
The Place of Sugar in Modern History,
New York: Viking 1985/Penguin Books 1986;
dt.: Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers.
Aus dem Englischen von Hanne Herkommer, Frankfurt a.M.: Campus 1987/92;
Neuaufl. mit einem aktuellen Nachwort des Autors, Frankfurt a.M.: Campus 2007.
Die Seitenangaben der Zitate im Text folgen der deutschen Erstausgabe von 1987.
Das englische Cover zeigt ein britisches Bild von 1823
mit Sklaven bei der Zuckerernte,
das deutsche Cover eine exotisierende französische Darstellung von 1722,
die als Schwarzweiß-Motiv auch in Mintzʼ Bildteil enthalten war.
Sidney Mintzʼ »Kulturgeschichte des Zuckers« ist längst ein Klassiker. Mintz (1922–2015) charakterisierte das Buch als Ergebnis einer langjährigen »Erforschung der Geschichte der Karibik und derjenigen tropischen, vornehmlich landwirtschaftlichen Produkte […], die mit der ›Entwicklung‹ dieser Region seit ihrer Eroberung durch die Europäer fest verknüpft sind« (S. 11). Ihn habe interessiert, wie und warum Europäer und Nordamerikaner zu Konsumenten karibischer Erzeugnisse wurden. »Und wenn man versucht«, so die programmatische Formulierung, »Konsumption und Produktion, Kolonie und Metropole zusammenzubringen, dann geschieht es leicht, daß man die eine oder die andere – den ›Mittelpunkt‹ oder den ›Außenrand‹ – nicht mehr so richtig scharf sieht.« (S. 13)1
Mintzʼ Studie wurde für Zucker- und Konsumgeschichten2 im engeren Sinn oder für die Ernährungs- und jüngere Stoffgeschichte3 ebenso zu einem wichtigen Referenzwerk wie für Arbeiten zur Geschichte des globalen Kapitalismus4 und des Kolonialismus – sofern letztere sich nicht auf Kolonialpolitikgeschichte reduzieren, sondern auf das Verständnis der Strukturen und Dynamiken einer »kolonialen Moderne« als sozialer, ökonomischer und kultureller Formation zielen (oder eben: einer »karibischen Moderne«5). »Die süße Macht« steht für eine postkoloniale Geschichtsschreibung, die sich – anders als spätere Arbeiten, deren Fokus stärker auf Repräsentationen oder Identitäten lag – an der Prägekraft eines sich globalisierenden Kapitalismus abarbeitet und »die ökonomischen Rückwirkungen der kolonialen Expansion« ins Zentrum rückt.6
![Sugar Shipping Conference in Georgetown, Britisch-Guayana, 1958. Die »karibische Moderne« wurde auch am Schreibtisch hervorgebracht: inmitten von Globen und Weltkarten, hier in der Zentrale von Booker Brothers, McConnell & Company, Zuckermonopolist auf Britisch-Guayana und multinationales Handelsunternehmen. (National Media Museum/SSPL/Süddeutsche Zeitung Photo; Foto: Walter Nurnberg [1907–1991]) Sugar Shipping Conference in Georgetown, Britisch-Guayana, 1958. Die »karibische Moderne« wurde auch am Schreibtisch hervorgebracht: inmitten von Globen und Weltkarten, hier in der Zentrale von Booker Brothers, McConnell & Company, Zuckermonopolist auf Britisch-Guayana und multinationales Handelsunternehmen. (National Media Museum/SSPL/Süddeutsche Zeitung Photo; Foto: Walter Nurnberg [1907–1991])](https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/static/2024-25-1/Luks/Luks_012425_Abb_02.jpg?width=1168&height=1200)
hier in der Zentrale von Booker Brothers, McConnell & Company, Zuckermonopolist auf Britisch-Guayana und multinationales Handelsunternehmen.
(National Media Museum/SSPL/Süddeutsche Zeitung Photo;
Foto: Walter Nurnberg [1907–1991])
In einem Gespräch aus dem Jahr 2006 wies Mintz auf seine »generally Marxist orientation« hin. Der US-amerikanische, an der Columbia University ausgebildete Forscher präsentierte sich als interessierter Leser der britischen Sozialanthropologie und widmete sich aus dieser Perspektive einer historisch-materialistischen Analyse kultureller Phänomene, die die materielle Bedingtheit von »Kultur« ebenso in den Blick nahm wie die Rückwirkungen dieser Kultur auf ihre materiellen Voraussetzungen.7 Angesprochen auf seine Skepsis gegenüber den jüngeren Cultural Studies, warnte Mintz davor, diese zu einer »grab-bag discipline for people mostly in the nonhistorical humanities« zu machen, während er die frühen Studien zur Kultur der britischen Arbeiterklasse explizit würdigte.8 »Die süße Macht«, das sollte man sich vergegenwärtigen, steht in einer Forschungs- und Theorietradition, die inzwischen – leider – erheblich an Einfluss verloren hat.
Das Buch rekonstruiert die »karibischen Zuckerindustrien«9 entlang ihrer »Entwicklungsschritte von den alten zu modernen Produktionsweisen« (S. 19). Mintz begriff die »insulären Pflanzungen« als »europäische Erfindung« und »überseeische Experimente Europas« (S. 20f.). Seine These einer parallellaufenden außereuropäischen und europäischen Geschichte ermöglichte einen neuen Blick auf die Geschichte des globalen Kapitalismus, der Industriellen Revolution sowie der Entstehung der (englischen) Arbeiterklasse. Nichts bringt das prägnanter zum Ausdruck als die fast schon poetischen und daher oft zitierten Schlusssätze des Buches: »Die erste Tasse gesüßten heißen Tees, die von einem englischen Arbeiter getrunken wurde, war ein bedeutsames historisches Ereignis, weil es die Transformation einer ganzen Gesellschaft, eine völlige Neugestaltung ihrer ökonomischen und sozialen Basis urbildhaft vorwegnahm. Die Konsequenzen dieser und ähnlicher Geschehnisse gilt es zu durchdringen und in vollem Umfang zu begreifen, denn auf ihnen gründet eine völlig neue Konzeption vom Verhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten, von der Bedeutung der Arbeit, der Definition des Ichs und von der Natur der Dinge. Was Waren sind und was sie bedeuten, war danach für immer etwas anderes. Der gleiche Wandel betraf den Menschen: was Menschen sind und was es bedeutet, ein Mensch zu sein, war danach etwas anderes. Indem wir das Verhältnis von Ware und Mensch begreifen, entdecken wir unsere Geschichte, die Geschichte von uns selbst, neu.« (S. 250)
Einerseits lenkte Mintz die Aufmerksamkeit auf die parallele Herausbildung des Systems freier Arbeit in England und des auf Zwangsarbeit beruhenden Plantagensystems in der Karibik. Er analysierte die Plantagen als »Synthese aus Feld und Fabrik« (S. 76), und darin lag die konkrete Bedeutung der Karibik als Experimentierfeld in Sachen Sozial- und Betriebsorganisation. Noch bevor sich entsprechende Entwicklungen in Europa zeigten, war der britische Pflanzer in den Kolonien ein »kombinierter Farmer-Fabrikant« (S. 78; dort in Anführungszeichen).10 Die in seinen Händen gebündelte »Gesamtkontrolle über Feld und Mühle« (S. 79) war Voraussetzung für Disziplin und Planung. Gleichzeitig wiesen die Zusammensetzung der Arbeitskraft (gelernte, angelernte und ungelernte Arbeiter, die in hohem Maß austauschbar waren) sowie ein eng getaktetes, strenges Zeitregime auf den Plantagen in Richtung moderner Fabrikregime.11 »Es mag«, schrieb Mintz, »dem Abendland so erscheinen, als stehe die Sache auf dem Kopf, wenn es seine Fabriken anderswo und in einer so frühen Geschichtsperiode entdecken soll. Aber die Zuckerrohrpflanzung vermag sich allmählich Anerkennung zu verschaffen als eine ungewöhnliche Mixtur aus landwirtschaftlichen und industriellen Betriebsformen, und ich bin der festen Überzeugung, daß sie es war, die von allen für das 17. Jahrhundert typischen Wirtschaftsformen der Industrie am nächsten kam.« (S. 77)
Andererseits ging Mintz das Problem der Industriellen Revolution und der Entstehung der englischen Arbeiterklasse mittels Rekonstruktion sich wandelnder Muster des Zuckerkonsums an. Entscheidend waren ein neues Verständnis des Zuckers als Süßstoff und Kalorienquelle (und nicht mehr als »Gewürz«) auf der einen sowie die Diffusion des Verbrauchs auf der anderen Seite. Diente Zucker lange der sozialen Distinktion der Oberschicht, so wurde er schrittweise zum Massenkonsumprodukt. Mintz betonte die Bedeutung etwa der durch Zuckereinsatz haltbar gemachten Fruchtkonserven oder des Marmeladenbrotes für die Versorgung der arbeitenden Klassen, vor allem aber die Verbindung von Zucker mit Tee, Kaffee und Kakao als einer wahrhaft englischen Erfindung. Ein »warmes süßes Getränk« war nicht nur angesichts einer dürftigen Kost willkommen. Der Einsatz von »Zucker und seinen Nebenprodukten« passte auch zum »Fabriksystem mit seiner Implikation von Zeitersparnis und den schlecht bezahlten, aber erschöpfenden Tätigkeiten für Frauen und Kinder« (S. 161). Mintzʼ Argument zielte auf die Verknüpfung englischen Konsums und kolonialer Produktion. Tabak, Tee und Zucker, so spitzte er zu, erhöhten die Produktivität englischer Arbeitskräfte und trugen damit »wesentlich zum Ausgleich der Gesamtbilanz der kapitalistischen Länder und des Kapitalismus bei, insbesondere als dieser sich im Lauf der Zeit durch die Integration des kolonialen Sektors immer mehr entfaltete« (S. 179). Nicht nur die auf den Pflanzungen erwirtschafteten und in die Industrie des Mutterlandes reinvestierten oder die im Anschluss daran aus dem Verkauf von Fertigwaren in die Kolonien gezogenen Profite trugen zur letztlich doch sehr ungleichen Bilanz bei. Vielmehr seien es auch »der Zucker und andere Betäubungsmittel« gewesen, die, »indem sie Land- und Fabrikarbeiter verproviantierten, satt machten – und tatsächlich auch betäubten –, die Gesamtkosten für die Schaffung und die Reproduktion des städtischen Proletariats entscheidend verringerten« (S. 214).
Gegenüber der wirkmächtigen Neuperspektivierung von Kolonialismus, Kapitalismus und Industrieller Revolution ist nun allerdings ein anderes Anliegen in den Hintergrund geraten, obwohl Mintz es in seinem Buch stark gemacht hatte: die Zusammenarbeit von Anthropologie und Geschichtswissenschaft und damit die Frage nach den theoretisch-methodischen Grundlagen einer Historischen Anthropologie. In einem 2014 veröffentlichten Interview formulierte Mintz rückblickend: »I think of anthropology as the daughter of history. It seems to me that while [my colleague Eric R.] Wolf and I were both historical in outlook, we also saw dimensions of history that anthropology was well equipped to address on its own.«12
Mitte der 1980er-Jahre war dies ein durchaus neues und begründungsbedürftiges Unterfangen. Das begann bereits mit dem Begriff »Anthropologie«, dem in der deutschen Ausgabe eine zusätzliche Fußnote gewidmet wurde. Darin erläuterte Hanne Herkommer, die Übersetzerin: »Ausgehend von der Überlegung, daß historische, ethnologische und anthropologische Reflexionen zusammengehören und erst in ihrer Einheit eine fruchtbare empirische Erforschung der menschlichen Sozialgeschichte wie auch der Sozialgeschichte des Zuckers ermöglichen, verwendet Mintz den Begriff Anthropologie – ganz in Übereinstimmung mit seinem wissenschaftlichen Gebrauch in den USA – in einer sehr weiten Bedeutung. Sie schließt Ethnologie, Kulturanthropologie und Völkerkunde mit ein. Um den Ideen des Autors in der Übersetzung gerecht zu werden, übernehme ich diese weite Definition von Anthropologie ins Deutsche und strapaziere den Begriff über seine hierzulande übliche Bedeutung hinaus, so daß für Anthropologie bisweilen ›Sozialgeschichte‹ steht und auch eine ›Anthropologie des modernen Lebens‹ möglich wird.« (S. 23, Anm. d. Übers., dortige Hervorhebung.)
Letzteres – eine »Anthropologie des modernen Lebens«, allerdings in explizit historischer Perspektive – war Mintzʼ erklärtes Programm. »Nehmen wir an«, so führte er aus, »daß in dem Versuch, eine Anthropologie der Gegenwart zu konzipieren, ein gewisser Sinn liegt und daß wir dazu Gesellschaften untersuchen müssen, denen die Merkmale fehlen, die üblicherweise mit den sogenannten primitiven assoziiert werden.« (S. 25) Abgesehen von der wunderschönen Ironie, dass hier – in Umkehrung der traditionellen Perspektive – moderne und eben nicht »primitive« Gesellschaften über einen Mangel definiert wurden, forderte Mintz eine Beschäftigung mit »prosaischen« Themen (wie einem allgegenwärtigen Nahrungsmittel), statt sich lediglich »auf marginale oder außergewöhnliche Enklaven in modernen Gesellschaften zu konzentrieren: auf ethnische Gruppen, exotische Berufe, kriminelle Elemente, den ›Untergrund‹, die ›Subkultur‹ etc.« (ebd.). Das hat nicht alle überzeugt. Etwas ratlos angesichts der thematischen Fülle und des unklaren Genres (»an odd, odd book«) hielt ein Rezensent »Sweetness and Power« für das Symptom einer Anthropologie, die ihren traditionellen Forschungsgegenstand (»peoples«) irgendwie verloren habe und deren disziplinäre Identität sich zunehmend auflöse.13
Die selbstreflexive Wende der Anthropologie, die sich seit den 1970er-Jahren in unterschiedlichen Kontexten zeigte,14 ging bei Mintz mit dem Insistieren darauf einher, dass »soziale Phänomene […] ihrer Natur nach historisch« seien, »was bedeutet, daß die Beziehungen zwischen Geschehnissen in einem bestimmten ›Moment‹ niemals von ihren vergangenen und zukünftigen Bedingtheiten losgelöst betrachtet und verstanden werden können. Argumentationen über eine immanente menschliche Natur, über die dem Menschen innewohnende Fähigkeit, der Welt ihre charakteristischen Strukturen zu verleihen, sind nicht notwendig falsch; aber wenn diese Argumentationen an die Stelle von Geschichte treten oder sie einfach umgehen, dann sind sie unzulänglich und führen in die Irre. Menschen schaffen tatsächlich soziale Strukturen, und sie versehen tatsächlich Geschehnisse mit Sinn und Bedeutung; aber diese Strukturen und Bedeutungen haben einen historischen Ursprung, der eben diese Schaffenskraft der Menschen prägt, ihr Grenzen setzt und sie erklären hilft.« (S. 28) Mit dieser programmatischen Passage endet die Einleitung.
Mintz war mit seinem Bemühen um eine Historische Anthropologie an der Wende zu den 1980er-Jahren nicht allein. Der niederländische Sozialanthropologe Anton Blok, um ein prominentes Beispiel aus einem anderen Forschungsfeld zu nennen, entwarf in seiner einflussreichen Studie zur Mafia in einem sizilianischen Dorf ein ähnliches Programm. Im Anschluss an Norbert Elias plädierte Blok dafür, langfristige Dynamiken und Prozesse zu untersuchen – »Konfigurationen«, die nicht aus ihrem aktuellen Zustand, sondern nur aus ihrem Gewordensein heraus verständlich seien. Blok ging es um »Querverflechtungen in der Zeit« und eine »dynamische Konzeptualisierung von Gesellschaft, bei der die Struktur des Wandels in den Mittelpunkt rückt«.15 Die Arbeiten von Blok und Mintz – es handelt sich nur um zwei Beispiele – waren ein entschiedenes Kooperationsangebot an die Geschichtswissenschaft, namentlich an die Sozialgeschichte. Dieses Angebot wurde angenommen; in der Bundesrepublik allerdings gerade nicht von jenen, die sich um die Etablierung einer modernen Sozialgeschichte bemühten. Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft Bielefelder Prägung brachen lieber Abgrenzungskämpfe vom Zaun und provozierten eine Abspaltung historisch-anthropologischer Perspektiven von der Sozialgeschichte.
Der Mikrohistoriker Hans Medick hat Mintzʼ »Kulturgeschichte des Zuckers« früh gewürdigt. In einem mittlerweile klassischen Text lenkte er die Aufmerksamkeit auf »kulturanthropologische Perspektiven, wie sie jenseits von Strukturalismus und Funktionalismus entwickelt wurden«.16 Medick hob hervor, dass »sich seit einer Reihe von Jahren bei einer wachsenden Zahl von Ethnologinnen und Ethnologen ihrerseits eine entschiedene Hinwendung zu historisch gerichteten Arbeiten und Analysen vollzieht«.17 Er plädierte für die Erforschung von »schichten- und klassenspezifisch geprägten, regional und lokal bestimmten kulturellen Lebensweisen«, die »nicht als abgeschlossene Mikrowelten in sich ruhen, sondern stets auch nach außen orientiert und von außen beeinflußt, häufig auch von außen beherrscht sind«.18 Beispielhaft für die gelungene Umsetzung eines solchen Programms führte er Mintzʼ Studie an. Diese leiste nicht nur eine »Darstellung der untrennbaren Zusammenhänge von Alltagsgeschichte und Weltgeschichte seit dem Entstehen des modernen kapitalistischen Weltsystems«, sondern zeige darüber hinaus, dass »die fremden, häufig gewaltsamen Dimensionen der ›großen‹ Geschichte nicht fern von der Geschichte des Alltags sind, häufig sogar deren vergessener und verdrängter Teil«.19
Mintz’ Entwurf einer Historischen Anthropologie zielte tatsächlich auf die Verbindung von Mikro- und Makroebene, auf die Zusammenhänge von Strukturen und Lebenswelten sowie auf die soziale und kulturelle Einbettung individueller Sinn- und Bedeutungsproduktion. Die Geschichte des Zuckers war dabei auf Fragen der Ernährungsweise bezogen. Mintz ging davon aus, dass in nahezu allen bekannten Gesellschaften ein grundlegendes Muster existiere: Im Zentrum stünden stets Anbau und Verzehr eines »speziellen komplexen Kohlehydratträgers, also etwa von Mais, Kartoffeln, Reis, Hirse oder Weizen«, während alles andere gegenüber dieser »Hauptspeise« als zweitrangig, beigeordnet usw. charakterisiert werde. »Dieses geschickte Einbetten eines Kerns aus komplexen Kohlehydraten in eine schmackhaft-aromatisch ihn ergänzende ›Umrandung‹ stellt ein Grundmuster der menschlichen Ernährung dar […].« (S. 35f.) Demgegenüber bedeuteten Aufstieg und Verbreitung von Zucker (und Fett) einen fundamentalen Bruch. Etwas so Unscheinbares wie das Marmeladenbrot auf dem Frühstückstisch englischer Arbeiterklassefamilien unterhöhlte ein über Jahrhunderte stabiles und weltweit etabliertes Muster (S. 157).
Mit dem skizzierten Zuschnitt steht Mintzʼ Studie für ein inzwischen selbst historisches und wohl aus der Mode gekommenes Verständnis Historischer Anthropologie, deren Entwicklung zugunsten einer bestimmten Auffassung von Kulturgeschichte ökonomisch grundierte Macht- und Herrschaftsverhältnisse etwas aus dem Blick verloren hat. Bei ihrem Erscheinen war das anders. Mintzʼ Interesse an Ernährungsweisen spiegelt ziemlich direkt das Interesse an Produktions- und Reproduktionsweisen, das in den 1970er- und 1980er-Jahren zahlreiche Anthropolog:innen teilten.20 Das geschichtswissenschaftliche Gegenstück – oder besser: der Dialogpartner – wäre etwa in den Diskussionen um Feudalismus oder Protoindustrialisierung zu suchen, die zur Konkretisierung einer Historischen Anthropologie erhebliche Impulse gaben. Neben der systematischen Verknüpfung von Fragen nach Eigentumsverhältnissen, Familienformen und alltäglichen Lebensweisen (einschließlich sich wandelnder Konsumpraktiken und Konsummuster) ging es in verschiedenen Kontexten um die Konturierung eines fundamentalen Bruchs und tiefen Einschnitts, an dem sich der Übergang zu modernen Gesellschaften als spezifischen Sozialformationen festmachen ließ.
In der Zeitgeschichte haben diese Perspektiven nie besonders viel Resonanz erzeugt, auch wenn es Anzeichen gibt, dass sich das zu ändern beginnt. Aber auch innerhalb der Historischen Anthropologie sind sie in dem Maß ins Hintertreffen geraten, wie diese sich zu einer diffusen Kulturgeschichte wandelte – auf Kosten des »kritischen Impulses«, der dem Projekt, wie die Schweizer Historikerin Caroline Arni 2018 noch einmal betont hat, initial eigen war: nämlich das Ziel, »vermeintlich Naturhaftes« zu vergeschichtlichen.21 Bei Sidney Mintz war Historische Anthropologie weit mehr als ein Container für irgendwie Kulturgeschichtliches. »Sweetness and Power« zielte explizit auf eine Erschließung politischer und ökonomischer Machtverhältnisse.
Anmerkungen:
1 Zum Entstehungskontext und zur Genese der Arbeit siehe Charles V. Carnegie, The Anthropology of Ourselves. An Interview with Sidney W. Mintz, in: Small Axe. A Caribbean Journal of Criticism 10 (2006) H. 1, S. 106-179; Jonathan T. Thomas, And the Rest Is History. A Conversation with Sidney Mintz, in: American Anthropologist 116 (2014), S. 497-510.
2 Zuletzt: Ulbe Bosma, The World of Sugar. How the Sweet Stuff Transformed Our Politics, Health, and Environment over 2,000 Years, Cambridge, Mass. 2023.
3 Siehe etwa den entsprechenden Band der Reihe »Stoffgeschichten« im oekom-Verlag: James Walvin, Zucker. Eine Geschichte über Macht und Versuchung. Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher und Claus Varrelmann, München 2020.
4 Zur Verortung von Mintz in diesem Kontext: Friedrich Lenger, Die neue Kapitalismusgeschichte: ein Forschungsbericht, in: ders., Globalen Kapitalismus denken. Historiographie-, theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Studien, Tübingen 2018, S. 1-48.
5 Im Detail: David Scott, Modernity that Predated the Modern. Sidney Mintz’s Caribbean, in: History Workshop Journal 58 (2004), S. 191-210.
6 Sebastian Conrad/Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: dies. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-49, hier S. 27f. Es steckt eine gewisse Ironie darin, dass Conrad und Randeria den Status von Mintzʼ Studie als Referenzwerk dazu benutzen, um den an die Postcolonial Studies gerichteten Kulturalismusvorwurf zu relativieren – nur um dann nahezu ausschließlich Fragen kultureller Repräsentation, (post-)kolonialer Identitäten und Wissensordnungen zu diskutieren.
7 Vgl. Carnegie, Anthropology of Ourselves (Anm. 1), S. 135-139.
8 Ebd., S. 174f. Als eine aufschlussreiche Diskussion der Relevanz dieser Forschungen für die Sozial- und Kulturanthropologie siehe Douglas E. Foley, Does the Working Class Have a Culture in the Anthropological Sense?, in: Cultural Anthropology 4 (1989), S. 137-162.
9 Der in der Beschäftigung mit der Geschichte des Zuckers dominierende Fokus auf den westlichen Atlantik ist jüngst relativiert worden; siehe etwa die auf den Pazifik konzentrierten Beiträge in Historische Anthropologie 27 (2019) H. 3: Transplantation, hg. von Martin Dusinberre und Mariko Iijima.
10 Dazu insgesamt jetzt auch Friedrich Lenger, Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München 2023, S. 98-113.
11 Mintz bezog sich in diesem Zusammenhang selbstredend auf Edward P. Thompson, Time, Work-Discipline, and Industrial Capitalism [1967], in: ders., Customs in Common. Studies in Traditional Popular Culture, New York 1991, S. 351-403; siehe dazu auch Timo Luks, neu gelesen: Edward P. Thompson, in: WerkstattGeschichte 82 (2020), S. 151-155.
12 Thomas, And the Rest Is History (Anm. 1), S. 503.
13 Walter L. Goldfrank, Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History by Sidney W. Mintz (Review), in: Theory and Society 16 (1987), S. 640-641.
14 Vgl. Timo Luks, Die Ökonomie der Anderen. Der Kapitalismus der Ethnologen – eine transnationale Wissensgeschichte seit 1880, Tübingen 2019, S. 19-23. Siehe auch die Einleitung zu diesem Themenheft.
15 Anton Blok, Die Mafia in einem sizilianischen Dorf 1860–1960. Eine Studie über gewalttätige bäuerliche Unternehmer. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach, Frankfurt a.M. 1981, S. 11-13.
16 Hans Medick, »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 296-319; überarbeitet in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M. 1989, S. 48-84, hier S. 49. Zu Medicks Werdegang und Interessenschwerpunkten siehe Hans Medick, Begegnungen, Nach-Denken, Geschichtsarbeit. Auf dem Weg zur Mikrohistorie und Historischen Anthropologie, in: Christof Dipper/Heinz Duchhardt (Hg.), Generation im Aufbruch. Die Geschichtswissenschaft in Deutschland im Spiegel autobiographischer Porträts, Köln 2024, S. 255-271.
17 Medick, »Missionare im Ruderboot«? (Anm. 16), S. 52.
18 Ebd., S. 63.
19 Ebd., S. 69.
20 Siehe im Detail: Luks, Ökonomie der Anderen (Anm. 14), S. 94-97.
21 Caroline Arni, Nach der Kultur. Anthropologische Potentiale für eine rekursive Geschichtsschreibung, in: Historische Anthropologie 26 (2018), S. 200-223, hier S. 201.
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