabilitäten es aufweist, wie Grenzen gezogen und Deutungshoheiten etabliert werden und welchen Veränderungsdynamiken es unterliegt.

Geschichte und Theorie sind insofern alles andere als Gegensätze; sie befruchten sich vielmehr gegenseitig. Rechtsgeschichte bietet die Möglichkeit, die Komplexität des Rechts anhand historischen Materials zu reflektieren und damit die blinden Flecken des juristischen Tagesgeschäfts zu beleuchten: Was spielt hier eine Rolle, ohne dass es den Akteur*innen immer ganz bewusst ist? Welches Wechselspiel gehen rechtliche, politische, religiöse und gesellschaftliche Normen ein, und wie wird darin das Recht selbst konstituiert? Die Begriffsbildungen, die für die Bearbeitung derartiger Fragen nötig sind, dürfen allerdings nicht freihändig aus heutiger Sicht erfolgen, sondern müssen in Auseinandersetzung mit den Quellen entwickelt werden.

Sich einer Großtheorie des Rechts zu verschreiben scheint mir nicht weit zu führen. Um nuanciert Rechtsgeschichte zu betreiben, brauchen wir eine Beweglichkeit im Nachdenken über das Recht; methodischer Monismus hilft da nicht weiter. Die Systemtheorie kann den Blick auf Eigenlogiken und Eigendynamiken des Rechts schärfen, aber auch andere soziologische Ansätze können helfen, das Handeln der Akteur*innen im juristischen Feld zu reflektieren. In meiner Arbeit empfinde ich diskurs- und praxistheoretische Ansätze immer wieder als produktiv, da sie es ermöglichen, die Konstitution des Feldes selbst zu reflektieren und hierbei für das Recht so zentrale Momente wie Tradition und die Macht eingespielter Diskurse mit der Akteursebene in Verbindung zu bringen.

Soll die Rechtsgeschichte theoretische Moden und Trends aufgreifen? Ja und nein. Die »Turns« der Geschichtswissenschaft, die die Rechtsgeschichte meist verzögert und oft nicht mit voller Kraft erreichen, können lohnende Erweiterungen der Perspektive bieten. Die Hinwendung zur Globalgeschichte in den vergangenen Jahren und die damit einhergehende kulturwissenschaftliche Öffnung der Rechtsgeschichte waren produktiv, weil sie die bisherigen Erzählungen durchbrochen haben. Besonders in der Rechtsgeschichte haben anderthalb Jahrhunderte Orientierung am europäischen Maßstab tiefe Spuren hinterlassen: Wie können wir die vielfältigen Verflechtungen zwischen nicht-europäischer und europäischer Rechtsgeschichte erzählen, ohne erstere am Maßstab letzterer zu messen? Welche blinden Flecken hat die europäische Rechtsgeschichte, wenn sie europäische Erfahrungen isoliert von nicht-europäischen betrachtet? Die Fragen sind alles andere als geklärt, aber immerhin bewegt sich etwas.

Altes Amtsgericht in Swakopmund, Namibia,
der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika
(Wikimedia Commons, Uploaded on April 24, 2006 by SqueakyMarmot, Altes Amtsgericht Swakopmund, CC BY 2.0)

»Global« ist allerdings kein Allheilmittel. Mir scheint es wichtig, kritisch zu reflektieren, wann und warum ein globalhistorischer Zugriff gewählt wird. Was soll erzählt werden? Geht es um die Erzählung von einer immer schon globalen Welt im Dienste einer Rechtstheorie, die das Recht jenseits des Nationalstaates für unsere Gegenwart beschwört? An dessen Segen kann man glauben oder auch nicht – Rechtsgeschichte sollte hier eine kritische Distanz wahren. Sie sollte zeigen, dass auch in einer transnational verflochtenen Welt um Recht und Rechte gekämpft werden muss. Dass Globalgeschichte zurzeit angesagt ist und Gelder verspricht, sollte allein noch kein Grund sein, Forschungsprojekte entsprechend zu konzipieren. Befasst man sich mit zeithistorischen und erinnerungspolitischen Fragen, kann es weit spannender sein, kleinere Diskursrahmen als den globalen zu untersuchen und nach den Mechanismen der Selbstvergewisserung zu fragen. Welche »Wahrheiten« geschaffen wurden und wie das juristische Feld durch diese beeinflusst wurde, das sind Fragen, die durch die Rekonstruktion von Netzwerken beantwortet werden müssen – und diese waren nicht immer transnational oder global.

Martin Löhnig: Die jüngere Generation, zu der ich mich auch noch zähle, hat einen Prozess der Neuorientierung mit Blick auf Methoden und Forschungsgegenstände begonnen, der uns inhaltlich breiter, methodisch pluraler, transnationaler und transdiziplinärer zu machen scheint, der aber noch nicht abgeschlossen ist. Die disziplinäre Rechtsgeschichte folgt dabei – und das mag auch die von Annette Weinke oben kritisierte »Rückzugsbewegung« erklären helfen – dem Trend zur Globalgeschichte allerdings nicht unbesehen und neigt gegenwärtig auch nicht zum Schreiben einer großen Geschichte, sondern untersucht die großen Fragen anhand klein dimensionierter Forschungsrahmen. Warum tun wir das? Erstens, aber hier kann ich nur für mich sprechen, weil wir globalgeschichtliche oder transnationale Settings nicht immer für geeignet halten (auch wenn sie modisch und drittmittelträchtig wären), und zweitens, weil wir glauben, dass wir für derartige Settings zunächst einmal viele kleinteiligere Vorarbeiten leisten müssen, an denen es häufig mangelt. Beim Lesen globalgeschichtlicher Werke stelle ich jedenfalls nicht selten fest, dass die Perspektive des Rechts entweder weitgehend fehlt (weil entsprechende Aussagen bislang noch nicht auf gesicherter Grundlage gemacht werden können) oder aber Thesen über rechtskulturelle Aspekte formuliert werden, die mir äußerst kühn erscheinen.

Annette Weinke: Grundsätzlich teile ich Martin Löhnigs Kritik, dass sich viele globalgeschichtliche Studien lange um die Bedeutung des Rechts als empirischen Untersuchungsgegenstand und analytische Kategorie herumgedrückt haben. Festzustellen ist aber auch, dass sich dieser Zustand in den letzten Jahren stark verändert hat. Ausschlaggebend für diese Entwicklung erscheint mir einerseits die historiographische Wende in der (Völker-)Rechtswissenschaft, die durch postmoderne Einflüsse und die vermehrte Rezeption der angloamerikanischen Critical Legal Studies bzw. New Approaches to International Law inspiriert ist. Andererseits ist die Thematik der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts im 20. Jahrhundert zu einem fruchtbaren und boomenden Forschungsfeld geworden, wo sich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der Zeitgeschichte und der Rechtswissenschaft geradezu aufzudrängen scheint. Das Muster einer westlichen Erfolgsgeschichte hat sich nach meinem Eindruck weitgehend überlebt, auch wenn sich immer noch geschichtswissenschaftliche Arbeiten finden lassen, die von einem essentialistischen und funktionalisierten Rechtsbegriff ausgehen, wo Normen vor allem als Träger grenzübergreifender, »von oben« gesteuerter Modernisierungsprozesse erscheinen.

Im Gegensatz zu Martin Löhnig kann ich allerdings nicht sehen, warum es für die Umsetzung globalgeschichtlicher Ansätze zunächst »viele[r] kleinteiligere[r] Vorarbeiten« bedarf, die gewissermaßen das empirische Fundament für die dann zu schreibende »große Geschichte« bilden sollen. Sicher wäre ich dagegen, Relevanz durch eine forcierte Transnationalisierung und Globalisierung erzwingen zu wollen. Trotzdem liegt für mich der Mehrwert einer globalen Zeitgeschichte des Rechts in erster Linie in den potentiellen Perspektivenerweiterungen und -verschiebungen sowie in den Vorzügen einer konsequenteren Verbindung von makro- und mikrohistorischer Ebene. Dass dies tatsächlich gelingen kann, zeigt beispielsweise die 2017 erschienene Arbeit des australischen Rechtshistorikers Marco Duranti, der die Genese der Europäischen Menschenrechtskonvention im Lichte partikularer, überwiegend weltanschaulich und religiös motivierter Menschenrechtskonzeptionen betrachtet und dabei zu überraschenden neuen Deutungen gelangt.9

Justin Collings: Ich habe den Eindruck, dass Historiker*innen und Jurist*innen die internationalen bzw. globalen Dimensionen von Recht unterschiedlich bewerten: Histo­riker*innen schreiben ihnen eine weitaus größere Bedeutung zu, als Jurist*innen es tun. Dieser Eindruck ist freilich eher anekdotischer als empirischer Natur und basiert vor allem darauf, dass Historiker*innen und Jurist*innen einander nicht wirklich gut verstehen, wenn es zum Beispiel um Völkerrecht geht. Sie beantworten zwei grundlegende Fragen auf gänzlich andere Weise: Was ist eigentlich »Recht«? Und welches Recht ist »wichtig«? Gerade in der letzteren Frage verweisen Jurist*innen tendenziell eher auf Aspekte der Geltungskraft und Durchsetzbarkeit, Historiker*innen aber offenbar auf andere Kriterien wie die Sichtbarkeit in politischen oder diplomatischen Kontexten oder Überschneidungen mit breiteren intellektuellen und kulturellen Strömungen. Ich erinnere mich an einen Austausch in Yale zwischen einem renommierten Historiker und einem ebenso renommierten Juristen über internationale Menschenrechtserklärungen. Der Historiker hielt sie für eine der wichtigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, der Jurist für bloße Wohlfühlrhetorik – auf jeden Fall nicht für »Recht« in einem juristischen Sinne. Umgekehrt würde sich diese Einschätzung vielleicht auch auf das Urteil über das nationale öffentliche Recht anwenden lassen. Während Jurist*innen das Globale weitgehend übersehen haben, so ignorieren die Historiker*innen inzwischen den Konstitutionalismus in seinen nationalen wie supranationalen Spielarten fast völlig.

Vielversprechender als eine Erweiterung hin zu globalen Perspektiven erscheint es mir deshalb, den Vergleich als methodische Alternative zu stärken. Ich bin mir bewusst, dass Comparative History einen ambivalenten Ruf genießt. Aber die Rechtsvergleichung – und besonders die Verfassungsrechtsvergleichung – bietet verschiedene, bisher weitgehend unerforschte Möglichkeiten zur Historisierung. Außerhalb der USA ist zum Beispiel die Geschichte der Verfassungsrechtsprechung größtenteils unterbelichtet. Ich selbst arbeite derzeit an einer vergleichenden Geschichte der Verfassungsgerichte in Europa seit 1945 und merke immer wieder, wie sehr Vorarbeiten fehlen. Das sollte aber kein unüberwindbares Hindernis darstellen. Paradoxerweise sind heute breite überblicke offenbar gefragter als Einzelstudien, auf die solche über­blicksdarstellungen immer aufbauen wollen (und methodisch sauber vielleicht auch sollten). Doch tatsächlich ist es oft so, dass erst die Überblicke die Augen dafür öffnen, welche Fragen sich für eine spezialisierte Auseinandersetzung lohnen. Das heißt für mich, dass man eine große Gesamtschau gelegentlich auch dann wagen muss, wenn es an detaillierten Einzeluntersuchungen fehlt und man sich noch nicht auf einem perfekt erschlossenen Forschungsfeld bewegt.

Welche Chancen, welche Grenzen sehen Sie für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Jurist*innen und Historiker*innen?

Justin Collings: Ich bin gewissermaßen ein Außenseiter in dieser Diskussion – als US-amerikanischer Rechtswissenschaftler, wenngleich mit einer Promotion in deutscher Geschichte. Mein Interesse gilt den Herausforderungen und Möglichkeiten einer genuin interdisziplinären Zeitgeschichte des Rechts, und zwar einer, die mit gleicher Klarheit und Überzeugungskraft sowohl Jurist*innen als auch Historiker*innen anspricht.

Ich beginne, Max Webers Diktum folgend, mit den materiellen Voraussetzungen der »Rechtsgeschichte als Beruf«. Vor 30 bis 40 Jahren war die berufliche Laufbahn eines akademischen Juristen in den USA einigermaßen klar festgelegt. Man erwarb einen JD (Juris Doctor) an einer namhaften Law School (üblicherweise Harvard oder Yale), absolvierte ein Clerkship bei einem berühmten Richter (idealerweise am US Supreme Court), arbeitete dann einige Jahre in einer Elitekanzlei und wechselte abschließend an die Universität. Schon damals war das keine einfache Karriere, doch seither ist dieser Aufstieg noch etwas steiler geworden. Insbesondere gilt es, weitaus mehr zu veröffentlichen, und dies in renommierten Law Reviews.

Vor 40 Jahren noch selten, sind PhDs an amerikanischen Rechtsfakultäten heute weit verbreitet. Die früher erforderliche juristische Praxis ist weitgehend durch eine Promotion in einem benachbarten Nebenfach – Ökonomie, Politikwissenschaft, Geschichte usw. – ersetzt worden. Das bietet Vorteile, etwa die Gelegenheit zur Publikation wissenschaftlicher Beiträge, und es gilt auch als Ausweis intellektueller Ernsthaftigkeit. Trotzdem weisen US-Universitäten in dieser Hinsicht starre Trennungen auf, und jeder juristische »JD/PhD«-Kandidat muss entscheiden, an welcher Fakultät sie oder er sich auf Stellen bewerben will. Die Entscheidung fällt dabei fast immer zugunsten des Rechts.

Dafür gibt es naheliegende Gründe, die mit der intellektuellen Anziehungskraft des juristischen Faches wenig zu tun haben. Die schlichte Realität ist, dass Jura­professor*innen in den Vereinigten Staaten besser bezahlt werden als viele ihrer Kolleg*innen – und ganz sicher weitaus besser als Historiker*innen. Der Reiz des schnöden Mammons ist leicht zu erklären, sehen sich doch viele Absolvent*innen mit gewaltigen Schulden konfrontiert: Allein die Unterrichtsgebühren an einer prestigeträchtigen Law School belaufen sich auf mehr als $60.000 pro Jahr. Stellt man sich eine Kandidatin mit einem Princeton-BA, einem Harvard-JD und einem Yale-PhD vor, bekommt man eine Vorstellung vom Ausmaß des Problems. Die Entscheidung für eine Karriere in der Rechtswissenschaft ist somit oft eine wirtschaftliche Notwendigkeit.

Das hat Folgen. Wer eine Rechtsprofessur anstrebt, betrachtet die Doktorarbeit nicht als Selbstzweck, sondern als Vorbereitung auf den Law Teaching Market. Man plant die Dissertationskapitel oft als Keimzelle künftiger Law Review Articles. Die Dissertationskomitees werden formal unter dem Vorsitz anderer Disziplinen geführt, in der Praxis aber von jenen Jurist*innen dominiert, die am Ende auch die Kandi­dat*innen auf dem Arbeitsmarkt evaluieren. Das ist wichtig, weil zumindest in den USA die Rechtswissenschaft eine über Aufsätze kommunizierende Disziplin ist, mit hohen Ansprüchen an Gegenwartsbezug und normative, präskriptive Klarheit. Im Unterschied dazu ist die Geschichtswissenschaft eine monographische Disziplin, in der eine zu feste Fixierung auf die Gegenwart als methodologisch verzerrend gilt. Natürlich sind dies Verallgemeinerungen, aber im Schnitt werden Historiker*innen und Jurist*innen von Beginn ihrer Karrieren an trainiert, unterschiedliche Fragen zu stellen und sie in unterschiedlichen Formaten für unterschiedliche Leser*innen zu beantworten.

Dies alles macht die Zusammenarbeit knifflig. Das Problem verschlimmert sich bei Nachwuchswissenschaftler*innen, die sich noch etablieren müssen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist dabei nicht immer hilfreich. Der Ansporn, etwas Interessantes auf befriedigende Art und Weise auch Vertreter*innen anderer Disziplinen mitzuteilen, ist immer schwächer als das Erfordernis, die eigenen Fachkolleg*innen zu beeindrucken. Dass der Erwerb einer echten disziplinären »Doppelstaatsangehörigkeit« überdies enorme Arbeit voraussetzt, braucht man an dieser Stelle wohl kaum zu betonen. In der Literatur nur eines Faches auf dem Laufenden zu bleiben, kann eine demoralisierende Sisyphosarbeit sein; mit zwei Fächern fühlt man sich wie Sisyphos mit zwei Steinen. Es wäre daher sinnvoll, die Anstrengungen der Historiker*innen und der Jurist*innen zu vereinen. Ihre unterschiedlichen Fachkenntnisse könnten sich bestens ergänzen und gegenseitig bereichern. Und erst zusammen könnten sie die riesige Empirie sinnvoll be- und verarbeiten und voneinander lernen.

Doch bleiben immer noch praktische Schwierigkeiten. Neben dem genannten Karriererisiko ist nicht zu übersehen, dass sich Historiker*innen und Jurist*innen oft kaum oder gar nicht kennen. Ich muss selbst eingestehen, dass mir die Geschichtsfakultät meiner eigenen Universität nur wenig vertraut ist. Hinzu kommt, dass gemeinsame Veröffentlichungen unter US-amerikanischen Akademiker*innen immer noch skeptisch betrachtet werden. Das Ideal des solitären Forschers, der seine Ideen und Schriften in großer Freiheit und Einsamkeit hervorbringt, scheinen Histori­ker*innen mit Jurist*innen zu teilen. Der Druck – zumindest pre-tenure –, allein zu forschen und zu schreiben, ist groß.

Groß, aber vielleicht nicht unüberwindbar. Ich bin zuversichtlich, dass gute Arbeit jeder Art am Ende von den Kolleg*innen anerkannt wird. Meines Erachtens wird intensivere Zusammenarbeit nicht zuletzt die Chancen erhöhen, originelle Werke zu produzieren – und zwar in beiden Fächern. Wie könnte eine solche Zusammenarbeit aussehen? Die Möglichkeiten sind fast grenzenlos. Ich schlage nur zwei Richtungen vor: eine, die auf die Historiker*innen zielt, und eine zweite, die sich an die Jurist*innen wendet. Erstens sollte eine kooperative Zeitgeschichte des Rechts anerkennen und unterstreichen, dass das Recht immer noch eine (wie auch immer beschränkte) eigene Existenz führt, mithin dass es ein life of the law gibt.10 Dies bedeutet, die Eigentümlichkeiten des Rechts und die Mentalitäten der Jurist*innen ernstzunehmen und die technischen, fachspezifischen, ja: langweiligen Aspekte des Rechts nicht zu ignorieren, sondern sie für ein breiteres Publikum anschaulich zu übersetzen. Zweitens sollte eine gemeinsame Zeitgeschichte des Rechts auch eine rechtliche Zeitgeschichte sein – und das heißt, sie sollte danach streben, nicht nur das gegenwärtige Recht historisch zu erklären, sondern die gegenwärtige conditio humana überhaupt besser zu verstehen. Die Historiker*innen müssen also ihren Blick vertiefen, die Jurist*innen den ihrigen erweitern. Dies ist sicher etwas allgemein und unpräzise, ohne Beispiele oder klare Grundsätze formuliert – mit Absicht. Meine Anmerkungen sollten eher suggestiv als präskriptiv verstanden werden. Schließlich muss ich selbst zugeben, nie mit Historiker*innen zusammengearbeitet zu haben und auch keine entsprechenden Pläne für die nähere Zukunft zu hegen. Trotzdem glaube ich, dass die Hürden überwindbar sind – wenngleich vielleicht erst auf einer unbefristeten Stelle.

Martin Löhnig: Die Möglichkeiten sind in der Tat fast grenzenlos, doch wie könnte man die Zusammenarbeit ins Werk setzen? Im Zentrum stehen in meinen Augen gegenwärtig nicht Institutionen, sondern einzelne Personen. Wissenschaftler*innen, die im Rahmen ihrer Forschungsarbeit Werke aus der jeweiligen Nachbardisziplin auf ihrem Arbeitsfeld zur Kenntnis genommen haben und neugierig geworden sind, dabei aber auch die Begrenztheit des eigenen Arbeitens erfahren haben. Wenn Histo­riker*innen und Rechtshistoriker*innen zusammenkommen, denen es so ergangen ist, dann kann die Arbeit allerdings noch lange nicht beginnen. Es bedarf vieler Gespräche und einer schrittweisen Annäherung, damit man zu verstehen beginnt, wie die anderen forschen: welche Fragen sie stellen, welche Quellen sie als Grundlage für die Suche nach einer Antwort heranziehen, wie sie mit diesen Quellen umgehen. Gemeinsame Seminare oder Workshops können dabei hilfreich sein. Vieles bleibt also gegenwärtig dem Zufall überlassen, allein das MPI in Frankfurt a.M. ist möglicherweise ein Ort, an dem sich dem Zufall etwas nachhelfen lässt.

Das größte Hindernis scheinen die von Justin Collings beschriebenen Wissenschaftskulturen zu sein. Wer in Deutschland einen erfolgversprechenden Weg zu einem rechtshistorischen Lehrstuhl einschlagen möchte, sollte oben Beschriebenes vor seiner Berufung tunlichst unterlassen und den Blick auf das geltendrechtliche Pflichtprogramm richten. Denn ebenso wie in den USA sind es in aller Regel allein geltendrechtlich tätige Jurist*innen, die in den Berufungskommissionen entscheiden und einen Rechtshistoriker suchen, der auch im geltenden Recht einsetzbar ist – was aus ihrer Perspektive verständlich ist, denn die Pflichtveranstaltungen im Staatsexamensstudiengang müssen eben angeboten werden. Die Mitglieder der Kommissionen schauen also auf die Examensnoten und auf die Veröffentlichungen zum geltenden Recht, mit der Folge, dass es einigen Kolleg*innen, die auf dem Feld der Rechtsgeschichte Hervorragendes geleistet haben, nicht gelungen ist, auf einen Lehrstuhl an einer deutschen Universität berufen zu werden. Eine Expertise im geltenden Recht ist m.E. für einen Rechtshistoriker sehr sinnvoll, die gegenwärtige Situation erscheint jedoch unbefriedigend.

Annette Weinke: Gemeinsames Ziel von rechtsgeschichtlich arbeitenden Zeithistori­ker*innen und von Rechtshistoriker*innen sollte es sein, die theoretisch-methodische Debatte über eine »integrative, rechtsgeschichtlich sensibilisierte« Geschichtsschreibung am Material und im interdisziplinären Dialog voranzutreiben, wie Daniel Siemens es vorzüglich programmatisch dargelegt hat.11 Angesichts der fortschreitenden Europäisierung und Internationalisierung des Rechts sowie einer nationale Räume transzendierenden »Logik der Rechte« (Thomas Piketty) gibt es mehr als genug Themen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Vielleicht wäre dies auch ein Unternehmen, mit dem man dem geschichtsabstinenten juristischen Nachwuchs die Relevanz rechtsgeschichtlicher Fragen vor Augen führen könnte.

Lena Foljanty: Meine Erfahrung ist, dass man sich vor allem über Erkenntnisinteressen und Fragen austauschen muss, um eine gemeinsame Kommunikationsbasis zu schaffen. In diesen Grundausrichtungen kann es erhebliche Unterschiede geben. Man muss um sie wissen und auf dieser Basis ausloten, was möglich ist. Nicht immer ist eine echte Zusammenarbeit möglich – es mag auch sein, dass die Interessenrichtungen (zu) unterschiedlich sind und das Verbindende daher nur ausreicht für eine Diskussion, die im besten Fall beide Seiten inspiriert. Gibt es eine Basis für eine echte Zusammenarbeit, so setzt diese voraus, dass sich die Beteiligten ernsthaft aufeinander einlassen – die Kriterien, die Justin Collings hierfür benannt hat (das beidseitige Ernstnehmen eines life of the law und ein Interesse am vertieften Verständnis der conditio humana), finde ich sehr treffend. Das Projekt, in dem mir interdisziplinäre Zusammenarbeit bisher am besten geglückt ist, war übrigens eines, bei dem die Rollen und damit auch bestimmte Zuständigkeiten ganz klar verteilt waren – ich als Juristin und mein Kollege als Zeithistoriker.

Wie Martin Löhnig schreibt, ist das MPI in Frankfurt a.M. tatsächlich ein Ort, an dem die Voraussetzungen für interdisziplinäre Zusammenarbeit in fast idealer Weise gegeben sind. Etwa die Hälfte meiner Kolleg*innen kommt aus der Geschichtswissenschaft, einige stammen aus der Soziologie bzw. der Anthropologie. Und aufgrund der Internationalität ist auch die Gruppe der Jurist*innen in ihrem Zugriff auf das Recht sehr heterogen. Die tägliche Zusammenarbeit zeigt, wie produktiv die Pluralität der Ansätze sein kann. Dass alle Seiten »rechtsgeschichtlich sensibilisiert« sein müssen, wie Annette Weinke es fordert, ist eine selbstverständliche Voraussetzung. Eine solche Sensibilität ist unentbehrlich, auch wenn ein Projekt nicht einem genuin rechtshistorischen Erkenntnisinteresse folgt, sondern juristische Quellen zum Beispiel für politik- und sozialgeschichtliche Zwecke analysiert. Für rechtshistorische Fragen im engeren Sinne ist mir allerdings eine »rechtsgeschichtlich sensibilisierte Geschichtsschreibung« zu wenig – unabhängig davon, ob die Arbeiten aus der Feder von Historiker*innen oder Jurist*innen stammen.


Anmerkungen:

1 Thomas Duve, Ein fruchtbarer Gärungsprozess? Rechtsgeschichtswissenschaft in der Berliner Republik, in: ders./Stefan Ruppert (Hg.), Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, Berlin 2018, S. 67-120, hier S. 94f.

2 Derartige Qualifikationsdebatten mit dem Wunsch nach formaler Ausbildung gibt es auch in anderen Grenzdisziplinen der Geschichtswissenschaft wie der Medizingeschichte; in der Rechtsgeschichte scheinen sie jedoch mit besonderer Intensität geführt zu werden.

3 Bernhard Schlink, Die Kultur des Denunziatorischen, in: Merkur 65 (2011), S. 473-486.

4 Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Tübingen 1968, 8. Aufl. 2017.

5 Peter Oestmann, Normengeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Praxisgeschichte. Drei Blickwinkel auf das Recht der Vergangenheit, Max Planck Institute for European Legal History Research Paper Series No. 2014-06; siehe dazu die Debatte in Rechtsgeschichte/Legal History 23 (2015).

6 Stephan Hobe/Barbara Dauner-Lieb, Zukunftsfähig? Die Juristenausbildung in Deutschland, in: Forschung & Lehre 25 (2018), S. 314-316.

7 Helene Bubrowski/Alexander Haneke, Eichmann? Nie gehört, in: FAZ Einspruch, 4.4.2018.

8 Michael Stolleis, Der geschichtsblinde Jurist ist gefährlich. Warum es nicht genügt, das geltende Recht zu kennen. Forderungen an das Studium, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.1.1996, S. 29.

9 Marco Duranti, The Conservative Human Rights Revolution. European Identity, Transnational Politics, and the Origins of the European Convention, New York 2017.

10 Oliver Wendell Holmes, The Common Law, Boston 1881, S. 1.

11 Daniel Siemens, Towards a New Cultural History of Law, in: InterDisciplines 3 (2012) H. 2, S. 18-45, hier S. 18.

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