»Ganz unten«

Günter Wallraff und der westdeutsche (Anti-)Rassismus der 1980er-Jahre

  1. Ein Erfolgsbuch
  2. Den Erfolg erklären
  3. Was ist ein Autor?
  4. Das Problem der Differenz
  5. Fazit

Anmerkungen

[Für wertvolle Hinweise und Kommentare danke ich Astrid M. Eckert, Jörg Neuheiser, Ulrike Strasser sowie zwei anonymen Gutachter/innen.]

1. Ein Erfolgsbuch

Cover und Rückseite der deutschen Erstausgabe von 1985 sowie Cover der türkischen Erstausgabe von 1986 (übersetzt von Osman Okkan), jeweils mit Fotos von Günter Zint (siehe auch <https://www.stiftung-guenter-zint.de>), Umschlaggestaltung Hannes Jähn, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Günter Wallraffs im Oktober 1985 erschienenes Buch »Ganz unten« war »eines der erfolgreichsten Sachbücher in Deutschland nach 1945«.1 Der Titel stand 22 Wochen auf Platz 1 der »Spiegel«-Bestsellerliste. Bis heute verkauften sich über 5 Millionen deutschsprachige Exemplare, und das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt. Wallraff (geb. 1942) war bei Erscheinen von »Ganz unten« schon ein weithin bekannter Bestsellerautor. Seit seinen Industriereportagen Ende der 1960er-Jahre hatte er die Methode kultiviert, unerkannt in fremde Rollen zu schlüpfen, um gesellschaftliche Missstände aufzudecken. Dabei schreckte er auch vor dem Erleiden körperlicher Gewalt nicht zurück. Als Protest gegen die griechische Militärdiktatur kettete er sich im Mai 1974 an einen Laternenpfahl in Athen und verteilte Flugblätter. Er wurde daraufhin von der griechischen Militärpolizei verhaftet, geschlagen, laut eigener Aussage gefoltert und nach 77 Tagen wieder entlassen. In einem mit dem Journalisten Eckart Spoo veröffentlichten Bericht porträtierte Wallraff ein Jahr später, wie damals auf der westdeutschen Linken üblich, die Militärdiktatur im Land des NATO-Bündnispartners Griechenland als Indiz und Vorbote ähnlicher autoritärer und faschistischer Tendenzen in der Bundesrepublik.2 In der Folgezeit konzentrierte sich Wallraff darauf, gesellschaftliche Missstände im Inland offenzulegen. So schlich er sich 1975 als Bote und Portier in den Gerling-Konzern ein, um das Funktionieren dieser Versicherung von innen zu recherchieren.3 Seine bis dahin größte Aufmerksamkeit erreichte er jedoch in der Rolle des vermeintlichen BILD-Reporters Hans Esser, dem es gelang, von März bis Anfang Juni 1977 Mitglied der Hannoveraner Lokalredaktion von BILD zu werden und in mehreren Bestsellern die Arbeitsweise des Boulevardblatts öffentlich zu kritisieren.4 Im Vorfeld der Publikation von »Ganz unten« profitierte Wallraff daher von seinem Ruf als einer der bekanntesten Investigativjournalisten der Bundesrepublik. Verlag und Presse bauten Spannung auf, indem sie verlauten ließen, Wallraff sei »wieder unterwegs«, dabei allerdings nicht verrieten, in welcher Rolle. Der »Spiegel« publizierte im Oktober 1985 einen umfangreichen Vor­bericht,5 und die Veröffentlichung des Buches wurde dann zu einer Mediensensation.

Mit diesem Aufsatz verfolge ich zwei Ziele. Erstens möchte ich anhand der zeitgenössischen Rezeption den Verkaufserfolg des Buches erklären. Die enorme Resonanz von »Ganz unten« verdankte sich, so die These, vor allem den emotionalen Bedürfnissen und der soziokulturellen Verfasstheit der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft der 1980er-Jahre, weniger der Situation der türkischen »Gastarbeiter«. Aus diesem Grund markierte das Buch auch nicht den Wendepunkt in der Wahrnehmung von »Gastarbeitern« in Deutschland, als der es retrospektiv oft erscheint.6 Zweitens möchte ich belegen, dass Wallraff mit seinem Vorhaben, den »brutalen Rassismus [zu] zeigen, mit denen [sic] Türken damals konfrontiert waren«,7 nur bedingt erfolgreich war. Zwar machte Wallraffs Buch die bereits bekannten, schwierigen Existenzbedingungen mancher türkischen Arbeitskräfte einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Aus heutiger Sicht erscheinen jedoch vor allem die inhärenten Widersprüche von Wallraffs Methode wie auch die Blindstellen seiner neomarxistischen Perspektive historisch bedeutsam. Das Buch, so die weitergehende These, eröffnet einen Blick auf die Schwierigkeiten im Umgang mit Differenz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er-Jahre. Dies dürfte auch der Grund für das erneute zeithistorische Interesse an »Ganz unten« sein. Denn wie der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Lipkin jüngst bemerkte, steht der Erfolg dieses Buches während der 1980er-Jahre in drastischem Gegensatz zur massiven Kritik an Wallraffs Versuch im Jahr 2009, mit ähnlichen Methoden des »Blackfacing« die Realität von Flüchtlingen in der Bundesrepublik zu dokumentieren.8

Anders als Lipkin annimmt, erklärt sich diese Differenz jedoch nicht schlichtweg aus einer »Amerikanisierung« des (Anti-)Rassismus-Diskurses in der Bundesrepublik.9 Demgegenüber würdigt der vorliegende Aufsatz die bisher nicht hinreichend beachtete, zeitgenössische deutschsprachige Kritik von türkischer Seite an dem Buch. Diese Kritik wandte sich sowohl gegen Wallraffs Behandlung seiner türkischen Mitarbeiter wie auch gegen die stereotypisierende Repräsentation der Türken in »Ganz unten«. Wie die amerikanische Germanistin Carol Poore schon vor mehr als zwei Jahrzehnten zeigte, wurde diese Kritik vor allem in der Zeitschrift »Die Brücke« artikuliert, einem Forum für antirassistische Politik und Kultur.10 Die Zeitschrift wandte sich seit 1981, so die Selbstbeschreibung, gegen das Wiederentstehen einer »völkisch-nationalistische[n] Ideologie« und setzte sich für »die gegenseitige Verständigung zwischen Mitbürgern deutscher und ausländischer Herkunft in der Bundesrepublik Deutschland« ein. »Die Brücke« und der mit ihr verbundene Verein betonten die gesamtgesellschaftliche Dimension des Minderheitenproblems. Eingewanderte sollten nicht als »zu beschützende Randgruppe« erscheinen, sondern als »selbstorganisierte Bürger ausbleibende Rechte« einfordern.11 Die in »Die Brücke« artikulierte Kritik an Wallraffs »Ganz unten« reflektierte die zeitgenössischen Selbstbehauptungsbestrebungen ethnischer Minderheiten in der Bundesrepublik, wie sie sich 1985/86 auch in der gleichzeitigen Gründung der beiden wichtigsten Organisationen der Afro-Deutschen manifestierte, der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und der ADEFRA – Schwarze Frauen in Deutschland.12 Diese damaligen Aktivitäten, nicht so sehr Wallraffs Buch, markieren eine Traditionslinie zu gegenwärtigen antirassistischen Bemühungen.

2. Den Erfolg erklären

Der Verkaufserfolg von »Ganz unten« übertraf alle Erwartungen. Einzelne Buchhandlungen bestellten pro Tag 1.000 Bücher. Allein in den ersten zwei Wochen verkauften sich 647.258 Exemplare, »womöglich Weltrekord«, wie der »Spiegel« vermutete. Nach knapp vier Monaten waren 2 Millionen Exemplare verkauft, nach einem Jahr war das Buch bereits in 18 Sprachen übersetzt.13 »Ganz unten« profitierte auch davon, dass die von Franz Alt moderierte Fernsehsendung »Report« am Tag nach dem Erscheinen des Buches Auszüge der Geheimaufnahmen zeigte, die Wallraff in seiner Rolle als Türke Ali mit einer versteckten Kamera gemacht hatte. Diese Aufnahmen waren dann auch die Grundlage des Films zum Buch vom Februar 1986. Wallraff selbst unterstützte den Verkaufserfolg dadurch, dass er vom 24. Oktober bis zum 5. Dezember 1985 »ununterbrochen auf Lesereise« war – mit Veranstaltungen, die »Tag für Tag ausgebucht« waren.14 Bei einer von der IG Metall und dem Thyssen-Betriebsrat organisierten Kundgebung in der Rhein-Ruhr-Halle in Duisburg wurden 4.000 Menschen erwartet.15

Günter Wallraff bei einer seiner zahlreichen Lesungen aus »Ganz unten«,
hier am 26. Oktober 1985 in der Mercatorhalle Duisburg
(picture-alliance/Achim Scheidemann)
Wallraff bei einer Pressekonferenz
in Amsterdam, 8. November 1985
(Wikimedia Commons, Public Domain;
Nationaal Archief, Den Haag;
Foto: Rob C. Croes/Anefo)

Der Erfolg von »Ganz unten« überraschte auch deshalb, weil die Idee, die Identität eines Türken anzunehmen und dadurch die Realität der »Gastarbeiter« in der Bundesrepublik zu erfahren, keinesfalls neu war. Bereits 1982 hatte der »stern«-Journalist Gerhard Kromschröder eine ganz ähnliche Mission unternommen und sich in Frankfurt als türkischer Straßenkehrer verkleidet. Sein daraus hervorgehender, im »stern« veröffentlichter Bericht stieß auf großes öffentliches Interesse. Kromschröder wurde in Fernseh- und Radiosendungen interviewt, und bei einem Besuch in der Türkei wurde er wie ein Staatsgast hofiert. Ein ähnlicher Verkaufserfolg wie derjenige von »Ganz unten« drei Jahre später blieb ihm allerdings versagt.16 Auch die Methode, eine minoritäre Identität anzunehmen, um dadurch Diskriminierung und Ausgrenzung zu dokumentieren, hatte eine längere Tradition. Bereits 1959 ließ sich der weiße amerikanische Journalist John Howard Griffin mithilfe von UV-Strahlen und Medikamenten die Pigmentierung seiner Haut verdunkeln, um so die Lebensrealität von Afro-Amerikanern im segregierten Süden der USA zu erfahren und darüber zu schreiben.17

Wallraff verwandelte sich in »Ali«, indem er eine Perücke und getönte Kontaktlinsen trug. Da Wallraff kein Türkisch sprach, bediente er sich, wie er schrieb, eines »ungehobelt[en]« und »unbeholfen[en]« »›Ausländerdeutsch‹«. Mit dieser Verkleidung begab sich Ali/Wallraff in unterschiedliche Situationen, um zu erfahren, was ein Ausländer in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre zu »ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann«. Wallraff zielte darauf, »ein Stück Apartheid […] mitten unter uns« abzubilden.18 Die politische Stoßrichtung des Buches wurde bei Wallraffs »Generalprobe« seiner Verkleidung deutlich, als er sich unter die Menge mischte, die am 6. März 1983 den Wahlsieg der CDU/CSU bei der Bundestagswahl im Bonner Adenauer-Haus feierte, und dabei mit einer Reihe von rassistischen Kommentaren konfrontiert wurde (GU, S. 14f.). In der Folgezeit nahm Ali/Wallraff eine Vielzahl unterschiedlicher Rollen an. Er arbeitete auf einem Bauernhof in Niedersachsen, besuchte den politischen Aschermittwoch der CSU in Passau, mischte sich unter rechtsextreme Fußballfans beim Länderspiel der Bundesrepublik gegen die Türkei im Berliner Olympiastadion, arbeitete bei McDonald’s, versuchte mehrere katholische Pfarrer davon zu überzeugen, dass er zum Katholizismus übertreten wolle, und gab sich bei einem Bestattungsunternehmen als todkranker Mann aus, der den eigenen Sarg zur Überführung nach Anatolien aussuchen möchte. Als »menschliches Versuchskaninchen« stellte er sich sogar der Pharmaindustrie zur Verfügung.

Ali/Wallraff erhält einen signierten Bildband von Franz Josef Strauß (»Für Ali mit herzlichem Gruß«), nachdem er sich beim politischen Aschermittwoch im Jahr 1985 als Abgesandter des rechtsextremen Anführers der türkischen Grauen Wölfe, Alparslan Türkeş, vorgestellt hatte (vgl. GU, S. 23-27).
(bpk/Günter Zint)

Den größten Raum des Buches nimmt jedoch Alis/Wallraffs Tätigkeit für Leiharbeitsfirmen ein. Weil es bei der August-Thyssen-Hütte einen Einstellungsstopp gibt, erfährt Ali/Wallraff von dem Subunternehmen Adler (ein von Wallraff gewähltes Pseudonym), das wiederum Arbeiter an das Unternehmen Remmert vermittelt, die diese dann bei Firmen wie Thyssen platziert. In seiner Funktion als Leiharbeiter verrichtet Ali/Wallraff bei Thyssen gesundheitsschädliche Schwerstarbeit in Koksstaub und Koksgas, angeblich ohne die eigentlich vorgeschriebenen Atemschutzmasken.19 Leiharbeiter sind zudem ohne Sozialversicherung und zu sehr niedrigen Löhnen beschäftigt. Bei entsprechendem Bedarf an Arbeitskraft erhalten sie kaum Pausen. Als »Wegwerfmenschen« und »Austauschware« arbeiten sie teilweise 300 bis 350 Stunden pro Monat. Trotz dieser widrigen Umstände gelingt es Ali/Wallraff, bei Adler zum Chauffeur und Leibwächter aufzusteigen, auch weil er mit angeblichen Nahkampffähigkeiten prahlt. Durch die Nähe zu Adler erfährt Ali/Wallraff von dessen Praktiken, Arbeiter um ihren Lohn zu betrügen. In der letzten Episode suggeriert Ali/Wallraff seinem Chef, dass er Arbeiter für einen Job im Kernkraftwerk Würgassen benötige. Dabei lassen die vermeintlichen Abgesandten des AKWs Adler wissen, dass die Strahlenbelastung die gesetzlichen Vorschriften übersteige und aller Voraussicht nach schwere Gesundheitsschäden, einschließlich tödlicher Krankheiten wie Krebs, zur Folge haben könne. Deshalb suchen die vermeintlichen Auftraggeber auch »Türken zum Verheizen«. Zum eigentlichen Arbeitseinsatz in Würgassen kommt es dann jedoch nicht. Stattdessen fingieren Wallraff und seine Mitarbeiter einen Polizeieingriff, bei dem die angeblichen türkischen Freiwilligen verhaftet werden (GU, S. 256).

Die zeitgenössische Reaktion auf Wallraffs Buch versuchte zunächst, den sensationellen Erfolg zu erklären. Für Gerhard Spörl in der »ZEIT« lag die enorme Resonanz daran, dass es Wallraff gelungen sei, neben der erwarteten Klientel – »bei den Altlinken […] wie bei den Neulinken« – auch »neue Leser« zu mobilisieren, und zwar jene, »die vor allem mit dem Überleben beschäftigt sind«.20 Denn trotz des von der neugewählten Kohl-Regierung verkündeten »Aufschwungs« war die Arbeitslosigkeit bis 1985 auf ein seit der Frühzeit der Bundesrepublik nicht mehr erreichtes Ausmaß von 8,2 Prozent gestiegen.21 Die Arbeitslosigkeit betraf dabei vor allem ungelernte Arbeiter und Angestellte, Ältere und Frauen. In diesen Gruppen lag die Quote weit über 10 Prozent. Auch die Arbeitslosigkeit unter türkischen »Gastarbeitern« stieg und erreichte im Jahr 1985 rund 90.000 Personen.22 Wachsende Arbeitslosigkeit ging einher mit Schrumpfungsprozessen gerade in der von Ali/Wallraff hauptsächlich porträtierten Eisen- und Stahlindustrie. Im Verlauf der 1980er-Jahre kam es zu einer Serie von defensiven Arbeitskämpfen gegen Entlassungen und Werksschließungen, die im Stahlarbeiterstreik in Duisburg-Rheinhausen Ende 1987 kulminierten. Nachdem viele der älteren Arbeiter bereits über Sozialpläne aus dem Beruf ausgeschieden waren, sahen nun auch jüngere Arbeitskräfte ihre Zukunft bedroht.23 Die Erfahrung von Ali/Wallraff repräsentierte somit die durchaus realistische Zukunftsangst vor einem weiteren sozialen Abstieg bei deutschen Arbeitern. Das Buch offeriere eine »bittere Wahrheit«, es evoziere ein Angstszenario, »mir droht Ähnliches, so mag es weitergehen, wenn ich Pech habe«.24 In einer zunehmend schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Lage beschwor »Ganz unten« eine Zukunftsvision, bei der sich deutsche Arbeiter plötzlich auf der Ebene von ungelernten türkischen Arbeitern wiederfinden würden. Während deutsche Arbeiter lange von Unterschichtungsprozessen im Gefolge der Rekrutierung von »Gastarbeitern« profitiert hatten, mussten sie nun befürchten, selbst »ganz unten« zu landen. Auch wenn nicht klar ist, ob Wallraffs Buch tatsächlich im Arbeitermilieu gelesen wurde, so evozierte es Abstiegsängste, die bis ins bürgerliche Lager hinein plausibel erscheinen mussten.

Diese Identifizierung mit Ali/Wallraff wurde durch eine stark binäre moralische Wertung gefördert, die die »Guten« ganz unten mit den »Bösen« ganz oben kontrastierte. Auf der einen Seite standen die herzlosen Kapitalisten, insbesondere die Chefs der Leiharbeitsfirmen, die einen modernen »Sklavenhandel« betrieben (GU, S. 120, S. 317). Wallraff lieferte, wie die »ZEIT« schrieb, »das umwerfende Porträt eines Doktor Mabuse der Wirtschaftskriminalität, der mit Arbeitslosen, Türken und anderen Opfern einen Sklavenhandel betreibt, bei dem er sogar die Gefährdung von deren Leben riskiert«.25 Aber auch die Arbeitspraktiken bei McDonald’s, die Verlogenheit der katholischen Kirche, das Profitstreben der Pharmaindustrie, die Unmenschlichkeit eines Bestattungsunternehmens oder die Demokratiefeindlichkeit von Konservativen wie Franz Josef Strauß stellte das Buch an den Pranger. Im starken Gegensatz zu kapitalistischen und konservativen Bösewichten erschien Ali/Wallraff als ein heroischer Anwalt des Guten, gerade auch angesichts der Gefahren, denen er sich willentlich aussetzte.26 Rezensionen zufolge war er der »gute Deutsche«, ein »moderner Robin Hood«, ein »James Bond der kleinen Leute«, ein »Zorro des Spätkapitalismus«.27 Die von Wallraff gezeichnete Welt »mit klar abgegrenzten Machtstrukturen und eindeutiger Rollenverteilung« bot somit, wie der Germanist Eberhard Ostermann konstatierte, Orientierungshilfe in einem zunehmend undurchschaubaren und ambivalenten Modernisierungsprozess. Im Gegensatz zu der von Jürgen Habermas im gleichen Jahr konstatierten »Neuen Unübersichtlichkeit« präsentiere »Ganz unten« ein »geradezu mythisches Reich, wo sich noch leicht zwischen ›gut‹ und ›böse‹ unterscheiden« lasse.28

Im Zentrum von »Ganz unten« stand die Beschreibung des physischen Leidens von Ali/Wallraff an der Industriearbeit. Es war, wie Wallraff erklärte, »ein erlebtes, erfühltes, erlittenes« Buch (GU, S. 427) – eine Charakterisierung, die er auch noch 30 Jahre später wiederholte.29 Dabei profitierte das Buch von einer generellen kulturellen Aufwertung der Positionierung als »Opfer« seit Mitte der 1970er-Jahre, die dieser Figur anders als zuvor auch eine moralische Überlegenheit verlieh.30 Die Stilisierung als Opfer schloss christliche Erlösermotive ein, die Ali/Wallraff als eine Art moderne Jesus-Figur erscheinen ließen.31 Ähnliche Motive waren bereits Teil von Wallraffs Griechenland-Aktion im Jahr 1974 gewesen. Auch hier hatte das ihm durch die griechische Militärjunta zugefügte Leiden dem damit verbundenen politischen Protest verstärkte Glaubwürdigkeit und Authentizität verliehen. Zwar distanzierte sich Wallraff von den christlichen Amtskirchen, er stand aber dem Linkskatholizismus nahe.32 Im dokumentarischen Anhang zu »Ganz unten« wurde der »fortschrittliche Theologieprofessor Mario v. Galli« mit der rhetorischen Frage zitiert: »Könnte, ja müßte Menschwerdung heute nicht so aussehen, wie Günter Wallraff sie hier vorexerziert?« (GU, S. 382) Laut Dieter E. Zimmer in der »ZEIT« trat Wallraff mit einem »moralischen Anspruch« auf, der sich zusammensetze aus »ein Viertel Eulenspiegel, drei Viertel Jesus«.33 Diese Kritik des zeitgenössischen Rassismus über die christlichen Motive des Leidens und der Erlösung implizierte, so Katrin Sieg, einen »spirituellen Triumph des weißen Körpers basierend auf der Figur des gekreuzigten Jesus«.34 Darüber hinaus hatte die Konstruktion von Ali/Wallraff als Jesus-Figur laut Eberhard Ostermann für das Lesepublikum den Vorteil, dass eine Identifikation mit dem Leiden des Protagonisten eine Art »symbolische Freisprechung« ermöglichte, eine Form der religiösen »Absolution, auch ohne selbst den Weg durch das Fegefeuer« gegangen zu sein.35 Allerdings konnte die vermeintliche Solidarisierung mit der Figur des Ali allein auf der Gefühlsebene verbleiben und musste nicht unbedingt einhergehen mit konkreten Initiativen zur Verbesserung der Lage der türkischen Migrant/innen. Dies war auch die Kritik in der Zeitschrift »Die Brücke«: »Mit wohlwollender Neugier und Pflichtbewußtsein kauften Millionen von stark gerührten Untertanen der Herrschaft das Abenteuerbuch Günter Wallraffs alias Ali und wuschen so ihr Gewissen rein.«36

Der moralische Dualismus von »Ganz unten« wurde durch eine explizite und wenig differenzierte Kontinuitätsthese untermauert, die den bundesrepublikanischen Kapitalismus in die Kontinuität des Nationalsozialismus stellte. Wallraffs Buch basierte auf einer traditionellen linken Interpretation, die im Faschismus kaum mehr als eine »Form bürgerlicher Herrschaft« sah, die sich in der Bundesrepublik fortgesetzt habe.37 Alis/Wallraffs Pausengespräche bestätigen dieses Weiterbestehen faschistischer Einstellungen in der Bundesrepublik auch unter Arbeitern (GU, S. 108-114). So spricht der »Kolonnenschieber Alfred« von »Kümmeltürken« und »Knoblauchjuden« (GU, S. 143), und auch der Chef der Leiharbeitsfirma Adler artikuliert trotz seiner SPD-Mitgliedschaft antisemitische und NS-apologetische Ansichten (GU, S. 176-178), beispielsweise wenn er die türkischen Arbeiter ermahnt, sie seien »in keiner Judenschule« (GU, S. 182f.). Am deutlichsten tritt diese Kontinuitätsbehauptung jedoch im Zusammenhang mit der Rekrutierung türkischer Arbeiter für das Kernkraftwerk Würgassen hervor. So vergleicht Wallraff den Versuch Adlers, Leiharbeiter für das AKW zu organisieren, mit den Praktiken Adolf Eichmanns, der »die Leichenberge ja nie zu Gesicht bekommen« und »›nur‹ die Transporte der noch Lebenden in die Massenvernichtungslager« organisiert habe. Wallraff stellt den westdeutschen Kapitalismus hier moralisch auf die Stufe des »Dritten Reiches«. Wenn der bundesdeutsche Kapitalismus »bisher […] keine Menschen zu Seife geschmolzen« habe, […] so »nicht aus Gründen der Humanität«, sondern weil »es sich nicht lohnt, aus Leuten Seife zu machen« (GU, S. 245). Wallraffs Maskerade als Ali diente somit auch dazu, die angeblich demokratische Bundesrepublik zu demaskieren und die faschistische Substanz unter der demokratischen Oberfläche bloßzulegen.38 In diesem Zusammenhang kam der Opferpose von Ali/Wallraff noch eine weitere Konnotation zu. Denn das Bild des abgemagerten und geschundenen Arbeiterkörpers produzierte auch Assoziationen zu den NS-Opfer in den Konzentrationslagern.39 Die türkischen Opfer des westdeutschen Industriekapitalismus evozierten die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus; eine gefühlsmäßige Identifikation mit der türkischen Minderheit wurde zu einer nachholenden antifaschistischen Geste.

Diese Charakterisierung der Bundesrepublik als kryptofaschistisch stieß naturgemäß auf großes Interesse in der DDR. »Ganz unten« erschien 1986/87 in zwei Auflagen als Lizenzausgabe beim Aufbau-Verlag und war auch in Ostdeutschland überaus erfolgreich. Das Buch avancierte dort zur Schullektüre. Wallraff, der bereits im Gefolge seiner Bücher zur BILD-Zeitung im DDR-Fernsehen aufgetreten war, begab sich im Herbst 1987 auch auf eine Lesereise durch die DDR. Nach 1990 tauchten immer wieder Anschuldigungen auf, Wallraff habe in den späten 1960er-Jahren als IM für die Staatssicherheit gearbeitet.40 Wallraff bezeichnete diese Vorwürfe als »Rufmordkampagne«, und sie sind bis heute nicht bewiesen.41 Allerdings stellte sich heraus, dass einer von Wallraffs Mitarbeitern bei »Ganz unten«, der Journalist Frank Berger, tatsächlich als Stasi-IM geführt worden war. Der daraus abgeleitete Vorwurf der Springer-Zeitung »Die Welt«, die Stasi habe an dem Buch direkt »mit­geschrieben«,42 lässt sich jedoch nicht belegen.

Cover der DDR-Lizenzausgabe von »Ganz unten« (1986/87), wiederum mit einem Titelfoto von
Günter Zint, Umschlaggestaltung Günter Woinke, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar

Interessanterweise stieß das Porträt der »faschistischen« Bundesrepublik der 1980er-Jahre in nordamerikanischen Kom­men­taren ebenfalls auf Zustimmung. So erkannte die Rezensentin (und heutige hochrangige Diplomatin) Karen Donfried in mehreren Passagen von »Ganz unten« die Darstellung einer »Mentalität, die an Hitlers Deutschland erinnert«.43 Und 1989 urteilte Anna Kuhn, die »ernüchterndste Einsicht von Ganz unten« sei »die Nachbarschaft zeitgenössischer antitürkischer Gefühle mit dem Antisemitismus des Dritten Reiches«. Dies sei ein Indiz dafür, dass die Bundesrepublik »ihre nationalsozialistische Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet« habe.44

Im Gegensatz dazu ignorierten westdeutsche Rezensenten Wallraffs Kontinuitätsthese weitgehend. In den Selbstverständigungsdiskursen schwächte sich die seit Gründung der Bundesrepublik grassierende Furcht vor einer möglichen autoritären Wende genau zu diesem Zeitpunkt, Mitte der 1980er-Jahre, deutlich ab und erwies sich letztlich selbst für linke Kritiker wie Jürgen Habermas als unbegründet.45 Vielmehr kam es damals zu einer Art verspäteten »Selbstanerkennung« der Bundesrepublik, gerade auf der Linken.46 Zudem bekannte sich die Bundesrepublik in dieser Zeit explizit zu einer kritischen Erinnerung an den Nationalsozialismus. Die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (CDU) zum 40. Jahrestag des Kriegsendes markierte in der damaligen Wahrnehmung einen Wendepunkt, an dem das kritische Erinnern der NS-Zeit zentral für eine postnazistische deutsche Identität wurde.47 Angesichts einer in Bewegung geratenen Erinnerungskultur erschien Wallraffs krude Faschismusthese zu diesem Zeitpunkt immer weniger plausibel. Außerdem beraubte sich Wallraff mit einem solchen Deutungsmuster der Möglichkeit, die historische Spezifik des nationalsozialistischen wie auch des bundesrepublikanischen Rassismus zu erkennen. Antitürkischer Rassismus konnte ihm nur in Analogie zum Antisemitismus der Nazis erscheinen, Rassismus war nur in seiner nationalsozialistischen und biologistischen Form denkbar, die Ausbeutung türkischer Arbeiter musste die Auschwitz-Metapher bemühen. Doch der bundesdeutsche Rassismus gründete sich nicht so sehr auf angebliche biologische Hierarchien, sondern eher auf vermeintliche kulturelle Unterschiede; er hatte mehr gemein mit ähnlichen Haltungen gegenüber Migrant/innen in England und Frankreich als mit dem nationalsozialistischen Rassenantisemitismus.48 Die Kontinuitätsthese verstellte somit auch den Blick auf einen genuin bundesrepublikanischen Rassismus.

Wallraffs Annahme der fiktiven Person »Ali« fügte sich auch in neusubjektive Identitätsdebatten auf der Suche nach einem »authentischen« Selbst, wie sie seit den späten 1970er-Jahren in der Bundesrepublik weit verbreitet waren. Die »Reise zu sich selbst« (Philipp Sarasin) und die Etablierung einer singulären Identität ersetzten dabei die gesellschaftsverändernden Projekte der 1960er-Jahre.49 Anders als in den Identitätsdebatten der 1970er-Jahre, als es vor allem darum ging, gesellschaftlich oktroyierte »Masken« abzuwerfen, um so zum »wahren« Selbst vorzudringen, vollzog sich bei Wallraff die Selbstsuche gerade über das Anlegen von Masken. Bereits ein Jahrzehnt vor der Veröffentlichung von »Ganz unten« zitierte Wallraff aus einem Tagebucheintrag, in dem er sich dazu bekannte, Masken zu wählen, »um mich zu suchen und mich vor mir zu verbergen, wenn ich mich gefunden habe«. Dieser Versuch, sich »über andere zu verwirklichen«, sei »noch nicht abgeschlossen«.50 Auch im Selbstkommentar zu »Ganz unten« verwies Wallraff immer wieder darauf, dass die Annahme der Rolle von »Ali« ein Teil seiner eigenen Suche nach Identität sei – er sah die Grenzen zwischen dem Schriftsteller Wallraff und der Kunstfigur »Ali« verschwimmen. »Ich war immer beides.« (GU, S. 428) Tatsächlich beschrieb Wallraff die Rolle des »Ali« als »näher« an seiner eigenen Identität: »Ich lebe in der jeweiligen Rolle authentischer, identischer, bewußter, mir selbst auch näher und anderen näher als in der Rolle des prominent gewordenen Schriftstellers, der das wieder abschütteln will.«51

Wallraffs hier artikulierte Unsicherheit über die eigene Identität, die Sehnsucht nach Authentizität und Selbstverwirklichung waren höchst kompatibel mit der selbstreflexiven Subjektkultur der 1970er- und 1980er-Jahre.52 Das Porträt der einfachen Existenz als leidender und geplagter, aber moralisch guter und widerständiger türkischer »Gast­arbeiter« diente als durchaus attraktive Projektionsfläche für suchende und destabilisierte Subjekte. Ähnlich wie der im Jahr 1978 veröffentlichte Bericht zur West-Berliner Fixerszene »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« von bzw. über Christiane F., der fast zwei Jahre auf der »Spiegel«-Bestsellerliste stand und sich mit 1,3 Millionen Exemplaren verkaufte, stillte auch »Ganz unten« den »Erfahrungshunger« (Michael Rutschky) einer jüngeren Generation, der das Buch Einblicke in eine weitgehend unbekannte Welt bot. Dabei beruhte die Attraktivität beider Bücher gerade auf der behaupteten Authentizität der erlebten Außenseiter-Erfahrung, sei es im Berliner Drogenmilieu oder bei der Drecksarbeit im Ruhrgebiet.53 »Plötzlich weiß ich, wie das Leben wirklich sein kann«, erklärte ein »Bürgersohn« nach der Lektüre von »Ganz unten«.54 Wallraff habe, so ein Rezensent, »Karl Marx in einen zeitgenössischen Bestseller« verwandelt.55 »Ganz unten« war somit nicht in erster Linie ein objektives Porträt der Situation türkischer »Gastarbeiter«, sondern passte vor allem in eine Zeit allseits diagnostizierter Selbstverwirklichungsprojekte und Identitätskrisen.56

Gäste in einem Café in München, März 1986. An der Litfaßsäule hängt Werbung für die Filmversion von »Ganz unten«, die im Februar des Jahres in die Kinos kam, allerdings wegen juristischer Streitigkeiten nur wenige Monate zu sehen war. Wallraffs Darstellung reproduzierte die Selbstfindungsdiskurse der 1970er- und 1980er-Jahre; so erreichte sie auch ein bürgerliches Publikum.
(Karl-Heinz Egginger/Süddeutsche Zeitung Photo)

Dabei reflektierte der Ton von »Ganz unten« auch die expressive Emotionskultur der 1980er-Jahre.57 Wallraff selbst verstand seine Fähigkeit, »Mitleid« für Ali/Wallraff zu erzeugen, als Gegenpol zu einer »eiskalte[n] Gesellschaft, die nur am Profit interessiert ist«. Die Emotionalisierung des Berichts laufe einer Gesellschaft entgegen, »die sich sonst nur rational verhält und rein intellektuelle Abwehrmechanismen zuläßt« (GU, S. 422). Die apokalyptische Darstellung der industriellen Arbeitswelt war Teil dieser expressiven Emotionskultur. Das Buch führte tatsächlich in die »Hölle dieser Republik«, eine Sichtweise, die durch die deprimierende Schwarz-Weiß-Ästhetik des Dokumentarfilms noch verstärkt wurde. Buch und Film präsentierten ein »Horrorszenario«, das von dem »hygienisch ekelerregend geführten Restaurant einer bekannten Schnellimbißkette« bis zum möglichen »Krebstod durch AKW-Strahlung« reichte.58 Einer von Alis/Wallraffs Kollegen, der 20-jährige Yüksel Atasayar, beschreibt die durch Adler vermittelte Arbeit bei Thyssen in Analogie zum allseits befürchteten Atomkrieg. Der Staub und Qualm an seinem Arbeitsplatz vermittele ihm »ein Gefühl […], als wenn da ein Atomkrieg gewesen wär« (GU, S. 140). In der Tat evozierten das Buch und der begleitende Film immer wieder die Angst vor der Einnahme von giftigen und potentiell krebserregenden Stoffen, sei es durch die Drecksarbeit bei Thyssen, sei es durch die Arbeit als »Versuchskaninchen« der Pharma­industrie. Wallraff/Ali reproduzierte somit ein wesentliches Anliegen der westdeutschen Umweltbewegung. So berichtete er, dass seine Bronchien »fast schon chronisch geschädigt« seien, und sechs Monate später sei bei einem Hustenanfall »der Speichel oft immer noch schwarz« (GU, S. 147). Diese Diagnose der gesundheitsgefährdenden Wirkung der Industriearbeit kulminierte in der fiktiven Anwerbung der Leiharbeiter für die potentiell tödliche Tätigkeit im Atomkraftwerk Würgassen, über die das Buch die Kapitalismuskritik mit der westdeutschen Anti-AKW-Bewegung verband. »Ganz unten« antizipierte dann auch die massive Angst und Verunsicherung, die durch den Super-GAU im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl im Frühjahr 1986 ausgelöst wurde.

Das Buch bekräftigte die in der Umwelt- und Friedensbewegung verbreitete Praxis, apokalyptische Angstszenarien über die in den 1980er-Jahren zunehmend popularisierte Holocaust-Erinnerung zu artikulieren. Die Arbeit bei Thyssen sei »fast wie Krieg«59 und erschien in Analogie zu einer Gaskammer: »An manchen Stellen sind gefährliche Arbeiten, an einer zum Beispiel ist Gasgefahr. Da kann man bei kaputtgehen. Da müssen wir in solchen Kammern arbeiten, wo das total gefährlich ist. Sind Schilder, daß man da kaputt gehn kann, wenn zu viel Gas ausströmt. Und von dem Gas konnte man nichts merken, konnte man nichts riechen.« (Schilderung von Atasayar; GU, S. 140) »Ganz unten« übersetzte die Herausforderungen der industriellen Arbeitswelt in die Angstszenarien der Atom- und Umweltkatastrophe, die in der Imagination der jüngeren Generation deutlich präsenter waren. Die Angstvorstellung eines »nuklearen Holocausts«, wie sie Anfang der Dekade für die Mobilisierungskraft der Friedensbewegung wichtig war, prägte auch Wallraffs Porträt des bundesdeutschen Industriekapitalismus.60

Generell ließ »Ganz unten« keine Zweifel daran, dass das Profitinteresse des Kapitalismus über Leichen gehen würde. Sei es bei der Erprobung neuer Medikamente in der Pharmaindustrie oder beim Arbeitseinsatz im Atomkraftwerk – die westdeutsche Industrie repräsentierte eine existentielle Bedrohung für die körperliche Integrität und Gesundheit derer, die dieser Wirtschaftsform nahezu hilflos ausgeliefert waren. Das Buch replizierte insofern auch die zeitgenössische Modernitätsskepsis. Die von Wallraff skizzierte Revolte »Alis« spiegelte, so Eberhard Ostermann, den von der Alternativbewegung propagierten »Aufstand des Partikularen gegen ein bürokratisch verkrustetes Ganzes wider«, gegen »die Eingriffe einer fragwürdigen, nur technischen Rationalität«, gegen die »Ödnis der Fabrik«.61 Wallraff formulierte diese Kritik an der modernen Industriegesellschaft ganz explizit in einer später veröffentlichten Rede von 1987 mit dem Titel »Und macht euch die Erde untertan«. Dort folgte er der in den westlichen Ländern seit den 1970er-Jahren wieder aufflammenden romantisierenden Indianerschwärmerei; er porträtierte die Schöpfungsgeschichte der nordamerikanischen »Indianer« und den Häuptling Sitting Bull als Gegenbild zur modernen Industriegesellschaft, ähnlich wie dies bereits im US-amerikanischen Dokumentarfilm »Koyaanisqatsi« von 1982 geschehen war.62 Seine Vision reproduzierte die Sicht einer zunehmend industrie- und modernitätsskeptischen Alternativkultur, die durch den erstmaligen Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 bestätigt worden war. Der Erfolg von »Ganz unten« erklärte sich insgesamt vor allem daraus, dass das Buch die zeittypische Mentalität eines wachsenden links-alternativen Milieus sehr genau abbildete.

Gerade diese politische Verortung des Buches, nicht so sehr Wallraffs Darstellung der türkischen Migranten, stand im Zentrum der konservativen Kritik an »Ganz unten«. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« bezweifelte die Wahrheit von Wallraffs Berichten und fragte, ob es ihm »mehr um die Auflage seines Buches als um die Abstellung der Mißstände gegangen sei«.63 Ein Journalist des Bayerischen Rundfunks, Heinz Klaus Mertes, verfasste gar ein ganzes Anti-Wallraff-Buch, in dem er Wallraff der »emotionalen Technikfeindlichkeit« bezichtigte und den Erfolg von »Ganz unten« als Indiz eines »freiwilligen totalitären Konsensus« wertete. Angesichts der Verknüpfung der NS-Zeit und der Bundesrepublik in Wallraffs Buch sah Mertes im propagierten Einsatz für die türkischen »Gastarbeiter« den Wunsch nach einer »symbolischen Freisprechung« vom deutschen »Schuldtrauma«.64 In der extremen Rhetorik scheint noch die Härte der intellektuellen und politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre durch, als sich »rechts« und »links« gegenseitig antidemokratischer oder gar totalitärer Absichten bezichtigten.65

3. Was ist ein Autor?

Trotz des spektakulären Erfolges rückte bald auch die Frage von Wallraffs Autorschaft und Arbeitsweise in den Mittelpunkt der Diskussion. Schon wenige Monate nach der Veröffentlichung tauchten erste Gerüchte auf, Wallraff habe Teile des Buches aus anderen Quellen abgeschrieben oder überhaupt nicht selbst verfasst. Zwar sprach das Düsseldorfer Landgericht Wallraff vom Vorwurf frei, beim politischen Aschermittwoch in Passau ein gefälschtes Foto verwendet zu haben. Doch kurz darauf stellten die Autoren eines Buches zu den Geschäftsmethoden bei McDonald’s (»Das Brot des Siegers. Das Hackfleisch-Imperium«, 1985) deutliche Übereinstimmungen zwischen ihrer und Wallraffs Darstellung fest. Ebenso warf das Magazin »Report«, das ursprünglich ja zu dem Erfolg des Buches beigetragen hatte, Wallraff vor, aus Michael Holzachs Buch »Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland« von 1982 abgeschrieben zu haben.66 Der Bremer Journalist Uwe Herzog behauptete, 28 der 256 Seiten aus »Ganz unten« stammten von ihm. Und im Oktober 1987 erklärte der Herausgeber von »konkret«, Hermann L. Gremliza, er habe den gesamten Text von Wallraffs früherem Bestseller »Der Aufmacher« anhand von Tonbandprotokollen verfasst. Weitere Kritiker monierten, dass Wallraff Erlebnisprotokolle anderer Personen in »Ganz unten« platzierte und dann als eigene Erfahrungen ausgab.67

Diese Anschuldigungen konnte Wallraff nicht ganz entkräften. Er verzichtete auf eine Unterlassungs- und Widerrufsklage; stattdessen offerierte er eine Art »Teilgeständnis«, indem er behauptete, die Bücher basierten auf seinem »Erleben, was ich zum Teil erlitten, zum Teil erkämpft hab«. Sie trügen seine »Handschrift«, was nicht bedeute, dass er sie auch vollständig selbst geschrieben habe.68 In gewisser Weise machte sich Wallraff das poststrukturalistische Diktum Foucaults – »Wen kümmertʼs wer spricht?« – zu eigen, so lange die berichteten Episoden dem Zweck dienten, die unmenschliche Behandlung der türkischen Arbeiter zu dokumentieren.69 Doch gleichzeitig beruhte »Ganz unten« auf der behaupteten Authentizität der eigenen Erfahrung von Ali/Wallraff. Das Buch hatte demnach, wie Dieter E. Zimmer in der »ZEIT« bemerkte, »ein chronisches Glaubwürdigkeitsproblem«.70 Die »kommunikative Unentschiedenheit« des Buches bestand darin, dass sich Wallraff immer zugleich in der »Doppelrolle des Opfers und des agent provocateurs« befand.71 Deshalb erscheint es auch unangebracht, Wallraff – zusammen mit dem »Spiegel« – als einzigen Vertreter des investigativen Journalismus in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre zu porträtieren.72 Denn Wallraffs Methode, die maßgeblich auf seiner subjektiven Erfahrung beruhte, konnte den Wahrheitsansprüchen eines um die Aufdeckung objektiver Realitäten bemühten investigativen Journalismus schon damals nicht genügen.73 Ein solcher Journalismus wurde jedoch im Zuge der zahlreichen Polit-Skandale der 1980er-Jahre – Flick-Parteispendenaffäre, Kießling/Wörner-Affäre, der Fall Uwe Barschel – zusehends wichtiger.74

Die rechtlichen Grundlagen von Wallraffs Methode der verdeckten Ermittlung wurden ebenfalls kontrovers diskutiert. Die Rechtmäßigkeit des »Einschleich-Journalismus« wurde dabei nicht grundsätzlich bestritten, musste sich aber letztlich an der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die ermittelten Missstände messen lassen. Die Filmversion von »Ganz unten« hielt den Anfechtungen wegen des illegalen Einsatzes einer versteckten Kamera nicht stand. Der Film wurde – abgesehen von Radio Bremen – nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet; die Kinofassung musste vom Verleih aufgrund der juristischen Probleme nach drei Monaten zurückgezogen werden. Auch die Buchversion von »Ganz unten« brachte, ähnlich wie frühere Veröffentlichungen Wallraffs, eine Serie von gerichtlichen Auseinandersetzungen mit sich. Die wichtigste Klage gegen das Buch wurde vom Thyssen-Konzern am 20. März 1986 eingereicht; am 23. Februar 1987 gab das Düsseldorfer Landgericht Wallraff in fünfeindrittel von sieben Anklagepunkten recht. Wallraff musste nur zwei Stellen in »Ganz unten« ändern und 24 Prozent der Prozesskosten tragen – der Ausgang wurde allgemein als »Punktsieg« Wallraffs gewertet (GU, S. 311).

Günter Wallraff vor dem Düsseldorfer Landgericht, Dezember 1985.
Um die Authentizität seiner Erfahrungen zu belegen, zeigte er
Foto- und Filmmaterial, das auch in den Dokumentarfilm »Ganz unten« einging.
Auf dem Pullover trug er einen Anstecker der Gewerkschafts-Kampagne
»Machʼ meinen Kumpel nicht an« (»Gelbe Hand«).
(picture-alliance/Wilhelm Leuschner)
Dokumentarfilm »Ganz unten«, 1986. Regie: Jörg Gförer;
Drehbuch: Jörg Gförer und Günter Wallraff; Kamera: Dieter Oeckl;
Schnitt: Peter Kleinert, Tom Meffert, Eberhard Kolakowski (MAZ-Schnitt); Musik:
Heinrich Huber; Produktionsfirma: KAOS Film- und Videoteam GmbH (Köln),
Radio Bremen, Pirat-Film (Köln); Produzent: Peter Kleinert

Bedrohlicher als die Diskussion seiner Autorschaft sowie die juristischen Angriffe war für Wallraff jedoch die Kritik von ehemaligen türkischen Mitarbeitern – denn sie stellte die in »gut« und »böse« unterteilte Weltsicht von »Ganz unten« in Frage. Einer der Kritiker war Levent Sinirlioğlu, ein türkischer Sozialist, der seit 1974 in der Bundesrepublik lebte und 1986 von der türkischen Militärdiktatur ausgebürgert wurde. Er hatte Wallraff seine Papiere für die Figur »Ali« überlassen und ihn auch sonst bei seinen Recherchen unterstützt. Dies führte so weit, dass einige der im Buch berichteten Episoden von Sinirlioğlu und nicht von Ali/Wallraff erlebt wurden. Damit stand nicht nur die Frage von Wallraffs Autorschaft, sondern auch diejenige der Erfahrungsauthentizität zur Debatte.75 Im »Spiegel« kritisierte Sinirlioğlu, dass Wallraffs Behandlung seiner ehemaligen türkischen Mitarbeiter kaum »ungleicher und undemokratischer« hätte ausfallen können. Ähnlich wie der von Wallraff kritisierte Leihunternehmer Adler/Vogel schien Wallraff »seine deutschen Mitarbeiter bewußt besser bezahlt« zu haben.76 »Die Brücke« spitzte den Vorwurf zu, indem sie »Ganz unten« als ein »Buch von Leiharbeitern über Leiharbeiter« bezeichnete.77 Kritiker wiederholten einen Einwand, der das Buch schon früh getroffen hatte: dass Wallraff in seinem »selbstgesuchten Elend als der Türke Ali überlebensgroß« dastehe, während »die wahren Opfer, Türken und Arbeiter ohne Starruhm, […] bei dieser sozial­anklägerischen Höllenfahrt beinahe als Sensationsstatisten auf der Strecke« blieben.78

Angesichts solcher Kritik hatte die im Anhang zu »Ganz unten« dokumentierte überaus positive Rezeption des Buches in der Türkei für Wallraff große legitimatorische Bedeutung. Textauszüge wurden zunächst in der liberalen Zeitschrift »Milliyet« veröffentlicht, von der Buchausgabe verkauften sich danach über 100.000 Exemplare.79 Für Wallraff war es wichtig, sich von der zunächst positiven (und aus seiner Sicht missverständlichen) Reaktion auch der politischen Rechten in der Türkei zu distanzieren und stattdessen als Anwalt der Unterdrückten sowohl in der angeblich kryptofaschistischen Bundesrepublik wie auch in der seit dem Militärputsch von 1980 vermeintlich faschistischen Türkei zu erscheinen.80 Die türkische Zustimmung, die Wallraff auch durch den Abdruck entsprechender Leserzuschriften im Anhang zu »Ganz unten« dokumentierte, erlaubte es ihm, die Kritik seiner türkischen Mitarbeiter als »politisch elitär« zurückzuweisen. Sein Versuch, so Wallraff, sei es gewesen, nicht die Situation der »türkischen Intellektuellen« zu verbessern, sondern diejenige der »Menschen, die unter miesen Bedingungen arbeiten müssen«. Letztlich sah er diese Kritik als Teil eines »Sperrfeuers aus allen Ecken«, dem er seit der Veröffentlichung des Buches ausgesetzt gewesen sei, »eines Kriegszustandes, der immer mehr eskalierte«. Sinirlioğlu bezichtigte er der Teilnahme an einem »Medienspiel«, indem er der »sensationsgeilen Presse« in die Hände arbeite, die sich daran weide, »wie sich jene zerfleischen, die eigentlich auf derselben Seite stehen«.81 Damit zog sich Wallraff auf eine Freund-Feind-Logik zurück, die jede Kritik an seinem Buch oder seiner Arbeitsweise mit der konservativen Kritik an der politischen Stoßrichtung von »Ganz unten« gleichsetzte.

4. Das Problem der Differenz

Der öffentlich ausgetragene Konflikt zwischen Wallraff und seinen türkischen Bündnispartnern verweist auf grundlegendere Probleme des Umgangs mit ethnischer Differenz in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre. Wie oben gezeigt, gründete sich der Erfolg des Buches nur bedingt auf sein vermeintliches Thema, die Situation der türkischen »Gastarbeiter«, sondern verdankte sich anderen Faktoren – Wallraffs professioneller Öffentlichkeitsarbeit, der hohen Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Strukturkrise, der Kombination einer binären Weltsicht mit einer expressiven Emotionskultur, der Konkordanz von Wallraffs Thesen mit dem links-alternativen Milieu. Ganz im Gegensatz zu der in der populären Erinnerung verhafteten Bedeutung von »Ganz unten« als antirassistische Streitschrift markiert das Buch die Defizite im Umgang mit Differenz gerade auch auf der Linken.

Für ein Buch, das sich angeblich die Bekämpfung des Rassismus zum Ziel setzte, verwundert es zunächst, dass der zeitgenössische Kontext eines wachsenden antitürkischen Rassismus weitgehend ausgeblendet oder zumindest sehr unspezifisch blieb. Die Kritik rassistischer Einstellungen beschränkte sich im Grunde auf eine behauptete Kontinuität zum Nazi-Antisemitismus. Daran zeigte sich die Schwierigkeit der westdeutschen Gesellschaft, historisch spezifische Formen des Rassismus zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen, die nicht unbedingt als Kontinuität des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus erscheinen mussten. Weil die Bundesrepublik in ihrem Selbstverständnis den Nationalsozialismus überwunden hatte, war es für zeitgenössische Beobachter/innen schwierig, einen genuin bundesdeutschen Rassismus in der Demokratie zu identifizieren – daher auch die Verwendung des beschönigenden Begriffs »Ausländerfeindlichkeit«. Doch waren gerade die 1980er-Jahre gekennzeichnet von einer staatlichen Politik, die den gesellschaftlich verankerten Rassismus gegenüber Türken und nicht-weißen Minderheiten teilweise beförderte.82

Die Situation der türkischen »Gastarbeiter« hatte sich im Gefolge der Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre deutlich verschlechtert. Nach der Anwerbung der »Gast­arbeiter« in den 1950er- und 1960er-Jahren verhängte bereits die sozial-liberale Regierung im Dezember 1973 einen Anwerbestopp. Dennoch erhöhte sich der Ausländeranteil in der Bundesrepublik kontinuierlich, vor allem aufgrund des Nachzugs von Familienmitgliedern. Schon Bundeskanzler Helmut Schmidt sprach sich 1978 gegen einen freien Nachzug aus, auch weil »Einwanderer sich schneller vermehren als Deutsche«.83 Seit den späten 1970er-Jahren tauchte verstärkt das Diktum auf, die Bundesrepu­blik sei »kein Einwanderungsland«.84 Und 1981 verbreitete eine Gruppe konservativer Hochschullehrer ihr »Heidelberger Manifest«, in dem sogar unter Rückgriff auf völkische Argumentationsmuster in kaum verhohlener rassistischer Sprache vor einer »Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien« sowie den »bekannten ethnischen Katastrophen multikultureller Gesellschaften« gewarnt wurde.85 Im Zuge einer erneuten Wirtschaftskrise und des rapiden Anstiegs der Arbeitslosigkeit verschärfte sich die Haltung gegenüber Ausländern bereits unter der sozial-liberalen Regierung Helmut Schmidts. Diese lehnte 1981 die von dem ehemaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten und ersten Bundesbeauftragten für Ausländerfragen, Heinz Kühn, vorgeschlagene Einwanderungspolitik ab. Unter der CDU/CSU-geführten Regierung Helmut Kohls wurde dann die »Politik der Desintegration« (Philipp Ther) seit 1983 zur »offiziellen Regierungslinie«.86 Mit einem »Rückkehrförderungsprogramm« sollten die ehemaligen »Gastarbeiter« durch Zahlung einer »Rückkehrprämie« und eines Teils der Sozialversicherungsbeiträge zur Remigration in ihr Heimatland motiviert werden. Dennoch stieg die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Türken von 1,16 Millionen im Jahr 1978 auf insgesamt über 1,5 Millionen Menschen im Jahr 1988 weiter an.87 Die offizielle Regierungspolitik wie auch das Mantra, kein Einwanderungsland zu sein, signalisierten jedoch unmissverständlich, dass die in Westdeutschland lebenden Türken nicht willkommen seien. Dies stand durchaus im Einklang mit der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung: Eine Infas-Studie von 1981 kam zu dem Ergebnis, dass gut die Hälfte der Bundesdeutschen »ausländerfeindlich« eingestellt sei.88

Der zunehmende antitürkische Rassismus äußerte sich immer öfter auch in Gewalt gegen türkische Menschen. Am 21. Dezember 1985, also nur zwei Monate nach dem Erscheinen von »Ganz unten«, erschlugen rechtsextreme Skinheads den 26-jährigen Türken Ramazan Avcı in Hamburg auf dem Weg zu seiner schwangeren Freundin. Beim darauffolgenden Prozess wurden die Angeklagten wegen »Körperverletzung mit Todesfolge beziehungsweise Mittäterschaft« zu zehn Jahren Haft bzw. sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt. Türkische Kritiker monierten, dass die Staatsanwaltschaft von einer Mordanklage absah und auch das Motiv »Ausländerhass« nicht ausreichend gewürdigt habe. Ein halbes Jahr vor dieser Tat, am 24. Juli 1985, hatten rechtsextreme Skinheads den 29-jährigen Mehmet Kaymakçı erschlagen. Auch in diesem Fall wertete das Gericht die Auseinandersetzung als »unpolitische Schlägerei«.89 Zudem war derartige Gewalt nicht auf die rechtsextreme Szene beschränkt. Im Mai 1982 hatten West-Berliner Arbeiter einen Türken in der U-Bahn zusammengeschlagen und wurden daraufhin zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.90 Zwar widmete Wallraff sein Buch unter anderem dem politischen Flüchtling Cemal Kemal Altun und der Dichterin Semra Ertan, die 1982/83 in der Bundesrepublik aus Protest gegen drohende Deportation bzw. rassistische Behandlung Selbstmord begangen hatten. Doch von rassistischen Gewaltexzessen gegen Türken in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre war weder in »Ganz unten« zu lesen, noch spielten diese Vorfälle bei der Rezeption des Bestsellers eine Rolle. Vielmehr partizipierten das Buch und die dadurch ausgelöste Diskussion am weitverbreiteten Beschweigen und Unsichtbarmachen rassistischer Gewalttaten.

Darüber hinaus verlieh »Ganz unten« den in der Bundesrepublik lebenden Türken keine eigene Stimme. In Wallraffs Ambition, für »die Türken« in Westdeutschland zu sprechen, offenbare sich eine »Hüter- und Beschützermentalität des weißen Mannes«, so Gesine Lassen in »Die Brücke«, die »auch eine Form des Ethnozentrismus« sei.91 Diese 1987 geäußerte Kritik reflektierte das grundsätzliche Problem des »Sprechens für Andere«.92 Darüber hinaus erfülle der Verkaufserfolg des Buches, so die Kritik, auch eine Alibifunktion für die weiße Mehrheitsgesellschaft, die es »einem Stellvertreter in Märtyrerpose« überlasse, das »eigene Unbehagen zu kompensieren«, ohne »ein wirkliches Selbstbestimmungsrecht für die Minderheiten« einzufordern.93 Dabei machten sich gerade im Verlauf der 1980er-Jahre minoritäre Stimmen durchaus in der Öffentlichkeit bemerkbar. So thematisierte eine eigenständige deutsch-türkische Literatur von Schriftstellern wie Aras Ören (geb. 1939) zusehends die komplexe und vielschichtige Lebensrealität von Türken in der Bundesrepublik. Mit anderen Worten, die »Subalternen« in der Bundesrepublik hatten in den 1980er-Jahren bereits »zu sprechen« begonnen und waren demnach weniger angewiesen auf vermeintliche Fürsprecher wie Ali/Wallraff.94 Doch diese subalterne Perspektive fehlte in »Ganz unten« fast völlig. Stattdessen erschienen die Türken nahezu ausnahmslos als stumme Opfer des westdeutschen Kapitalismus.95 Wallraffs Methode, durch die Aneignung einer minoritären Identität die Wahrheit aufzudecken, lief somit schon damals Gefahr, anachronistisch zu werden. Denn bereits seit den späten 1970er-Jahren hatte sich eine neue Form der Identitätspolitik herausgebildet, die in der Erfahrung einer singulären Gruppenidentität einen privilegierten Zugang zur Wahrnehmung und Artikulation von Unterdrückungserfahrungen sah, zum Beispiel in Versionen des Feminismus.96 Wallraffs letztendlich patronisierende Repräsentation der türkischen »Gastarbeiter« konnte diesem neu artikulierten Anspruch nicht mehr gerecht werden.

Stattdessen reproduzierte Wallraffs »antifaschistische Travestie« (Katrin Sieg) bereits existierende rassistische Stereotype, indem er sich in die Tradition des blackface minstrelsy stellte. Dies war im 19. Jahrhundert in den USA eng mit der Sklaverei verbunden und bedeutete, einen Körper mit unnatürlich stark geschwärztem Gesicht, auffällig rot angemalten Lippen und einer Perücke vorzuführen.97 Wallraff variierte diese Praxis, indem er sich nicht durch die gezielte Veränderung der Hautfarbe in »Ali« verwandelte, sondern von zwei anderen Körperteilen, die historisch als Markierung ethnischer Differenz fungiert hatten: der Augen und der Haare. Ähnlich wie im minstrelsy nahm Wallraff auch die Perspektive eines Clowns ein, insbesondere über die Sprache. Da er an einem Türkisch-Intensivkurs nach eigener Aussage »total gescheitert« war (GU, S. 426), erfand er ein eigenes »›Ausländerdeutsch‹«. Dies habe ihm eine »gespielte Torheit« (GU, S. 12) verliehen. Allerdings fungierte genau diese gebrochene, akzentuierte, besonders laute Sprache, wie sie von Deutschen oft gegenüber Migrant/innen benutzt wurde, als ein Mittel der Ausgrenzung und Diskriminierung.98 Mit dem Gebrauch dieser Sprache perpetuierte Wallraff rassistische Stereotypen, die der sozialen Realität der Türken in der Bundesrepublik nicht gerecht wurden. Darüber hinaus behauptete Wallraff, seine Rolle als »Kind« oder »Narr« habe ihm erlaubt, »jede Frage« zu stellen. Es sei »eine wunderbare Sache«, »sich wie ein Kind die Welt wieder neu aneignen« zu können (GU, S. 428). Diese Positionierung als ein in der Entwicklung zurück- oder stehengebliebenes Kind war im Diskurs der weißen Mehrheitsgesellschaft oft nicht-weißen Minderheiten oder kolonialisierten Subjekten zugewiesen worden. Zudem war die Position eines Kindes für die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft per Definition kaum bedrohlich.99

Die Betonung der Ambivalenzen und Blindstellen von Wallraffs angeblichem Antirassismus projiziert nicht etwa gegenwärtige Sensibilitäten eines vermeintlich »amerikanisierten« Antirassismus-Diskurses auf die Vergangenheit, sondern war bereits in der zeitgenössischen Kritik des Buches von in der Bundesrepublik lebenden Türken angelegt. Demnach hatte Wallraff »landläufige Klischees« über Türken eher bestätigt als widerlegt.100 Kritiker/innen monierten die homogenisierende Darstellung der Situation von Türken als »verdinglicht«, »pessimistisch«, »hoffnungslos«. In der »Brücke« kritisierte der Autor Dursun Mehmet Şekeroğlu, dass an »diesen Menschen nichts Menschliches mehr möglich sein könnte«, die Türken vielmehr als »gleich mit Objekten oder Tieren« erschienen. Wallraff zeichne eine »schreckliche Situation« der Türken, die mit Nazisprüchen untermauert werde, obwohl er weder »die Türken« noch die »islamische Wirklichkeit« noch die Wirklichkeit seiner Kunstfigur »Ali« kenne, da er ja nicht mal dessen Sprache spreche.101 Tatsächlich ist davon auszugehen, dass sich viele Türken nicht unbedingt mit der Position »Ganz unten« identifizierten. Rezensent/innen bemerkten, dass Wallraff wenig über türkische Industriearbeiter in legalen Arbeitsverhältnissen zu sagen hatte.102 Die türkische, während der 1980er-Jahre in der Bundesrepublik lebende Schriftstellerin Aysel Özakın monierte, das Buch versage Türkinnen wie ihr eine individuelle Identität und reduziere Türken zu »Angehö­rige[n] einer unterdrückten, mittellosen und ungebildeten Masse«.103 Es war kein Zufall, dass diese Forderung nach Individualität von einer türkischen Frau kam. Waren es doch zumindest einige türkische »Gastarbeiterinnen«, die das Leben in der Bundesrepublik auch als Befreiung und neue Form der Selbstbestimmung empfanden.104 Özakın sprach auch für eine jüngere Generation, die genau das einklagte, was in der Kultur der 1970er- und 1980er-Jahre zunehmend als eine Sehnsucht nach dem Einzelnen, Singulären erschien, also dem Recht auf eine eigene, komplexe und auch veränderbare individuelle Identität.105 Diese nahm Wallraff für sich selbst in Anspruch, gestand sie jedoch den Türken und Türkinnen nicht zu.

Sein apokalyptischer Pessimismus, so die Kritiker Wallraffs, laufe auch politisch ins Leere. Er sei letztlich für die »herrschende Klasse« ungefährlich und beruhige das Gewissen, gerade weil die Darstellung die »Lebenskraft, die Hoffnungen und den Wunsch dieser Menschen nach Solidarität und Weiterentwicklung« weitgehend ignoriere.106 Laut Ibram X. Kendi lässt sich Antirassismus vor allem an der konkreten Verbesserung der Lage von diskriminierten Minderheiten messen, nicht so sehr an der bloßen antirassistischen Einstellung.107 Tatsächlich hatte »Ganz unten« einige praktische Auswirkungen, besonders im Hinblick auf die von Wallraff hauptsächlich kritisierte Leiharbeit. Allerdings rückte das Problem der Leiharbeit nicht erst durch sein Buch in den Fokus der Öffentlichkeit. Denn bereits mit dem Ende der offiziellen Ausländerrekrutierung seit Anfang der 1970er-Jahre hatte die Leiharbeit massiv zugenommen. Westdeutsche Behörden und Gewerkschaften versuchten immer wieder, gegen sie vorzugehen. Ab 1982 war die Leiharbeit zumindest im Baugewerbe gesetzlich untersagt. Die Gewerkschaften sahen in ihr eine Beeinträchtigung der Tarifautonomie und widersetzten sich auch einer immer wieder diskutierten Amnestie für Beschäftigte ohne Arbeitserlaubnis, da sie eine Sogwirkung weiterer »illegaler« Arbeitskräfte befürchteten.108 Unter dem Eindruck von Wallraffs Buch bildete das nordrhein-westfälische Landesarbeitsamt eine Sonderkommission, um gegen Leiharbeitsfirmen zu ermitteln, und der Landesarbeitsminister ließ die Geschäftspraktiken von 27 Leihfirmen überprüfen (GU, S. 268). Allerdings betraf dieses Problem nicht nur türkische, sondern auch deutsche Arbeiter. Zudem griff Wallraffs Analyse des Problems der Leiharbeit zu kurz. Denn die Situation türkischer Migrant/innen ohne Arbeitserlaubnis und dadurch ohne Zugang zum legalen Arbeitsmarkt war nicht zuletzt das Resultat der Politik des SPD-geführten Arbeitsministeriums in der sozial-liberalen Koalition, das nachgezogenen Familienmitglieder die Arbeitserlaubnis zunächst ganz verwehrte und seit 1981 eine Wartezeit von vier Jahren einführte.109 Doch im Zentrum von Wallraffs Kritik standen nicht die SPD und die Gewerkschaften, sondern die herzlosen Kapitalisten, die diese von der Politik geschaffene Situation auszunutzen wussten.

Ähnlich wie die offizielle Ausländerpolitik sowohl der SPD- wie auch der CDU-geführten Regierungen definierte »Ganz unten« das Problem der türkischen Minderheit vornehmlich als Problem der Integration in den Arbeitsmarkt. Die »aus der Türkei stammenden Arbeitsimmigranten« wurden reduziert auf ihre Funktion als Gastarbeiter.110 Andere Probleme, beispielsweise die Schwierigkeit, adäquaten Wohnraum zu finden, die verzögerte Reform des Ausländerrechts, die drohende Abschiebung von Ehepartnern oder -partnerinnen oder auch die Fragen von Wahl- und Staatsbürgerrechten blieben weitgehend ausgespart.111 Weil sich »Ganz unten« über die Figur des »Ali« ganz auf die Situation der männlichen türkischen Arbeiter konzentrierte, enthielt das Buch zudem so gut wie keine Hinweise auf die Situation türkischer Frauen und Kinder, obwohl sich deren Anteil an der türkischen Bevölkerung in der Bundesrepublik allmählich erhöhte. Traditionell weibliche Bereiche türkischen Lebens – Kinderbetreuung und -erziehung, Wohnungssituation – tauchten in dem Buch nicht auf.112 Gleiches gilt für frauenspezifische Probleme, wie sexuelle Bedrohung oder Ausbeutung. Die Konzentration auf eine rein männliche Sphäre mochte auch daher rühren, dass in der öffentlichen Diskussion zunehmend die Situation der türkischen Frau zum Referenzpunkt einer vermeintlich unüberbrückbaren kulturellen Differenz zwischen »Deutschen« und »Türken« wurde.113 Die Reduzierung des Fokus auf »Ali« als allein lebenden Mann und auf eine ausschließlich männliche Arbeitswelt bedeutete, dass »Ganz unten« eine soziale Realität abbildete, die für türkisches Leben in der Bundesrepublik nur bedingt repräsentativ war.

Bereits die zeitgenössische Kritik sprach diese verengte Perspektive an. Das Grundproblem des Buches liege in der Vermischung von zwei unterschiedlichen Problemen: der Armut und der schlechten Arbeitsbedingungen einerseits, der Lage der Ausländer und speziell der Türken andererseits. Während ersteres auf mindestens genauso viele Deutsche zutreffe, biete das Buch kaum Informationen »vom Leben der türkischen Minderheit in diesem Lande«.114 Das eigentliche Problem sei der staatliche und gesellschaftliche Rassismus, dessen Thematisierung das Buch »Ganz unten« eher erschwere. Auch Sinirlioğlu monierte, dass Wallraff bei Veranstaltungen kritischen Fragen beispielsweise nach dem »Zusammenhang von Ausländergesetz und Schwarzarbeit« zugunsten einer »reine[n] Personality-Show« aus dem Weg gehe.115 Am Begriff des Rassismus als »nationalem Tabu«, so die Kritiker der »Brücke«, ändere der Erfolg von »Ganz unten« somit kaum etwas.116 Stattdessen propagierte Wallraff die gewerkschaftliche Organisation, den antikapitalistischen Kampf, als erfolgversprechendes Mittel zur Verbesserung der Situation der türkischen Minderheit.117 Für Wallraff war das Kernproblem nicht ein genuiner antitürkischer Rassismus, sondern vielmehr die Ausbeutung durch den westdeutschen Kapitalismus.

Wallraff reagierte ausgesprochen allergisch auf türkische Zweifel, ob die Gewerkschaften tatsächlich das wichtigste Instrument zur Verbesserung der Lage der Türken in der Bundesrepublik seien. Stattdessen rückte er seine türkischen Kritiker in die Nähe der Kommunisten der Weimarer Republik und mobilisierte damit die seit den 1970er-Jahren kursierenden Ängste vor links- oder rechtsextremer politischer Radikalisierung infolge des Zuzugs von Ausländern.118 Türkische Kritiker wie Taner Aday und Levent Sinirlioğlu betonten stattdessen die Verantwortung auch der SPD-geführten Bundesregierung für die schwierigen Lebensbedingungen türkischer Migrant/innen. Wallraffs Kritik bleibe dem Rahmen verhaftet, »den der DGB vor dem deutschen Alltagsbewusstsein verantworten« könne.119 Beide thematisierten die heikle Frage des Rassismus nicht nur innerhalb der westdeutschen Gesellschaft, sondern speziell auch innerhalb der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung. Dies war keinesfalls abwegig. Die Haltung der Gewerkschaften gegenüber Ausländern war geprägt von Ambivalenz, und ausländische Arbeiter hatten es schwer, in den Gewerkschaftsorganisationen Einfluss zu gewinnen. Nach dem Beginn der Wirtschaftskrise unterstützten die Gewerkschaften den Anwerbestopp von Ausländern und solidarisierten sich nur zögernd mit den Forderungen der Ausländer nach Gleichberechtigung, wie zum Beispiel über das kommunale Wahlrecht.120 Betriebsräte widersetzten sich kaum den diskriminierenden Rückkehrprämien, mit denen ausländische Arbeitnehmer gerade in der Eisen- und Stahlindustrie während der Krise der 1980er-Jahre zur Rückkehr motiviert werden sollten.121 Die Gewerkschaften zielten vor allem auf eine bessere Lage der »legalen« ausländischen Beschäftigten am Arbeitsplatz. So startete der DGB 1986, also im Jahr nach der Veröffentlichung von »Ganz unten«, auch mit Unterstützung von Günter Wallraff die Kampagne »Mach meinen Kumpel nicht an«. Dies ging auf Vorschläge der Gewerkschaftsjugend zurück und folgte dem Beispiel der französischen Kampagne SOS Racisme. Allerdings war es auch bezeichnend, dass die deutsche Aktion das Problem im Hinblick auf Beziehungen am Arbeitsplatz formulierte (»mein Kumpel«), während sich die französische Kampagne gegen Rassismus als generelles Phänomen wandte. Auch hier offenbarten sich die Schwierigkeiten der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft, Rassismus explizit zu benennen.122

Die türkische Kritik an »Ganz unten« formulierte eine antirassistische Position, die sich, so Aday, auf den »Widerstand gegen die nichtgleichberechtigte Behandlung und die aktive Teilnahme an dem Kampf für die Gewährung neuer Rechte« bezog. Für ihn ging es darum, die Auseinandersetzung nicht nur auf der ökonomischen, sondern auch auf der politischen und kulturellen Ebene zu führen. Tatsächlich war die Frage der Gleichberechtigung die entscheidende Trennlinie antirassistischer Mobilisierung. Denn selbst die zunehmend gebrauchte Formel von den »ausländischen Mitbürgern« implizierte ja eine unüberbrückbare rechtliche und politische Differenz, die den Alltagsrassismus eher perpetuierte als wirksam bekämpfte.123 Im Gegensatz zu einem wachsenden »selbstreferentiellen« Engagement für die Belange der Ausländer rückten Kritiker wie Aday die volle Menschenwürde der türkischen Einwanderer in den Blick.124 Gefordert wurde die politische Teilhabe mit Wahlrecht und Zugang zur Staatsbürgerschaft, aber auch die Gleichbehandlung durch vermeintliche linke Bündnispartner wie Wallraff.125 »Ganz unten« hingegen mobilisiere, so die türkische Schriftstellerin Aysel Özakın, bei den Leserinnen und Lesern vor allem eine Emotion, die die Machthierarchien zwischen »Deutschen« und »Türken« weiter zementiere: Mitleid.126 Für Wolfgang Braun manifestierte sich in »Ganz unten« gar ein »umgedrehter Rassismus«, der die Fremden nicht hasst, sondern »liebt«, sie dadurch aber ebenso zu Objekten macht und seine Verachtung nicht in schlechten, sondern in (vermeintlich) guten Taten zeigt.127 Die deutsch-türkische Kritik an »Ganz unten« traf sich auch mit der gleichzeitig stattfindenden Mobilisierung von Afro-Deutschen, die weniger auf Kapitalismuskritik und mehr auf Antirassismus und die Forderung nach Gleichberechtigung zielte.128 Insofern scheiterte »Ganz unten« trotz oder gerade wegen des großen Verkaufserfolgs an der wirksamen Artikulation einer genuin antirassistischen Position.

Diese war auch aus dem Zeithorizont der 1980er-Jahre nicht unmöglich, wie das 1986 erschienene und jüngst wiederentdeckte Buch von Annita Kalpaka und Nora Räthzel über »Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein« verdeutlicht. Die Autorinnen sahen gerade die Ermächtigung zur Autonomie und Selbstorganisation von Minderheiten als Ziel antirassistischer Bestrebungen. Im Sinne der von James Baldwin bereits in den 1960er-Jahren artikulierten Forderung an die weiße Mehrheitsgesellschaft »to save yourself« plädierten sie dafür, dass die antirassistischen Bemühungen deutscher Linker sich zunächst auf die Bekämpfung rassistischer Strukturen in der eigenen Gesellschaft richten sollten.129 Der zeitgenössische bundesrepublikanische Antirassismus artikulierte sich somit in der eloquenten und subtilen deutsch-türkischen Kritik des Buches. Doch Wallraffs eigene Fixierung auf das Links-Rechts-Schema der politischen Debatten in der Bundesrepublik, seine zunehmend defensive Lagermentalität, hinderte ihn daran, diese kritischen Stimmen ernstzunehmen und öffentlich anzuerkennen.

5. Fazit

Die zeitgenössische Rezeption von »Ganz unten« verweist auf grundsätzliche Fragen der Bedeutung und Wahrnehmung von Differenz in der westdeutschen Gesellschaft der 1980er-Jahre. Sie verdeutlicht die Schwierigkeiten der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft, auf die damals entstehenden bzw. schon entstandenen subalternen Gruppen­identitäten zu reagieren. Das hauptsächliche rhetorische und politische Manöver bestand darin, den zeitgenössischen antitürkischen Rassismus als Fortsetzung des Nationalsozialismus zu deuten. Die stärker werdende Holocaust-Erinnerung wurde zum Vehikel der Wahrnehmung und Diagnose des Rassismus. Dessen Bekämpfung erschöpfte sich dann in einer Form des nachgeholten Antifaschismus, also der Denunziation der konservativen Gegenseite als potentiell faschistisch, und der Identifizierung mit linken Organisationen wie den Gewerkschaften. Diese Projektion der Holocaust-Erinnerung mag ein Beispiel von gelungener multidirektionaler Erinnerung gewesen sein; sie diente zweifellos auch der antirassistischen Mobilisierung.130 Aber sie verkannte dabei die Eigenart eines postfaschistischen, liberaldemokratischen Rassismus, der weniger mit dem »Dritten Reich«, dafür deutlich mehr mit der Situation von Einwanderern in anderen westlichen postkolonialen Staaten zu tun hatte.131 Der multidirektionale Vergleich mit dem nationalsozialistischen Rassismus produzierte eher eine historische Unschärfe, die ein wirksames politisches Handeln erschwerte. Denn so erfolgreich Wallraffs Buch auch gewesen sein mag, die Virulenz und Gewalt des westdeutschen Rassismus nahm im Gefolge von »Ganz unten« weiter zu. So mündeten die Gewalt gegenüber Türken und die rapide wachsende Zahl von Asylbewerbern im Zuge des Vereinigungsnationalismus Anfang der 1990er-Jahre in eine Serie von Mordanschlägen und pogromähnlichen Ausschreitungen.132 Von 1990 bis heute wurden in der Bundesrepublik über 200 Menschen Todesopfer rassistischer Gewalt.133 Die Kontinuität des Alltagsrassismus manifestierte sich auch in einem anderen Bucherfolg zum Thema, Thilo Sarrazins »Deutschland schafft sich ab« im Jahr 2010. Das von Sarrazin artikulierte rassistische Ressentiment antizipierte den wenig später beginnenden Aufstieg der »Alternative für Deutschland« (AfD).134

Natürlich waren diese Entwicklungen nicht die kausale Folge von »Ganz unten«. Das Buch verbesserte sicher die Arbeitsbedingungen eines Teils der türkischen Migranten. Doch der Verkaufserfolg war kein Indiz einer wachsenden oder anhaltenden Sensibilisierung und Mobilisierung der westdeutschen Gesellschaft für Antirassismus. Dies zeigt sich an der nach wie vor existierenden Schwierigkeit, Alltagsrassismus präzise zu benennen und zu kritisieren. Der Erfolg des Buches war vielmehr begründet in Selbstverständigungsprozessen der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft, innerhalb derer die Lage der türkischen Minderheit als Projektionsfläche diente.

Zukunftsweisender und paradigmatischer war dagegen die in der zeitgenössischen Kritik an dem Buch artikulierte Selbstbehauptung der türkischen Minderheit. Im Gegensatz zu Wallraffs eher anachronistischer Analyse erscheint die Perspektive seiner deutsch-türkischen Kritiker und Kritikerinnen heute frappierend aktuell, auch wenn sie eher von türkischen Intellektuellen und Aktivisten als von türkischen Arbeitern kam. Deren Forderungen nach Individualität, nach gleichen politischen Rechten, nach einer eigenen Stimme in der öffentlichen Diskussion verwies auf die Prozesse von Identitätsformierungen und Selbstorganisationen, wie sie in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre vermehrt abliefen. Sie betrafen nicht nur die türkischen »Gastarbeiter«, sondern auch andere Minderheiten wie Afro-Amerikaner. Hier formierte sich eine Opposition, die, im Gegensatz zu Wallraff, weniger der deutschen Debatte zwischen »links« und »rechts« verpflichtet war als vielmehr eigenständige Perspektiven von Migrant/innen zu etablieren suchte.135 Die dabei vertretenen Forderungen standen im Einklang mit einer explizit antirassistischen Position, wie sie genau zu diesem Zeitpunkt, Mitte der 1980er-Jahre, an verschiedenen Orten erstmals artikuliert wurde. In der Auseinandersetzung mit »Ganz unten« formierten sich kollektive Identitäten und politische Ziele, die das Selbstverständnis der Bundesrepublik als Nicht-Einwanderungsland radikal in Frage stellten. Hierin, nicht in Wallraffs letztlich patronisierender und entsubjektivierender Darstellung »der« Türken, liegt aus heutiger Sicht die historische Bedeutung dieses bundesrepublikanischen Bestsellers.

Allerdings wurde die scharfsinnige deutsch-türkische Kritik an dem Buch in der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft weitgehend ignoriert. Der einzige Punkt, der in Mainstream-Medien wie dem »Spiegel« aufgenommen wurde, war die Kritik an Wallraffs Autorschaft. Die weitergehende substanzielle Kritik an Wallraffs Methode und der Wirkung des Buches wurde dagegen vor allem in der antirassistischen Zeitschrift »Die Brücke« artikuliert. Deren geringe Verbreitung stand in starkem Gegensatz zur millionenfachen Leserschaft von Wallraffs Bestseller. Dieser minoritäre Diskurs blieb aus der damaligen demokratischen Öffentlichkeit weitgehend ausgespart und ist deshalb auch in der Erinnerung an das Buch kaum präsent.136 Die Unfähigkeit Wallraffs und weiter Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft, den kritischen deutsch-türkischen Stimmen auch nur zuzuhören, markierte die Defizite des westdeutschen Antirassismus der 1980er-Jahre.


Anmerkungen:

1 Jörg Magenau, Bestseller. Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten, Hamburg 2018, S. 158.

2 Günter Wallraff/Eckart Spoo, Unser Faschismus nebenan. Griechenland gestern – ein Lehrstück für morgen, Köln 1975.

3 Ina Braun, Günter Wallraff. Leben, Werk, Wirken, Methode, Würzburg 2007, S. 30.

4 Günter Wallraff, Der Aufmacher. Der Mann, der bei BILD Hans Esser war, Köln 1977; ders., Zeugen der Anklage. Die ›BILD‹beschreibung wird fortgesetzt, Köln 1979; ders., Das BILD-Handbuch bis zum Bildausfall, Hamburg 1981.

6 Zum Beispiel: Silke Wünsch, Günter Wallraff: 25 Jahre »Ganz unten«, in: Deutsche Welle, 22.10.2010, URL: <https://p.dw.com/p/PkpC>; Stichtag 21. Oktober 1985, in: WDR 2, 21.10.2015, URL: <https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-520.html>.

7 So beschrieb er das Buch 30 Jahre später: Wallraffs Skandal-Reportage »Ganz unten«. »Ausländer sucht Drecksarbeit, auch für wenig Geld«, in: Spiegel, 19.10.2015 (Interview von Michael Sontheimer), URL: <https://www.spiegel.de/geschichte/ganz-unten-autor-guenter-wallraff-ueber-rassismus-und-ausbeutung-a-1058088.html>.

8 Michael Lipkin, Ein vielgehasster Mann. Günter Wallraffs Maskeraden, in: Merkur 76 (2022) H. 2, S. 5-20.

9 Vgl. ebd.

10 Carol Poore, The Bonds of Labor. German Journeys to the Working World, 1890–1990, Detroit 2000. S. 247.

11 Vgl. Porträt des Periodikums, Viadukt – Die Brücke, URL: <https://saarbruecke.wordpress.com/portrat-des-periodikums/>. Die Zeitschrift erschien bis 2014.

12 Tiffany N. Florvil, Mobilizing Black Germany. Afro-German Women and the Making of a Transnational Movement, Urbana 2020.

13 Jakob Sonnenschein, »Ganz unten« gegen »Ganz oben«, in: taz, 29.10.1986, S. 3; Gerhard Spörl, Ali, der gute Deutsche. Warum »Ganz unten« der wohl größte Bucherfolg der Nachkriegszeit ist, in: ZEIT, 7.2.1986; Ein Scherf, in: Spiegel, 11.11.1985, S. 250-253; Anna K. Kuhn, Bourgeois Ideology and the (Mis)Reading of Günter Wallraff’s Ganz unten, in: New German Critique 46 (1989), S. 191-202, hier S. 191.

14 Riesenerfolg Wallraffs, in: Börsenblatt des deutschen Buchhandels, 15.11.1985.

15 Ein Scherf (Anm. 13).

16 Gerhard Kromschröder, Als ich ein Türke war, Frankfurt a.M. 1983, 3. Aufl. 1984. Vgl. hierzu Katrin Sieg, Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor 2002, S. 181-186.

17 John Howard Griffin, Black Like Me, New York 1961. Zum Vergleich von Griffin und Wallraff vgl. Lipkin, Ein vielgehasster Mann (Anm. 8).

18 Günter Wallraff, Ganz unten. Mit einer Dokumentation der Folgen, Köln 1988, S. 12. Zitate aus diesem Buch sind im Folgenden mit der Sigle »GU« im Haupttext angegeben.

19 Lena Foerster, Hochofen, Maloche und »Gastarbeiter«. Ausländerbeschäftigung in Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets in den 1950er bis 1980er Jahren, Stuttgart 2021.

20 Spörl, Ali, der gute Deutsche (Anm. 13).

22 Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, S. 83; Sarah Thomsen Vierra, Turkish Germans in the Federal Republic of Germany. Immigration, Space, and Belonging, 1961–1990, New York 2018, S. 47.

23 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl (Anm. 22), S. 182-186.

24 Spörl, Ali, der gute Deutsche (Anm. 13).

25 Siegfried Schober, Ganz unten, in: ZEIT, 1.11.1985.

26 Zur Selbstheroisierung vgl. Sieg, Ethnic Drag (Anm. 16), S. 181.

27 Spörl, Ali, der gute Deutsche (Anm. 13); Paul Peters, Ritter von der wandelbaren Gestalt. Zu Günter Wallraffs »Ganz unten«, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 33 (1986), S. 1006-1014; Simone Sitte, Die Leiden des jungen Ali. Erfolg und Wirkung von Günter Wallraffs »Ganz unten«, in: Christian Linder (Hg.), In Sachen Wallraff. Von den Industriereportagen bis Ganz unten: Berichte, Analysen, Meinungen und Dokumente, aktualisierte Neuausg. Köln 1986, S. 354-374, hier S. 365.

28 Eberhard Ostermann, Ali Wallraff: Stellvertreter, Heilsbringer und Märtyrer, in: Psychologie Heute 12 (1986) H. 5, S. 39-41; Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a.M. 1985.

29 Wallraffs Skandal-Reportage »Ganz unten« (Anm. 7).

30 Svenja Goltermann, Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne, Frankfurt a.M. 2017; Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 2021, S. 130.

31 Anders hier Lipkin, Ein vielgehasster Mann (Anm. 8), der diese erlösende Dimension des Leidens m.E. verkennt.

32 Heinz Ludwig Arnold, Gespräche mit Schriftstellern. Max Frisch, Günter Grass, Wolfgang Koeppen, Max von der Grün, Günter Wallraff, München 1975, S. 243. Eine Nichte von Heinrich Böll war Wallraffs erste Ehefrau.

33 Dieter E. Zimmer, Wallraff der Türke – na und?, in: ZEIT, 16.10.1987.

34 Sieg, Ethnic Drag (Anm. 16), S. 154. Sieg bezieht sich auf das oben erwähnte Buch von Gerd Kromschröder, die Beobachtung passt aber auch auf Wallraff.

35 Ostermann, Ali Wallraff (Anm. 28), S. 41.

36 [Anonym,] Der Held mit doppeltem Gesicht, in: Die Brücke Nr. 38/1987, S. 7-8, hier S. 7.

37 Diese Vorstellung war unter westdeutschen Linken weit verbreitet, auch durch Publikationen wie Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus – Faschismus, Reinbek bei Hamburg 1971 (und öfter).

38 So auch Magenau, Bestseller (Anm. 1), S. 157, und Lipkin, Ein vielgehasster Mann (Anm. 8).

39 Gail Elizabeth Wise, Ali in Wunderland. German Representations of Foreign Workers, PhD Diss. UC Berkeley 1995, S. 174.

40 Michael Behrendt/Dirk Banse, Schrieb die Stasi bei Wallraffs »Ganz unten« mit?, in: Welt, 22.4.2012, URL: <https://www.welt.de/politik/deutschland/article106211444/Schrieb-die-Stasi-bei-Wallraffs-Ganz-unten-mit.html>. Vgl. auch Günter Wallraff im Gespräch mit Alfred Eichhorn, Stimme der DDR, ca. 1985, URL: <https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=wvlrhP1A1T8>.

41 Eine neue Rufmordkampagne? Günter Wallraff im Gespräch, in: Deutschlandfunk, 11.8.2003, URL: <https://www.deutschlandfunk.de/eine-neue-rufmordkampagne-100.html>.

42 Behrendt/Banse, Schrieb die Stasi bei Wallraffs »Ganz unten« mit? (Anm. 40).

43 Karen Donfried, Ganz unten, in: German Politics & Society 10 (1987), S. 50-53; ähnlich Klaus Engelhardt, Ganz unten, in: Die Unterrichtspraxis/Teaching German 20 (1987), S. 357-358.

44 Kuhn, Bourgeois Ideology (Anm. 13), S. 194f. (meine Übersetzung).

45 Vgl. Jürgen Habermas, Meine Jahre mit Helmut Kohl, in: ZEIT, 11.3.1994.

46 Klaus Naumann, Selbstanerkennung. Nach 40 Jahren Bundesrepublik: Anstöße zur Bewältigung einer »Erfolgsgeschichte« (II), in: Blätter für deutsche und internationale Politik 33 (1988), S. 1046-1060.

47 <https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/
19850508_Rede.html
>. Vgl. hierzu Cornelia Siebeck, »Einzug ins verheißene Land«. Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 12 (2015), S. 161-169. Aus heutiger Sicht erscheint die Rede durchaus ambivalent, nicht zuletzt aufgrund der apologetischen Dimension der zentralen These des 8. Mai als »Tag der Befreiung«, die die Mehrheit der deutschen Bevölkerung entlastete.

48 Dies zeigt für die Gewerkschaften Oliver Trede, Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration. Gewerkschaften und Arbeitsmigration in der Bundesrepublik und in Großbritannien in den 1960er und 70er Jahren, Paderborn 2015.

49 Sarasin, 1977 (Anm. 30), S. 169-249; Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016; Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung, Politisierung, Emotionalisierung, Bielefeld 2015.

50 Arnold, Gespräche mit Schriftstellern (Anm. 32), S. 199.

51 »Ich bin eine Antwort auf diese Gesellschaft«. Günter Wallraff über die Kritik seiner ehemaligen türkischen Mitarbeiter und sein Rollenverständnis, in: Spiegel, 6.7.1987, S. 154-160, hier S. 158. Vgl. auch Wise, Ali in Wunderland (Anm. 39), S. 171.

52 Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.

53 Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre, Köln 1980. Zu diesem Vergleich siehe Magenau, Bestseller (Anm. 1), S. 162f.

54 Siegfried Schober, Ganz unten ganz oben, in: ZEIT, 6.12.1985.

55 Peters, Ritter von der wandelbaren Gestalt (Anm. 27), S. 1014.

56 Lipkin, Ein vielgehasster Mann (Anm. 8).

57 Dazu Frank Biess, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek bei Hamburg 2019, S. 361-411.

58 Schober, Ganz unten (Anm. 25).

59 Vgl. den Dokumentarfilm »Ganz unten«, 1986, URL: <https://www.youtube.com/watch?v=VxMkXcypdUc>, Min. 24:50.

60 Wise, Ali in Wunderland (Anm. 39), S. 168.

61 Ostermann, Ali Wallraff (Anm. 28), S. 41; das letzte Zitat aus dem Dokumentarfilm »Ganz unten« (Anm. 59), Std. 1:08:36.

62 Wise, Ali in Wunderland (Anm. 39), S. 170; Günter Wallraff, Und macht euch die Erde untertan. Eine Widerrede, Göttingen 1987, S. 11-40; Sarasin, 1977 (Anm. 30), S. 236-240; Massimo Moraglio, Time, Speed and Western Movies. Revisiting Koyaanisqatsi (1982), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 14 (2017), S. 575-581.

63 Helmut Uebbing, Der große Türken-Retter hüllt sich in Schweigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.12.1985, S. 14.

64 Heinz Klaus Mertes, Ali. Phänomene um einen Bestseller, München 1986, S. 62, S. 126, S. 68f.

65 Vgl. Axel Schildt, Das letzte Jahrzehnt der Bonner Republik. Überlegungen zur Erforschung der 1980er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 21-46, allerdings ohne Verweis auf das Problem des Rassismus.

66 »Ganz unten«. Vorwürfe und kein Ende, in: Spiegel, 9.12.1985, S. 199.

69 Michel Foucault, Was ist ein Autor? [1969], in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, S. 7-31. Für die amerikanische Germanistin Anna K. Kuhn manifestierten sich in dieser Diskussion »bürgerliche Vorstellungen individueller Autorschaft«, die von dem eigentlichen Problem, der Kontinuität rassistischer Einstellungen, ablenken sollten; vgl. Kuhn, Bourgeois Ideology (Anm. 13), S. 198.

70 Zimmer, Wallraff der Türke (Anm. 33).

71 Ostermann, Ali Wallraff (Anm. 28), S. 40.

72 Siegfried Weischenberg, Investigativer Journalismus und »kapitalistischer Realismus«. Zu den Strukturbedingungen eines anderen Paradigmas der Berichterstattung, in: Rundfunk und Fernsehen 31 (1983). S. 349-369; zit. in Ingmar Cario, Die Deutschland-Ermittler. Investigativer Journalismus und die Methoden der Macher, Berlin 2006, S. 36.

73 Hermann Boventer, Muckrackers. Investigativer Journalismus zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Wolfgang Wunden (Hg.), Öffentlichkeit und Kommunikationskultur. Beiträge zur Medienethik Bd. 2, Hamburg 1994, S. 215-230, hier S. 225.

74 Thomas Ramge, Die großen Polit-Skandale. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2003, S. 153-179.

75 Der Vorwurf bezog sich auf die Episode, in welcher der Leihunternehmer Adler/Vogel »Ali« verbietet, die Toilette in seinem Haus zu benützen. Sinirlioğlu berichtete später, dass er diesen Vorfall erlebt und Wallraff erzählt habe; vgl. Die Geschäfte der Firma Wallraff. Interview mit Levent Sinirlioğlu, in: Die Brücke Nr. 38/1987, S. 8-9.

76 »Vielleicht seinen Feinden ähnlich geworden«. SPIEGEL-Interview mit dem Türken Levent Sinirlioğlu über den Enthüllungsunternehmer Günter Wallraff, in: Spiegel, 15.6.1987, S. 188-197, hier S. 191.

77 Der Held mit doppeltem Gesicht (Anm. 36), S. 8.

78 Schober, Ganz unten (Anm. 25).

79 Offenbar übersetzte die in Hannover lebende türkische Dolmetscherin und Journalistin Yıldız El-Toukhy Wallraffs Buch kostenlos ins Türkische, schon bevor 1986 bei Kiepenheuer & Witsch dann die Übersetzung von Osman Okkan erschien. El-Toukhy berichtete auch, dass »Ganz unten« im türkischen Generalkonsulat »Pflichtlektüre« gewesen sei. Vgl. Ezli Özkan, Narrative der Migration. Eine andere deutsche Kulturgeschichte, Berlin 2022, S. 293, Anm. 332.

80 Sieg, Ethnic Drag (Anm. 16), S. 183.

81 Sonnenschein, »Ich bin ihm noch was schuldig« (Anm. 68).

82 Dies betont Lauren Stokes, Fear of the Family. Guest Workers and Family Migration in the Federal Republic of Germany, Oxford 2022. Zur Situation der türkischen Minderheit vgl. auch Karin Hunn, »Nächstes Jahr kehren wir zurück…«. Die Geschichte der türkischen »Gastarbeiter« in der Bundesrepublik, Göttingen 2005; Thomson Vierra, Turkish Germans (Anm. 22); Jan Plamper, Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Frankfurt a.M. 2019.

83 Zit. in Stokes, Fear of the Family (Anm. 82), S. 3.

84 Vgl. Stokes, Fear of the Family (Anm. 82); Norbert Frei u.a., Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019, S. 91-112; Maria Alexopoulou, Deutschland und die Migration. Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, Stuttgart 2020, S. 152-162.

85 Heidelberger Manifest, 17.6.1981, URL: <https://www.apabiz.de/archiv/material/Profile/Heidelberger%20Kreis.htm>. Hier wiederholten sich in der Tat rhetorische Muster des Nationalsozialismus. Doch die offene Artikulation eines derartigen völkischen Rassismus war in den 1980er-Jahren eher die Ausnahme.

86 Philipp Ther, Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa, Berlin 2017, S. 326.

87 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1982, Stuttgart 1982, S. 66; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1990, Stuttgart 1990, S. 59.

88 Vgl. Alexopoulou, Deutschland und die Migration (Anm. 84), S. 181.

89 Oliver Diedrich, »Er hatte keine Chance zu überleben«, in: NDR, 21.12.1985, URL: <https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Hamburg-1985-Skinheads-erschlagen-Ramazan-Avci,avci106.html>.

90 Frei u.a., Zur rechten Zeit (Anm. 84), S. 105.

91 Gesine Lassen, Günter Wallraff Debatte, in: Die Brücke Nr. 39/1987, S. 8-10, hier S. 8.

92 Linda Alcoff, The Problem of Speaking for Others, in: Cultural Critique 20 (1991/92), S. 5-32.

93 Lassen, Günter Wallraff Debatte (Anm. 91), S. 9.

94 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Patrick William/Laura Chrisman (Hg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader, New York 1993, S. 66-111.

95 Vgl. auch Sieg, Ethnic Drag (Anm. 16), S. 154.

96 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2019; Sarasin, 1977 (Anm. 30), S 222-249.

97 Poore, Bonds of Labor (Anm. 10), S. 236. Sieg, Ethnic Drag (Anm. 16), S. 4-8, verweist darauf, dass es im Deutschen keinen entsprechenden Ausdruck für minstrelsy gibt. Vgl. den Überblick in Stephen Johnson (Hg.), Burnt Cork. Traditions and Legacies of Blackface Minstrelsy, Amherst 2012. Für Deutschland siehe Jonathan Wipplinger, The Racial Ruse. On Blackness and Blackface Comedy in fin-de-siècle Germany, in: German Quarterly 84 (2011), S. 457-476.

98 Plamper, Das neue Wir (Anm. 82), S. 97.

99 Poore, Bonds of Labor (Anm. 10), S. 244. Vgl. auch Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.

100 Der Held mit doppeltem Gesicht (Anm. 36), S. 7.

101 Dursun Mehmet Şekeroğlu, Offener Brief an Günter Wallraff, in: Die Brücke Nr. 29/1986, S. 18.

102 Donfried, Ganz unten (Anm. 43).

103 Aysel Özakın, Ali hinter Spiegeln, in: Literatur konkret Nr. 11/1986, S. 6.

104 Vgl. Jennifer A. Miller, Turkish Guest Workers in Germany. Hidden Lives and Contested Borders, 1960s to 1980s, Toronto 2018, S. 98-100.

105 Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten (Anm. 96).

106 Şekeroğlu, Offener Brief (Anm. 101).

107 Ibram X. Kendi, How to be an Antiracist, New York 2019.

108 Trede, Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration (Anm. 48), S. 269-276.

109 Vgl. Stokes, Fear of the Family (Anm. 82), S. 189, S. 214-236. Unter den nicht-deutschen männlichen Migranten hatten 42 Prozent im Jahr 1980 keine Arbeitserlaubnis.

110 Die Abrechnung mit der Ideologie der Inschutznahme. Kurzinterview mit Taner Aday, in: Die Brücke Nr. 39/1987, S. 11.

111 Trede, Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration (Anm. 48), S. 304-311. Vgl. auch Thomsen Vierra, Turkish Germans (Anm. 22).

112 Zu diesen Problemen vgl. Stokes, Fear of the Family (Anm. 82), Kapitel 2.

113 Vgl. Rita Chin, The Guest Worker Question in Postwar Germany, Cambridge 2007, S. 141-190.

114 Wolfgang Braun, Der entscheidende Kritikpunkt an Wallraff: Umgedrehter Rassismus, in: Die Brücke Nr. 38/1987, S. 10-11.

115 »Vielleicht seinen Feinden ähnlich geworden« (Anm. 76), S. 194.

116 Die Geschäfte der Firma Wallraff (Anm. 75), S. 8.

117 Dies im Gegensatz zu Lipkin, Ein vielgehasster Mann (Anm. 8), der die Fixierung Wallraffs auf die Gewerkschaften m.E. übersieht. Darüber hinaus ignorierte »Ganz unten« ebenfalls eine längere Tradition des türkischen Arbeiteraktivismus in der Bundesrepublik, beispielsweise die Streiks bei dem Autozulieferer Pierburg im Dezember 1973, der von ausländischen Arbeiterinnen initiiert wurde; vgl. Miller, Turkish Guest Workers in Germany (Anm. 104), S. 146-159.

118 Sonnenschein, »Ich bin ihm noch was schuldig« (Anm. 68); Trede, Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration (Anm. 48), S. 311-313.

119 Levent Sinirlioğlu/Taner Aday, Wallraffs Reaktion bestätigt unsere Kritik, in: Die Brücke Nr. 39/1987, S. 8-9. Ebenso dies., Wallraff Ganz unten durch, in: konkret Nr. 8/1987, S. 52-53.

120 Trede, Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration (Anm. 48), S. 327. Die IG Metall unterstützte als erste Einzelgewerkschaft diese Forderung im Jahr 1980.

121 Foerster, Hochofen, Maloche und »Gastarbeiter« (Anm. 19), S. 156-159.

122 Vgl. Serhat Karakayali, Rassismuskritik nach Hanau, 25.2.2021, URL: <https://www.youtube.com/watch?v=i5TzF8YivC4&t=530s>, Min. 13:20. Allerdings hieß der Verein, der die Kampagne trug, im Untertitel »Gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus« (heute: »für Gleichbehandlung, gegen Rassismus«). Für eine ähnliche Differenz im Hinblick auf Deutschland und die Niederlande vgl. Stokes, Fear of the Family (Anm. 82), S. 11.

123 Yasemin Yıldız, Keine Adresse in Deutschland? Adressierung als politische Strategie, in: Cathy S. Gelbin/Kader Konuk/Peggy Piesche (Hg.), AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland, Berlin 1999, S. 224-236.

124 Vgl. Alexopoulou, Deutschland und die Migration (Anm. 84), S. 190.

125 Kurzinterview mit Taner Aday (Anm. 110).

126 Özakın, Ali hinter Spiegeln (Anm. 103). Özakın versuchte dieser Charakterisierung durch zeitweilige Flucht in die Niederlande zu entkommen.

127 Braun, Umgedrehter Rassismus (Anm. 114).

128 Florvil, Mobilizing Black Germany (Anm. 12), S. 65.

129 Vgl. Annita Kalpaka/Nora Räthzel (Hg.), Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, Berlin 1986, S. 32-91; Neuausgabe: Annita Kalpaka/Nora Räthzel/Klaus Weber (Hg.), Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, Hamburg 2017, 5. Aufl. 2020. Siehe zudem: A Conversation with James Baldwin, 24.6.1963, in: American Archive of Public Broadcasting, URL: <https://americanarchive.org/catalog/cpb-aacip_15-0v89g5gf5r>.

130 Zu diesem Konzept vgl. Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Aus dem Englischen von Max Henninger, Berlin 2021 (amerikanische Erstausgabe: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009).

131 Stokes, Fear of the Family (Anm. 82). Siehe auch Rita Chin, The Crisis of Multiculturalism in Europe. A History, Princeton 2017; Trede, Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration (Anm. 48). Zum hier geschilderten Problem gehört auch, dass die Bundesrepublik eben (noch) nicht als »postkolonial« betrachtet wurde.

132 Frei u.a., Zur rechten Zeit (Anm. 84), S. 161-182.

134 Magenau, Bestseller (Anm. 1), S. 36-38.

135 Darauf verwies bereits Poore, Bonds of Labor (Anm. 10), S. 244-247.

136 Vgl. Lipkin, Ein vielgehasster Mann (Anm. 8).

Anm. der Red., 29.9.2022:
Für Deutschlandfunk Kultur hat Winfried Sträter mit Frank Biess ein Interview über die Ergebnisse und Thesen dieses Aufsatzes geführt.

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